Rhein-Neckar, 03. Juli 2017. (red/pro) Ein Verbrechen geschieht. Eine Gewalttat. Eine Bluttat. Menschen kommen zu Tode. Was fällt dazu Boulevard-Medien ein? „Hey, lasst uns doch mal die Nachbarn befragen und ne Story draus stricken.“ So aktuell wieder mal geschehen im Fall eines Tötungsdelikts in der Neckarstadt-West. Nichts genaues weiß man nicht, aber darüber wird man doch wohl noch schreiben dürfen.
Von Hardy Prothmann
Journalismus lebt von Quellen. Eine Quelle kann ein Schriftstück sein, ob Untersuchungsbericht, Artikel, Buch, Akte, Notiz… was auch immer. Irgendetwas Schriftliches halt, dem man nach sorgfältiger Prüfung Relevanz beimisst. Auch Menschen können Quellen sein, solche, die Journalisten irgendwas erzählen, was mutmaßlich Nachrichtenwert hat.
Alle Quellen – auch die abstrusen – sind wichtig und es gehört zum journalistischen Handwerkszeug, Quellen zu checken. Egal woher die Information kommt, sie muss überprüft werden, sonst macht man keinen Journalismus, sondern verbreitet Gerüchte, heute bekannt als Fake News.
Journalisten, die tatsächlich mit Quellen arbeiten, sich durch Akten fressen und mit vielen Menschen reden, wissen, dass das ganz, ganz harte Arbeit ist. Insbesondere, wenn es keine „harten Fakten“ gibt, sondern nur „Erzählungen“ von Leuten. Stimmt das wirklich, was eine Person erzählt? Warum erzählt sie das, was sie erzählt? Kann die Person ihre Erzählung belegen oder plappert sie nur munter vor sich hin, findet sich wichtig und freut sich, dass jemand zuhört?
Die absolut unsicherste Quelle ist die narrative Person. Der „Augenzeuge“. Der Kollege. Der Nachbar. Jemand, der vermeintlich „was wissen könnte“ oder eben so tut, als wüsste er was, um sich wichtig zu machen.
Wie prüft man als Journalist, ob man seriöse Quellen oder unseriöse vor sich hat? Immer durch Belege. Seriöse Quellen können belegen – ob als Schrift oder als Aussage – was sie angeben.
Aktuell gibt es Berichte über ein Tötungsdelikt in der Neckarstadt-West. Nichts genaues weiß man nicht. Es gibt „Reporter“, die sich entschließen, „mal die Nachbarn zu befragen“ und deren „Aussagen“ dann zu berichten. Natürlich mit dem Hinweis, dass das nur ein Aussage des Nachbarn sei. Nicht belegt und nicht bewiesen, aber immerhin eine Aussage.
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An dieser Stelle verabschiedet sich seriöser Journalismus und wird zum Boulevard. Man kolportiert jedes Gerücht, jede „Sichtweise“, jede „Aussage“. Klar, gesichert ist das alles nicht, „aber es könnte ja so sein“.
Wie brutal diese „Aussagen“ und die „Wirklichkeit“ nicht zusammenpassen, hat man bei der Berichterstattung zum Tötungsdelikt vor der H4-Wache miterleben können. Sehr viele Medien in unserem Gebiet haben sich in einem schieren Wettkampf der Sensationen fast täglich mit „Sensationen“ übertroffen. Nichts, genau nichts von den vielen „Zeugenberichten“ war wahr.
Die Bevölkerung wurde durchweg mit Fake News versorgt. Angespitzt, boulevardisiert, skandalisiert. Hauptsache, das Empörungslevel sollte hoch sein. Im Fokus: Die Polizei. Es handelte sich fast durchweg um Sensationsberichterstattung.
In der Neckarstadt-West ist eine Frau gestorben. 32 Jahr alt. Vermutlich durch mehrere Messerstiche getötet. Der mutmaßliche Täter, ein 23-Jähriger Mann, hat sich im Anschluss selbst gestellt und die Tat angezeigt.
Die Tat geschah im privaten Raum. In der Wohnung des Opfers. Die Hintergründe sind noch unklar.
Es ist möglich, dass, wie eine Lokalzeitung das berichtet, Drogen im Spiel waren. Vielleicht war das Motiv ein Beziehungsdrama. Vielleicht war es beides und vielleicht war es ganz anders.
Solche Tötungsdelikte sind immer schrecklich, denn ein Mensch kam zu Tode. Aber gleichzeitig sind solche Dramen erstmal privat und es ist insbesondere kurz nach der Tat nicht ersichtlich, dass es ein besonderes öffentliches Interesse über die grundsätzlichen Tatmerkmale geben könnte.
Sollten solche Taten gehäuft auftreten, sollten Personengruppen auffallen oder Örtlichkeiten oder was auch immer – dann könnte es von besonderem öffentlichen Interesse sein, daraus eine besondere journalistische Story zu machen. Dafür muss man Quellen und Fakten prüfen und sich dann redaktionell entscheiden, ob eine öffentliche Relevanz vorliegt.
Dazu kann man allerlei Leute befragen – auch Nachbarn. Doch was wissen die? Können die einen Junkie von einem Grippekranken unterscheiden? Haben diese Einblick in die inneren Lebensverhältnisse des Nachbarn, zu dem sie befragt werden? Was bedeutet es, wenn diese sagen, „der hatte immer ein dickes Auto“? Was ist ein „dickes Auto“ für jemandem im Jungbusch oder in der Oststadt? Was heißt es, jemand war freundlich oder unfreundlich?
Wer sich lange journalistisch betätigt, weiß: Nachbar sind grundsätzlich schlechte Quellen. Entweder wissen sie genau gar nichts oder fantasieren sich etwas herbei. Ab und an sind sie auch extrem gute Quellen – man muss das aber unterscheiden können. Und das geht nur mit Recherche.
Eine ordentliche Recherche basiert im besten Fall immer auf mehreren Quellen, die eine Information „handfest“ machen. Selbst mit mehreren Quellen können Informationen immer noch unsicher sein und sogar komplett falsch.
Journalismus ist nie gefeit, Betrügern aufzusitzen. Journalisten sind keine Halbgötter, auch, wenn manche so tun. Manche Journalisten wollen sich auch betrügen lassen oder betrügen vorsätzlich – dafür gibt es genug Beispiele, ob die „Hitler-Tagebücher“ des stern oder die sagenhaften Stories des Tom Kummer.
Journalismus, so wie ich den mal gelernt habe, ist aber ein verantwortlicher Job, der den Menschen dienen soll. Eben als Dienstleistung, um anderen Menschen eine Meinungsbildung zu ermöglichen.
Wenn ich nun lesen muss, das das Todesopfer möglicherweise – vollständig unbewiesen – selbst an der Nadel hing. Wofür benötige ich diese Information? Welche Meinung soll ich mir aufgrund dieser Information bilden? Selbst schuld? Eh schon halb tot?
Ich habe mir schon vorher eine Meinung gebildet. Durch Schulbildung, durch Studium, durch Arbeit, aber vor allem durch Mensch-sein. Es ist vollständig unerheblich, wie die Umstände sind – wenn jemand zu Tode kommt, ist das immer tragisch. Zuvörderst für das Opfer, dann Familie und Freude und möglicherweise auch für den Täter, wenn dieser Reue zeigt. Ob die Öffentlichkeit davon – detailliert – Kenntnis haben sollte, hängt vom „Einzelfall“ ab.
Jedes Tötungsdelikt gibt zunächst „Rätsel auf“, wie das aktuell eine Lokalzeitung schreibt. Das ist keine Neuigkeit, das ist eine Binse. Wieso, weshalb, warum? Wie, wer, wann? Die Ermittlungsbehörden beackern fast dieselben Fragen wie Journalisten – mit besseren Möglichkeiten als Journalisten sie haben.
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Boulevardjournalismus, also einen billigen Journalismus, erkennen Sie immer daran, dass etwas aufgebauscht wird. Dass es vor allem um „Emotionen“ geht und weniger um Fakten. Das geraunt wird, das es „sehr privat“ wird.
Sie haben es selbst in der Hand, ob sie solchen Journalismus haben wollen. Hilft der Ihnen bei Ihrer Meinungsbildung? Sie meinen: Ja! Unbedingt! Ok, das passt für uns. Sie dürfen das meinen und wir dürfen meinen, dass Sie unser Angebot zwar auch nutzen dürfen, Sie aber nicht unsere Zielgruppe sind. Woanders sind Sie besser aufgehoben.
Denken Sie mal drüber nach. Genau jetzt. Nebenan passiert ein Tötungsdelikt. Was wissen Sie als Nachbar? Welche wirklich gehaltvollen Aussagen können Sie in Bezug auf das Tötungsdelikt treffen? Wie tatsächlich seriös können Sie sich äußern? Wie verantwortlich sind Sie, wenn Sie sich äußern? Wie gehen Sie mit Medien um und dort befindlichen „Zitaten“ von „Quellen“? Bleiben Sie kritisch oder wird Ihr Trigger bedient? Warum interessieren Sie sich für diese oder diese Geschichte? Warum leben Sie mehr „Blaulicht“-Themen als politische Analysen?
So viele Fragen!
Denken Sie nach. Auch, was Ihnen Medien wert sind, die Videos bei Twitter als „Quelle“ verwenden, um über „Rätsel“ zu spekulieren. Die Quelle dürfte in dem Fall ein Mensch sein, dem keine 100 andere Menschen folgen und der nach seinem Profil Mitte 20 und „gay“ ist und sich wünscht, ein „Superstar“ zu werden.
Ich hoffe, Sie haben verstanden, warum das Rheinneckarblog in der Region sich sehr klar von anderen Medien unterscheidet.
Recherchen gehören zum Journalismus – guter Journalismus entscheidet sich von geprüften Recherchen zum öffentlichen Interesse von schlechtem Journalismus, der nur öffentliche Sensationsgeilheit bedienen will.
Ich wünsche eine gute Woche
Ihr