Mannheim, 28. April 2016. (red/nh) Frischer Sinn, Sonnenschein, Neues Leben, Regenbogen – Mannheim ist eigentlich berühmt für seine Quadrate. Doch außerhalb des Zentrums entdeckt man Gute Hoffnung, Freie Luft und Morgenröte. Was verbirgt sich hinter diesen ungewöhnlichen und teils amüsanten, schönen Straßennamen?
Von Naemi Hencke
Straßennamen sind Geschichte
Die Dudenstraße ist ein Relikt – in Wohlgelegen – aus Zeiten, als noch das Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG hier ansässig war. Das ist Geschichte. Es gibt den Namen, aber keinen Duden mehr.
Bis 2009 hatte der Verlag hier seinen Sitz und produzierte unter anderem die Marke Duden – daher der Name. Nach der Zerschlagung der Aktiengesellschaft hat sich der nachfolgende Buchverlag komplett aus der Vertrieb von Lexika herausgezogen. Der Duden – vor nicht allzu langer Zeit haptisch und in jedem Bildungshaushalt greifbar, ist heute gefühlt ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Duden und Dinosaurier haben nicht nur das D gemein – sie sind ausgestorben.
Wie viele andere Straßennamen, zeugt auch die Dudenstraße davon: Anhand der Straßennamen lässt sich die Geschichte einer Gesellschaft ablesen.
Was war wichtig an diesem Ort? Welche gesellschaftlichen Vorstellungen herrschten vor? Gegebenheiten – auch Straßennamen – werden gelöscht oder sichtbar gemacht. Je nachdem, wie der Konsens darüber ist. Ist das Straßennetz demnach eine Art Lexikon unserer Vergangenheit?
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Sechs mal Äquator, demnach sechs mal um die Erde – so lang ist etwa das gesamtdeutsche Straßennetz. Anfang 2011 war es 230.800 Kilometer lang. Bis heute dürften einige Kilometer mehr hinzu gekommen sein. Das ist ganz schön enorm. Vor allem, wenn man sich überlegt, dass jede Straße einen Namen trägt. Oder eine Nummer – wie beispielsweise Autobahnen. Oder Mannheims Quadrate in einer Kombination aus Buchstabe und Nummer. B3 ist eine Bundesstraße, aber auch ein Mannheimer Quadrat.
Straßennamensafari
Heute begegnet man auf einer „Straßennamensafari“ in Mannheim neben Ps und Qs allen möglichen Tieren, Pflanzen und Planeten – Entenstrich, Unkenteich, Seerosen- und Kometenweg, Sonnenschein und Abendröte – auch Straßen, die ganz ungewohnt lustig heißen, wie Wasserbett, Freie Luft, Große Ausdauer, Frischer Sinn und Neues Leben. Auch die Eigene Scholle ist sehr amüsant, wenn man zum ersten Mal vor dem Straßenschild steht.
Mit Großer Ausdauer
In den Jahren 1920 bis 1930 entstand zwischen Käfertal und Waldhof ein neues Siedlungsgebiet. Die Straßennamen „sollten den Siedlungsgedanken der neuen Bewohner würdigen, die sich in der Nähe von Benz eine Existenz aufbauten“, heisst es im „Online-Zettelkasten“ des Mannheimer Staatsarchivs.
Die Straßen wurden dementsprechend beispielsweise Große Ausdauer, Starke Hoffnung, Neue Heimat, Aufstieg, Frischer Mut und Neues Leben getauft.
Weiter heißt es hierzu aus einem Beitrag der Neuen Mannheimer Zeitung vom ersten Dezember 1932:
Große Ausdauer ist noch von nöten, bis alle 140 Familien im eigenen Heim wohnen. Wenn man der dritten Straße diesen Namen gegeben hat, so soll damit aber auch ein Ansporn für die künftige Arbeit in Haus und Garten gegeben sein. Zu jedem Haus gehören durchschnittlich 800 Quadratmeter Gartenland, die jedes Jahr bebaut und bearbeitet werden wollen, um einen angemessenen Ertrag zu liefern.
Alte Namen. Geschichte. Doch auch das Jetzt und die Zukunft brauchen neue Namen. Dr. Hanspeter Rings, Stadtarchiv Mannheim ISG, recherchiert unter anderem mögliche neue Straßennamen im Auftrag der Stadt:
Oft werde ich gefragt, was denn dort passen würde? Das sind häufig historische Fragen oder welche bedeutenden Wissenschaftler in Frage kämen. Dann begebe ich mich auf die Suche…,
erklärt er. Den endgültigen Entschluss trifft letztlich der Gemeinderat.
Dichter, Denker und Humoristen
In Feudenheim begegnet man großen Denkern, Dichtern und Humoristen – darunter Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Friedrich Hölderlin und Karl Valentin.
Namen berühmter Persönlichkeiten auf Straßenschildern haben eine große Bedeutung, denn sie ehren einen Menschen auf ganz besondere Weise. Straßennamen werden – einmal entschieden – so gut wie nie und nur in absoluten Ausnahmefällen, geändert. Aber Obacht: Erst nach dem zweiten Todestag dürfen die Namen eines Menschen „an die Straße“ gebracht werden.
Niederungen und Höhen
Straßen werden dem Namen nach auch aus topografischen Gegebenheiten benannt. So auch in Feudenheim. Hier entdeckt man Niederungen und Höhen: Man befindet sich auf dem Au- und Wingertsbuckel, dem Kirch-und Paulusberg und in der Au, dem Wasserbett und Neckarplatt.
Vor etwa 12.000 Jahren – nach dem Ende der ersten Eiszeit – entstanden aus westlichen Steppensandwinden so genannte Flugsanddünen. Nach Christina Altmann waren die Dünen anfangs bis zu 100 Meter hoch. Doch die Sanddünen seien nach und nach überbaut oder abgetragen worden. Nur noch wenige Teile seien erhalten geblieben, schreibt sie in „Ein Dorf auf sieben Hügeln” (MM, 2008).
Erfinder
Im Käfertaler Gewerbegebiet finden sich die Namen berühmter Erfinder. Marconi-, Edison-, Reichenbach, Fraunhoferstraße und nicht zu vergessen: Ludwig Roebel. Seine größte Erfindung machte er in Käfertal bei Brown, Boveri und Cie. Der später nach ihm benannten „Roebelstab“ machte es möglich, preisgünstigen elektrischen Strom in nahezu unbegrenzter Menge herzustellen. Nun war der Weg endlich frei, elektrische Energie in Haushalte und Gewerbe zu verteilen. Seine Erfindung wurde im Jahre 1912 beim Patentamt registriert und ab sofort mussten Lizenzen an BBC gezahlt werden.
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1890 kam Hugo Stotz nach Mannheim. Er gründete mit einem Partner seine eigene Firma „Moje & Stotz – elektrische Installationen“ und hatte ab 1901 ein Ladengeschäft in O4 – er montierte angeblich die erste Leuchtreklame Deutschlands mit seinem Namenszug als Laufschrift auf das Dach des Gebäudes. Nicht ohne Grund wurde also auch nach ihm eine Straße benannt.
Hopfen, Malz und Gerste
In Mannheim gibt es eine lange Brau- und Mälzertradition- nicht zuletzt wegen der günstigen Lage zum Wasser, zu großen Gerstenanbaugebieten und der preisgünstigen Industriegelände. Daher rührt auch die ein größeres Gelände umfassende Hopfen-, Malz-, Brau- und Gerstenstraße. Ein Gebiet, auf dem früher eine Malzfabrik beziehungsweise eine Brauerei stand. Der Ökonom Ludwig Stempel übernahm die Brauerei nach 1800 von seinem Schwiegervater.
Widerstandskämpfer/innen
Das ehemals von Amerikanern als Kaserne genutze Turley Areal wird zum Taufbezirk des Widerstandes: Marianne Cohn, Eva Hermann, Heinrich Wittkamp und Fritz Salm lehnten sich als Widerstandskämpfer/innen gegen den Faschismus auf. Fritz Saal, 1913 in Mannheim geboren, war KPD- und DKP-Mitglied und wurde 1935 von der Gestapo verhaftet und misshandelt. Nach 1945 erinnerte er bei Stadtführungen und Schulvorträgen an die „Terrorherrschaft der Nazis“. In „Im Schatten des Henkers“ schrieb er ein Buch – gegen das Vergessen – über die Ereignisse im Dritten Reich.
Warum haben Straßen Namen?
Straßennamen dienen – ganz banal – der Orientierung, vor allem für Ortsunkundige. Auch wenn man heute immer seltener der Spezies Mensch begegnet, die einen nach dem richtigen Weg fragt. Meistens haben sie die Antwort schon griffbereit – dank Apps wie GoogleMaps sind sie auf dem richtigen Weg:
Gehen Sie nach Nordwesten. Halten Sie sich geradeaus. In 200 Metern scharf links abbiegen, danach gleich an der Kreuzung rechts abbiegen. Danach haben Sie Ihr Ziel erreicht.
Schauen wir eigentlich noch bewusst auf Straßennamen? Oder ist das durch die mobile Gewissheit der allwissenden Navigations-App gar nicht mehr nötig? Wenigstens um dieses gigantische „Technikhirn“ zu füttern, braucht es noch Straßennamen – beziehungsweise würden Zahlen, GPS-Daten, hier auch reichen.
Was die Dame oder der Herr im Gerät nicht mitteilt: Straßennamen stiften Identität. Man wohnt im Musikerviertel. Oder im Dichterviertel. Oder im Erfinderviertel – oder eben im Arbeiterviertel. Ganz ehrlich? Die schönsten Namen sind die in den Arbeitervierteln: Eigene Scholle, Neue Heimat, Regenbogen, Frischer Mut. Wie schön. Wie emotional. Wie poetisch.
Bewohner einer Straße kämpfen sogar für „ihren“ Straßennamen, wenn es ihm „an den Kragen gehen sollte“ – zum Beispiel, weil der Name nach herrschender Meinung nicht mehr politisch korrekt ist. Da werden Anträge gestellt und Meinungen ausgefochten. Schließlich bedeutet so eine Umbenennung bürokratischen Aufwand und Kosten. Und irgendwie auch Identitätskrise und -verlust. Wer erfährt schon gerne, dass die eigene, gewohnte Adresse einem Menschenschlächternamen gehörte?
Straßenschuld getilgt
In der Nachkriegszeit wurden die von Adolf Hitler zu Propagandazwecken einverleibten Straßennamen flächendeckend entnazifiziert. Adolf-Hitler-Brücken und Horst-Wessel-Straßen bekamen auch in Mannheim ihre ursprünglichen Namen zurück.
Doch was soll mit Carl-Peters-, Gustav-Nachtigal- und Leutwein- und Lüderitzstraßen passieren? In den zahlreichen Debatten wird hin und her gestritten, wie menschenverachtend, mörderisch und rassistisch diese Kolonialisten zu ihrer Zeit gewesen sind. Carl Peters war es mit Sicherheit.
Umbenannt oder einfach umgewidmet
Die Karl-Peters-Straße in Mannheim beispielsweise – sie wurde ganz einfach und pragmatisch in Wilhelm-Peters-Straße umgewidmet. Aus einem kolonial-rassistischen Mann mit „blutiger Hand“ (Suaheli: mkono wa damu) wurde ein Naturforscher. Umbenannt beziehungsweise umgewidmet wurden Karl-Peters-Straßen unter anderem ebenfalls in 20 anderen Städten, darunter Ludwigshafen am Rhein, Karlsruhe und Hildesheim.
Bislang wurde der Name Lüderitz (Franz Adolf Eduard) in Köln, Bochum und Bad Hersfeld von den Schildern und damit aus dem Straßengedächtnis gelöscht. Hätten Sie sich was bei Lüderitz gedacht? Erst wurde sein Name geehrt – dann folgten neue Erkenntnisse und viele Städte entschlossen sich, diesem Herrn kein Andenken mehr zu geben. In manchen Städten bestimmt er noch das Bild von Straßen.
Interessant in diesem Kontext scheint der Fakt zu sein, dass es in Hamburg insgesamt etwa 110 Straßen mit kolonialen Bezügen gibt – darunter “Sklavenhändler und Profiteure des Sklavenhandels und des Kolonialismus”. Hat Hamburg hier noch eine gesellschaftliche Debatte vor sich? Vermutlich ja.
Straßen stiften Identität
Identitätsstiftend sind Straßennamen auch dann, wenn Menschen ein Café eröffnen wollen. Nun befindet sich das Café möglicherweise in der Adolfstraße in Berlin Wedding. Ist es ein gutes Omen, in einer Straße mit diesem Namen ein Café aufzumachen?
„Adolf im Straßennamen erschien uns als ein schlechter Vorbote für eine gesellige Bar nach unseren Vorstellungen“, erklärt Kilian Flade seine Gedanken hierzu auf seiner Homepage. Doch nach seinen Recherchen kam heraus, dass „die Straße […] nicht etwa nach einem bestimmten Adolf benannt [ist], sondern ganz einfach nach dem männlichen Vornamen generell.“
Ihn hat diese Frage so sehr beschäftigt, dass er weitergegangen ist und darüber hinaus eine Bachelorarbeit geschrieben hat. Wie Straßennamen das kollektive Gedächtnis prägen und wie sich das auf die Erinnerungskultur der Stadtteilbewohner auswirkt.
Ein schwerwiegendes Thema und eine große Debatte tut sich auf, sobald man diese „Straßennamen-Kiste“ öffnet: Sollte man die betreffenden Namen aus Achtung der Erinnerungen von Betroffenen rigoros löschen? Oder löscht man damit die Erinnerungen an die Vergangenheit? Oder sollte mit Tafeln erklärend an die Vergangenheit gedacht und gemahnt werden? Was ist hierbei der sinnvollste Weg?
Straßen für Müller und Ritter
Im Mittelalter scheint das alles etwas pragmatischer angegangen worden zu sein.
Die Straßen wurden einfach nach Handwerkerzünften oder Bevölkerungsschichten benannt: Es gab Fleischer- oder Müllergassen. Ritter- und Burgstraßen.
Die Richtung, in die sie führten war namensgebend, oder auch ihre Umgebung, an der sie lagen – (Mannheimer) Landstraße(n), Rathausmärkte, Domplätze und Wald-, Wiesen- und Bergstraßen.
Absoluter Straßennamenschlager: Die „Hauptstraße“
Dorf-, Bahnhof- und Kirchstraßen sind besonders häufig anzutreffen. Doch der absolute „Straßennamenschlager“ ist die Hauptstraße. Im Jahr 2001 gab es sie insgesamt 7.630 Mal in Deutschland. Wer ist der Herr Haupt oder diese Frau Haupt? Niemand hat je als Dichter, Denker oder Erfinder von diesem Namen gehört. Die Lösung ist einfach: Es ist die (ehemals) wichtigste Verkehrsachse im Ort.
Freudenheim und Seckenheim duften ihre Hauptstraßen behalten. Wallstadt musste nach der Eingemeindung die Hauptstraße abgeben, aus dem einfachen Grund, da es sonst zu viele Hauptstraßen geben würde, so schreibt es Andrea Sohn Fitsch in ihrem Artikel „Ortgeschichte weht durch alte Gassen“, erschienen 2008 im Mannheimer Morgen. Heute heißt die die frühere Wallstadter Hauptstraße Mosbacher Straße.
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