Ladenburg/Rhein-Neckar, 19. August 2013. (red/ch/pro) Seit Anfang August sind in der Ladenburger alten Martinsschule 100 Asylbewerber untergebracht. Bis Ende August werden es 160 sein. Die Vertreter des Landratsamtes tun laut Landrat Stefan Dallinger „alles um dem Andrang der Flüchtlinge Herr zu werden.“ Doch so wirklich interessiert ist man an dem Schicksal der Asylbewerber offenbar nicht. Wir haben dank der Hilfe zweier Übersetzer am vergangenen Freitag mit einigen von ihnen gesprochen. Eine Mühe, die sich die Behörden bislang noch nicht gemacht haben. Auch in die Schule dürfen die Kinder nach heutigen Stand nicht – obwohl es auch für die Kinder der Flüchtlinge eigentlich eine Schulpflicht gibt.
Von Christopher Horn
Aljona (33) stehen die Tränen in den Augen. Dann weint sie los. Ihr Gesicht zuckt, der Körper bebt. Ihre Kinder drängen sich eng an sie. Sorgen sich um die Mama. Aljona atmet tief durch. Ringt um Fassung und findet sie schließlich wieder.
Alle die schlimmen Erinnerungen sind wieder da. Wir haben gefragt, weshalb sie ihre Heimat Tschetschenien vor über drei Jahren verlassen musste. Das kann sie uns nicht erzählen. Zu schrecklich ist die Erinnerung. Ein Detail nennt sie doch:
Sie kommen und sagen, morgen will der und der die Wohnung haben. Dann bist du draußen oder tot. Und deine Kinder mit.
Geflohen vor Willkür und Unterdrückung
Die Mutter von fünf Kindern ist mit ihren Mann vor der Unterdrückung und der Willkür im eigenen Land geflohen. Die Zivilbevölkerung ist ein Spielball von Islamisten, Bandenführern und der staatlichen Korruption.
Tschetschenien ist kein sicherer Ort, um meine Kinder groß zu ziehen, daher mussten wir fliehen.
Nun sei sie froh, in Deutschland und in Ladenburg angekommen zu sein. Im ehemaligen Klassenzimmer sind Stockbetten aufgebaut. Ein Tisch, ein paar Stühle. Ein Kühlschrank. Alles sehr einfach und sehr improvisiert. Nur die Schultafeln sind in allen Räumen fachmännisch mit dicken Spanplatten bis unter die Decke „verkleidet worden“ – man hat wohl Sorge, dass die Tafeln durch die Asylbewerber zu Schaden kommen.
Diese „verbretterte“ Maßnahme zeigt auf sarkastische Art, dass man die Flüchtlinge zwar irgendwie unter-, ganz sicher aber nicht weiterbringen will. Für die Vorsichtsmaßnahme gab es keinen Grund. Warum unterstellt man, die Asylbewerber würden die Tafeln zerstören?
Aljonas Miene hellt sich langsam wieder auf. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen – wenn sie über ihre Kinder spricht. Bis Januar werden sie und die anderen 160 Asylbewerber in der Ladenburger alten Martinsschule bleiben. Dann geht es in eine andere Unterkunft in der Region. Welche das sein wird, steht noch nicht fest.
In einem ist sich Aljona aber ganz sicher: Sie will nie wieder zurück nach Tschetschenien, denn dann seien sie und ihre Familie verloren:
Lieber sterbe ich woanders. Ich will nur Sicherheit für meine Kinder – dafür gebe ich mein Leben.
Irina (45) musste ähnliches Leid erdulden. Auch sie hat Tschetscheniens Hauptstadt Grosny schon lange verlassen und ist mit ihren beiden Kindern über Frankreich nach Ladenburg gekommen. Mit den Behörden vor Ort habe sie gute Erfahrungen gemacht: „Wir können zum Arzt gehen, wenn es notwendig ist“. Was für uns in Deutschland wie selbstverständlich erscheint, ist für Irina und die anderen Flüchtlinge etwas besonderes. In Tschetschenien ist ein Arztbesuch sehr teuer. Nur wer Bargeld auf den Tisch legt oder die richtigen Leute kennt, wird behandelt. Das musste Irina am eigenen Leib erfahren.
Meine Tochter Svetlana ist kurz nach der Geburt gestorben, weil die Ärzte in Grosny erst behandelt haben, als es schon viel zu spät war.
Sie wirft die Hände vors Gesicht und auch sie weint. Unser Übersetzer meint, er könne nicht alles übersetzen. Das sei zu schrecklich und vielleicht auch gefährlich. Er übersetzt uns dann doch die Details, die wir zum Schutz der Personen nicht veröffentlichen können.
Angeblich kommen so viele Tschetschenen nach Deutschland, weil es hier 4.000 Euro „Begrüßungsgeld“ gibt. Keiner der Teschetschenen, mit denen wir sprechen, hat davon je etwas gehört. Sie fragen sogar nach, überlegen, ob sie das jetzt richtig verstanden haben. Dann schütteln sie den Kopf.
Auf den ersten Blick sind die Asylbewerber gut versorgt in der Martinsschule – gegenüber den Erfahrungen, die sie in andern Ländern machen mussten.
Kommunikation mit Behörden ist schwierig
Doch wie gut gehen die Behörden tatsächlich auf die Flüchtlinge ein? Funktioniert die Kommunikation?
Wir verständigen uns mit den Behörden mit Händen und Füßen, ein Übersetzer war bislang nicht da,
erklärt uns der etwa 35-jährige Afghane Naim (sein Geburtsdatum weiß er nicht) und auch die anderen Asylbewerber berichten uns ähliches.
Niemand von den Beamten hat sich die Mühe gemacht, einmal genauer nachzufragen.
Naim ist bereits seit 2005 auf der Flucht. In der afghanischen Hauptstadt Kabul herrschte das absolute Chaos und auch heute ist die Lage nicht wirklich sicherer:
Mein Vater wurde auf offener Straße von den Taliban erschossen. Danach bin ich mit meiner Frau geflohen.
Acht Jahre auf der Flucht
Über den Iran ging es weiter in die Türkei und dann nach Ungarn.
Wir waren acht Jahre auf der Flucht, alle meine Kinder sind in dieser Zeit geboren.
In Ungarn hat seine damals schwangere Frau das ungeborene Kind verloren – weil die Strapazen zu groß waren und es keine ausreichende medizinische Hilfe gab.
Auf dem Weg durch den Iran sind wir zum Teil 18 Stunden am Tag gelaufen, durch Wälder und Bergland.
Seine Schilderungen sind „unglaublich“ – aber decken sich mit den Aussagen anderer über die Fluchtumstände. Die Flüchtlinge werden zur rechtslosen Personen, müssen ungeheure Strapazen ertragen, werden zum Spielball von korrupten Polizisten, Schiebern und Extremisten. Und zwar in allen Ländern. Die Afghanen beschreiben aber vor allem den Iran als besonders bedrohlich.
Auch unser Übersetzer weiß das. Er ist vor fast 30 Jahren geflohen – ebenfalls über Iran, später Indien, Türkei, Griechenland. Sechs Jahre lang war er unterwegs. Er hat sich integriert, ist Unternehmer, hat mehrere Kinder. Seitdem war er nicht mehr in Afghanistan.
Nun hofft der Analphabet Naim auf eine bessere Zukunft für seine drei Kinder – ein viertes ist unterwegs: „Meine Kinder sollen zur Schule gehen, es besser haben als ich.“ Diesen Wunsch äußern übrigens alle Mütter und Väter mit denen wir sprechen. Egal ob Tschetschenen, Serben, Kosovaren, Mazedonier oder Afghanen – die größte Sorge gilt den Kindern.
Der Wunsch wieder zur Schule zu gehen
Der 16-jährige Karim ist ein hübscher Kerl, der auf sich achtet. Er ist aus Masar-al -Sharif in Afghanistan geflohen und hat einen ganz einfachen Wunsch:
Ich würde gerne wieder zur Schule gehen, etwas lernen. Damit ich was werden kann.
Vor drei Jahren ist er mit seinem Onkel geflohen und über den Iran, die Türkei, Ungarn und Polen nach Deutschland gelangt. Auch in Masar-al-Sharif sei es am Ende unmöglich gewesen in die Schule zu gehen, so Karim. Daher hat er nun seit über vier Jahren kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen. Klar war – entweder Mitglied der Taliban werden oder eine Kugel in den Kopf.
Auch Aljona meint, „die Kinder müssen unbedingt in die Schule.“ Sie habe bereits versucht, bei den Behörden nachzufragen. Neben den beiden Töchtern von Aljona und dem 16-jährigen Karim sind noch rund 30 andere Kinder und Jugendliche unter den Asylbewerbern, die nach deutschem Recht eigentlich schulpflichtig sind. Nach unseren Informationen wollen Regierungspräsidium und Schulamt die Kinder durch Förderklassen beschulen. Auf Anfrage bekamen wir diese Auskunft:
Wir wollen die Kinder sprachfit machen und an Schule gewöhnen. Wir stellen nicht die Frage nach der Schulpflicht, sondern suchen zur Zeit geeignete Lösungen.
Das Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis scheint das allerdings wenig zu kümmern.
Uns wurde gesagt, dass die Kinder nicht in die Schule gehen können, da wir nur bis Ende Dezember in Ladenburg sind,
berichten uns alle Asylbewerber, die sich wie Tschetschenen und Afghanen untereinander nicht verständigen können, unabhängig voneinander. Die Behörden haben zwar dafür gesorgt, dass die Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf haben, sie bekommen Geld, um sich versorgen zu können und auch Arztbesuche sind möglich – alles andere aber scheint die Behörde nicht sonderlich zu interessieren.
„Alles andere“ ist zum Beispiel die Beschulung der Kinder. Sprachkurse für die Eltern und alleinstehende Asylbewerber. Grundlegende Informationen über den Ort, an dem sie sind und was sie wo erhalten können, seien es Fragen zum Einkauf oder Dienstleistungen wie beispielsweise einer anwaltlichen Beratung. Den Asylbewerbern ist noch nicht einmal mitgeteilt worden, dass am Samstag Neonazis gegen die „Asylflut“ protestiert haben.
Keine Infos über Nazi-Demo – kein Zugang zur Schule
Niemand hat sie darüber informiert. Dafür sagen alle, dass der Sozialarbeiter des Rhein-Neckar-Kreises ihnen mitgeteilt hat, dass die Schule für die Kinder erst im Januar möglich ist, weil sie ja nur 4-5 Monate hier sind.
Geht es nach dem Landratsamt, erhalten die Kinder in Ladenburg anscheinend keine Chance auf Schulbildung. Sie sollen hier vier bis fünf Monate in der Warteschleife bleiben. Ohne Spielgerät. Ohne geregelten Tagesablauf. Ohne die Chance, in diesen vier bis fünf Monaten auch nur ein Wort deutsch zu lernen. Keine Matheaufgabe. Keine Kunst. Keine Musik. Kein Sport.
Die kreativen Kinder machen derweil das Schulgebäude zum Spielgerät. An einer Seite steht ein Fassadengerüst. Darauf klettern sie – teils drei, vier, fünf Meter hoch. Das machen sie geschickt. Und wenn man sich ihnen zuwendet, dann lachen sie bald. Mit großen, neugierigen Augen. Und wenn man einen Scherz macht, kichern alle.
Der freie Zugang zu Informationen ist insbesondere für Menschen auf der Flucht enorm wichtig – vermutlich steht das aber in keiner Verwaltungsvorschrift und dementsprechend sind die Menschen auf die Hilfe von Privatpersonen angewiesen, die den Flüchtlingen ehrenamtlich helfen.
Anmerkung der Redaktion: Um unsere Gesprächspartner zu schützen, haben wir die Namen verändert. Aus diesem Grund haben wir auch auf Fotos der Personen verzichtet. Besten Dank für die Hilfe an unsere beiden Übersetzer.