Rhein-Neckar, 22. Oktober 2015. (red) Die Flüchtlingskrise ist das alles beherrschende Thema. Punkt. Täglich gibt es neue Meldungen, die Informationen ad absurdum führen. Wir versuchen einen Rückblick, einen Blick auf die aktuelle Situation und auf das, was kommen wird. Unsere Darstellung basiert auf unseren intensiven Recherchen, mit denen wir ganz überwiegend richtig lagen und ebenso oft als erste gemeldet haben, wie sich die Lage entwickelt.
Anm. d. Red.: Wir werden in den kommenden Tagen die Entwicklung der Flüchtlingszahlen und deren Unterbringung rückwirkend bis zur aktuellen Situation betrachten und darüber hinaus unsere Einschätzung für die weitere Entwicklung darstellen. Diese Serie erarbeiten neben unsern täglichen Aufgaben. Lesen Sie den Text sorgfältig – wir springen in der Zeit. Wir berichten Fakten und ordnen kommentierend ein. Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung.
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Von Hardy Prothmann, Recherche: Mathias Meder
Es begann im August 2013… Zumindest aus lokaler Sicht. 160 Asylbewerber werden in Ladenburg in der alten Martinsschule untergebracht. Landrat Stefan Dallinger (CDU) redet von „unüberwindbaren Zwängen“ und sieht seine Behörde „mit dem Rücken zur Wand“.
Wir kritisieren diesen Sprachgebrauch als einziges Medium. Dem Landrat gefällt das bis heute nicht und wir haben ein eher „schwieriges Verhältnis“.
Der Landrat sieht sich vom Regierungspräsidium Karlsruhe „unter Druck gesetzt“. Er muss aktuell 280 Flüchtlinge unterbringen und weiß nicht wo. Das Land Baden-Württemberg geht von 12.000 Flüchtlingen für das Jahr 2013 aus. Gemäß der Quote müsste der Landkreis rund 600 Personen unterbringen.
Aktuell kommen jeden Tag über 10.000 Menschen in Deutschland an.
Die Zeitung Die Welt berichtet im August 2013 von „tschetschenischen Terrorzellen“, die als Flüchtlinge getarnt ins Land einwandern. Unser Recherchen entlarven das bis heute als Blödsinn.
Der Rhein-Neckar-Kreis verteilt die Flüchtlinge, die vom Land zugeteilt werden, auf GUKs – Gemeinschaftsunterkünfte. Meist dauern die Asylverfahren weit über ein Jahr, manchmal sogar über zwei Jahre, dann werden aus Kreisflüchtlingen in der Logik der Verwaltung kommunale Flüchtlinge. Der Kreis baut eine Unterkunft in Walldorf heißt es im Oktober 2013 und bringt 70 Flüchtlinge in Eberbach unter – zu welchen Konditionen alte Immobilien vermietet werden – niemand erfährt es. Aber man gewinnt den Eindruck, dass es die ersten „Kriegsgewinnler“ gibt.
Im Dezember 2013 informiert der Rhein-Neckar-Kreis, das man 700 Flüchtlinge „aufnehmen musste“. Eine in Weinheim geplante Unterkunft für 200 Asylbewerber an der Heppenheimer Straße sorgt für mächtig Ärger: „nicht die Existenz von 100 Weinheimer Familien zerstören“, titeln wir damals. Der geschätzte Spiegel-Kollege Christoph Reuter schreibt über Syrien: „Es ist das Grauen dort, bitte helft.“
Im Februar 2014 müssen die Ladenburger Flüchtlinge nach Schwetzingen umziehen – in eine Containersiedlung, die auf einem Parkplatz errichtet wird. Wir titeln: „Welcome to the jungle“.
Ebenfalls im Februar 2014 schreiben wir alle 54 Gemeinden im Rhein-Neckar-Kreis an und bitten um Auskunft, wann, in welcher Form und mit welchem Inhalt diese von Ihnen in der jüngeren Vergangenheit ersucht worden sind, Wohnraum für Asylbewerber anzubieten. Damals waren es neun Gemeinden. Das Landratsamt interveniert und behindert unsere Recherchen. Aktuell mahnt das Landratsamt an, dass nur 23 der 54 Gemeinden sich bei der Unterkunft von Flüchtlingen engagieren – so ändern sich manchmal die Perspektiven.
Der Kreis treibt seine Planungen für Weinheim voran – ein Riesenthema. Es geht um 200 Flüchtlinge.
Überall werden die Flüchtlinge zunehmend ein öffentliches Thema – auch in Mannheim. Dort geht es im März 2014 um 300 kommunale Flüchtlinge.
Wir überspringen ein paar Monate. Im September 2014 muss der Rhein-Neckar-Kreis schon doppelt so viele Flüchtlinge aufnehmen, als noch ein Jahr zuvor, also fast 1.200. Die Kapazitäten der großen Unterkünfte sind wie folgt verteilt: Sinsheim 420, Schwetzingen 270, Eberbach 240, Wiesloch 240, Weinheim 200 – in Summe sind das 1.370 Plätze. Das scheint angesichts der für dieses Jahr erwarteten 1.200 Personen ausreichend – ist es aber nicht. Wir schreiben:
Denn Weinheim beispielsweise wird frühestens im Herbst 2015 bezugsfertig sein. Und ab 2016 werden auch diese nicht mehr reichen – aktuell werden die meisten Flüchtlinge noch mit dem Anspruch auf 4,5 Quadratmeter untergebracht, diese Zahl wächst per Gesetzbeschluss auf 7 Quadratmeter, was unterm Strich rein rechnerisch die vorhandenen Plätze weit über die Hälfte reduziert. Der Strom der Flüchtlinge wird aber vermutlich nicht abnehmen, sondern deutlich zunehmen, was den Raumbedarf noch vergrößert.
Weinheim ist im Herbst 2015 nicht bezugsfähig.
Die 7 Quadratmeter wurden nie umgesetzt und werden das auch nicht. In den Notlagern steht Bett an Bett. Die Kommunen stöhnen damals vorsorglich – tatsächlich sind sie nicht belastet.
Während jede Flüchtlingsunterbringung für hohe Aufmerksamkeit sorgt, wählte Hemsbach einen anderen Weg – man hält den Ball flach und organisiert. Heraus kommt ein System höchster persönlicher Anstrengung und eine geräuschlose Eingliederung der Flüchtlinge.
Im Dezember 2014 berichten wir über Heidelberg – rund 550 Flüchtlinge leben derzeit in Heidelberg. Monatlich werden der Stadt vom Land durchschnittlich 50 neue Flüchtlinge zur Unterbringung zugewiesen. Ein Großteil der Flüchtlinge die nach Heidelberg kommen sind syrische Familien. Sollten die Flüchtlingsströme anhalten, fehlt es in Heidelberg an Kapazitäten, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen.
Dann passiert es: Auf dem ehemaligen Militärgelände des Patrick-Henry-Village in Kirchheim werden übergangsweise bis zu 2.000 Flüchtlinge untergebracht. Wir berichten: „Die Unterkunft dient als sogenannte Bedarfsorientierte Erstaufnahmeeinrichtung (BEA): Die Asylbewerber bleiben hier jeweils nur wenige Wochen, dann werden sie an Städte und Landkreise in Baden-Württemberg zugewiesen.“
Auf Anfrage teilt uns die Pressessprecherin des Rhein-Neckar-Kreises, Frau Silke Hartmann Ende 2014 mit:
Entsprechend der uns bekannten Prognosen werden 2015 für Baden-Württemberg 26.000 bis 28.000 Flüchtlinge erwartet, das sind für den Rhein-Neckarkreis etwa 1.400.
Die Gemeinschaftsunterkünfte sind zu diesem Zeitpunkt wie folgt belegt oder geplant: Sinsheim 424 Plätze; Neckargemünd 52 Plätze; Spechbach 70 Plätze; Walldorf 54 Plätze; Wiesloch 240 (ab Anfang 2015) Schwetzingen 350 Plätze; Reilingen 30 Plätze; Waibstadt 80 Plätze. Weitere Wohnungsunterkünfte befinden sich in Eberbach, Helmstadt-Bargen, Leimen, Mühlhausen, Reilingen, Sandhausen, Sinsheim, Waibstadt.
Heute wissen wir – es werden mindestens 100.000, vermutlich mehr als 130.000 Flüchtlinge – also vier Mal mehr als Anfang 2015 gedacht.
In den Gemeinden sind die Zahlen sehr unterschiedlich: So beherbergt Ladenburg zum damaligen Zeitpunkt vier Mal mehr Personen als Heddesheim, doch beide Gemeinden haben mit rund 11.000 Einwohnern dieselbe Größe. Oder Laudenbach hat sechs Personen mehr als Hirschberg, obwohl nur halb so groß.
In Hemsbach hat der Kreis ein ehemaliges Hotel, das zuletzt als Altenheim genutzt worden war angemietet – hier handelt es sich also um eine Anschlussunterbringung von Flüchtlingen im Verfahren, nicht um eine Aufnahme durch die Gemeinde.