Mannheim, 12. Februar 2016. (red/cr) Am Sonntagabend wurde das vollbesetzte Schatzkistl vor große Fragen gestellt. Welche Entscheidung muss ich wann treffen, um glücklich zu sein – ohne jemandem dabei zu schaden und ohne Arbeitsplätze zu gefährden? Warum können wir nicht mehr anständig diskutieren? Kann ich das Kaninchen nochmal sehen? Der ehemalige Poetry-Slammer Nico Semsrott bringt sein Programm „Freude ist nur ein Mangel an Information 2.0“ auf die Bühne und mit seinem „Demotivationsworkshop“ zum Lachen, aber auch zum Nachdenken. Ernste Kost ist selten so unterhaltsam.
Von Christin Rudolph
Jeder der 99 Stühle im Musik-Kabarett Schatzkistl ist besetzt. Mit seinem Markenzeichen, der aufgesetzten Kapuze, und einem akademischen Viertel Verspätung betritt Nico Semsrott die Bühne. Genau wie erwartet – das Publikum ist viel zu optimistisch.
„Freude ist nur ein Mangel an Information“. Nach dieser Überzeugung hat er sein Bühnenprogramm benannt. Gut, dass diese Menschen heute Abend alle an seinem Demotivationsworkshop teilnehmen. Vor allem gut, dass er selbst jahrelange Erfahrung darin hat, nicht nur unmotiviert zu sein, sondern andere dabei mitzureißen. Er als Workshopleiter ist das beste Vorbild: Vorgetragen wird mit einem Stapel DIN A4-Blätter in den Händen, praktische ohne Gestik, die Stimme in einer konsequent depressiven Tonlage.

Seit 2012 ist Nico Semsrott mit dem Bühnenprogramm „Freude ist nur ein Mangel an Information“ unterwegs.
Er lässt es langsam angehen mit seinem Publikum. Zuerst erklärt er anhand seiner PPPP (Putzig-Positiven-Powerpoint-Präsentation), was ihn stört. Immer wieder wirft er selbstironische Bemerkungen zu seinem ewigen Single-Status ein. Auch zur Flüchtlingssituation teilt er seine Gedanken mit. Deutsche „Leidkultur“ sollte Bier statt Lernen beinhalten. Das Besondere dabei ist, dass er sich nicht mit Oberflächlichkeit zufrieden gibt.
Das ist das Problem an Satire. Zu sagen „Banker sind böse, aber manche sind das nicht und machen ihren Job gut“ funktioniert nicht
stellt Semsrott fest. Aus diesem Anspruch heraus trägt er seine Texte nicht nur ernst vor. Sie sind auch, zumindest inhaltlich, ernst. Vor allem die Themen. So ist es natürlich erst einmal lustig, wenn er den Gedankengang einer Obergrenze für Flüchtlinge so weit treibt, dass Horst Seehofer zufrieden wäre, wenn die Evolution stehengeblieben wäre. Im Absurden lassen sich allerdings schnell erschreckende Wahrheiten erkennen. Und die betreffen nicht nur die anderen.
Ernste Probleme – ernste Antworten
So stellt er zum Beispiel die Reaktionen der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen in seiner Powerpoint-Präsentation mithilfe von Pavianen dar.
Auf dem deutschen Pavianfelsen leben 80 Paviane. Es kommen zwei dazu. Die Reaktion: Aaaaaaaaaaah!
Er zeigt auf einen kleineren Felsen. „Das da drüben ist der libanesische Pavianfelsen, hier leben zwei Paviane. Kommen zwei dazu – ok.“ Semsrott will zeigen, wie anstrengend und deprimierend das Leben sein kann, wenn man nur genug darüber nachdenkt. Viele Menschen zum Beispiel hätten einfach nur nicht begriffen, dass eine Hochzeit etwas Trauriges ist. Schließlich sage man Ja zu einem Menschen und trenne sich gleichzeitig von den restlichen sieben Milliarden.

Powerpoint-Präsentationen veranschaulichen Semsrotts Sicht der Dinge.
Solche Beispiele für Entscheidungsstress sind deprimierend. Denn sie sind in ihrer Absurdität unterhaltsam und beschreiben gleichzeitig eine Realität, die jeden betrifft. Seine Darstellung von Entscheidungsvorgängen visualisiert er mit Grafiken der Powerpoint-Präsentation. Man habe im Kapitalismus immer eine Entschiedungsmöglichkeit mehr als in einer Diktatur – aber die sei keine Alternative.
Weniger lachen, mehr nachdenken
Apropos Kapitalismus – Damit das Konzept seiner konsequenten Kapitalismuskritik authentisch bleibt, diszipliniert Semsrott sich selbst.
Immer wenn ich lache, wandern 5 Euro von einer Tasche zur anderen.
Das Geld würde er an die Junge Union spenden, damit es wenigestens genauso freudlosen Menschen zugute komme wie ihm. Am Ende des Abends sind 40 Euro von seiner linken in seine rechte Hosentasche gewandert. Neben Systemkritik gibt es aber auch ganz praktische, leisere Denkanstöße. Beispielsweise über die AfD oder Pegida herzuziehen ist leicht. Semsrott denkt aber einen Schritt weiter und stellt fest:
Der Unterschied zwischen denen und mir ist nur, dass die ihren Schuldigen schon gefunden haben.
Solche Aussagen überraschen in einem Programm, dass lustig sein soll – und es auch ist. Mit seiner trockenen Art wirkt er selten belehrend. Er hat auch nicht den Anspruch, ausschließlich witzige Dinge zu sagen. Ganz ehrlich stellt er Fragen, die ihn beschäftigen. Die im Raum stehen bleiben.
Wie viele Arbeitsplätze ist eine Menschenrechtsverletzung wert?
Es geht weniger um die Antworten, die es nicht gibt. Mehr darum, sich zu fragen, warum man daran erinnert werden muss. Warum man das sich nicht selbst öfter fragt. Warum andere nicht danach fragen.
Dort, wo bei anderen Komödianten Pointen und Lacher Platz finden, herrscht bei seinem Publikum oft betretenes Schweigen – weil man sich ertappt fühlt. Oder über eine philosophische Kernaussage erst nachdenken muss.
Einfach mal scheitern
Als die Stimmung nach der Pause zumindest etwas deprimierender geworden ist, erklärt Semsrott das eigentliche Prinzip des Worshops. Nun wartet er mit einer Polemisch-provokanten-Powerpoint-Präsentation auf. Zur Auflockerung und um gegebenenfalls jemanden zu haben, dem man die Weltverschwörung anhängen kann, ist ab und zu ein Bild von einem süßen Kaninchen eingebaut. Außerdem wird das Publikum systematisch enttäuscht. „An diesem Punkt könnt ihr wählen, worum der restliche Abend sich dreht.“ Semsrott deutet auf verschiedene Themen auf der Leinwand.
Als sich das Publikum auf „Politik“ geeinigt hat, wird das Thema „Entscheiden“ farblich hervorgehoben.
Das ist eine Powerpoint-Präsentation. Vorbereitet. Wie habt ihr euch das vorgestellt, dass ihr euch jetzt spontan was aussucht?
Gegen die Erfolgsgesellschaft, sich dem Druck zur Perfektion entziehen – einfach mal scheitern. Das fordert Semsrott nicht nur, er lebt es vor. Er betreibt unter anderem ein digitales „Museum des Scheiterns“, in das jeder die Zeugnisse seines Scheiterns hochladen kann. So können alle bewundern, wie man zum Beispiel (besonders beliebt) bei den Bundesjugendspielen glorreich gescheitert ist. Semsrott selbst ist stolzer Studienabbrecher.
Am Ende seines Programms wird sofort eine Zugabe gefordert. Zum Abschied trägt er einen kurzen Text vor und fragt das Publikum nach einer Bewertung. Er feilt nämlich ständig an seiner Demotivation.
Alle sechs Monate erneuert er die Hälfte des Textes – am ersten Dezember ist Nico Semsrott im Schatzkistl also mit „Freude ist nur ein Mangel an Information 2.5“ zu sehen. Hingehen lohnt sich also auch, wenn man ihn schon live gesehen hat. Außerdem wollen schließlich alle das süße Häschen nochmal sehen.
Schatzkistl Mannheim | ||||||||||||||
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