Rhein-Neckar, 18. April 2016. (red) Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass immer mehr Menschen versuchen werden, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Wir dachten, dass dies ab Mai, spätestens Juni der Fall sein würde. Die Grenzschließungen der Balkanroute und der Türkei-Deal haben die Lage verschärft und die Flucht über das offene Meer beschleunigt. Heute sollen mehrere hundert Menschen im Mittelmeer ertrunken sein – und es werden noch viele weitere ums Leben kommen. Chefredakteur Hardy Prothmann schreibt an den „Landesvater“ und fragt, ob er die ersoffenen Seelen in seine Gebete für Frau Merkel einschließt.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,
Sie haben gerade einen historischen Wahlsieg erreicht. Sie sind der erste grüne Ministerpräsident und Sie haben Ihre Stellung verteidigt, wiederum historisch, die Grünen sind nun stärkste Landtagspartei im vormals schwarzen Südwesten. Ich darf Ihnen meinen Respekt für diese Leistung aussprechen.
Ich habe Sie selbst in Heidelberg allerdings als unehrlichen Politiker erlebt. Sie haben die Heidelberger über die Belegung des Patrick Henry Village getäuscht. Von ein- bis höchstens zweitausend Flüchtlingen haben Sie geredet.
Nur wenige Wochen später waren diese Zahlen Makulatur. Sie haben viel bessere Informationen als ich oder der Rest der Bevölkerung.
Und die Zahlen stiegen und stiegen – bis fast auf 6.000. In diesen Zeiten haben Sie sich clever verhalten und den Kanzlerinnen-Bonus eingestrichen. Sie haben gesagt, Sie beten für die Kanzlerin und deren „Wir schaffen das“.
Mir ist unbekannt, was Sie wann wussten und was Ihre Berater wann wussten. Ich weiß heute, dass Ihre Gebete erhört wurden.
„Wir“ ist in der öffentlichen Wahrnehmung als „Wir Deutsche“ aufgenommen worden. Das war ein Trugschluss. „Wir“ steht für Sie, Herr Kretschmann – und für die Kanzlerin sowie andere Akteure der „politischen Elite“. Aus meiner Perspektive habt „Ihr“ es geschafft. Nämlich die „Null-Lösung“. So rapide die Flüchtlingszahlen gestiegen sind, so rapide sind sie wieder gefallen.
Die AfD-Sprecherin Dr. Frauke Petry wurde vor wenigen Wochen durch fingierte Aktionen für einen „theoretischen“ Schießbefehl an deutschen Grenzen quer durch den Mediendschungel gejagt – Tatsache ist, dass aktuell konkret Flüchtlinge in Griechenland mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen per Befehl beschossen werden. In der Türkei – darüber haben wir als eines der ersten Medien berichtet – soll es tödliche Schüsse auf Flüchtlinge an der Grenze zu Syrien gegeben haben.
Von Ihnen habe ich dazu kein Wort gehört. Ich weiß, Sie sind der Typ, der erstmal alles „prüft“. Und solange es nicht zu prüfen ist, harren Sie wie die Kanzlerin mit Entscheidungen aus. Und beten.
Heute haben Sie Zeit für ein sehr langes Gebet. Für Hunderte von Menschen, die ums Leben gekommen sind, weil sie von Ägypten aus über das Mittelmeer Europa erreichen wollten. Über die Türkei geht das nicht mehr, erstens wegen des Türkei-Deals und zweitens wegen der geschlossenen Balkanroute – also zweier Zustände, die Kanzlerin Merkel erreicht hat und für die Sie gebetet haben.
Sie, Herr Kretschmann, gehören zum „pragmatischen Teil“ der Grünen. Sie haben zwar eine kommunistische Vergangenheit, sind aber bald von diesem Irrweg abgekommen. Sie machen Realpolitik. Sie reden bedächtig und empören sich über nachfragende Journalisten und beten. Das alles gut wird. Für wen? Natürlich für alle die, die an Ihre Gebete glauben.
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Wenn Sie aktuell über „Willkommenskultur“ nachdenken, denken Sie an die aktuell zu betreuenden Flüchtlinge – an Ihre neue Koalitionspartnerin CDU, die sich zurück an die Regierungsmacht flüchtet. Sie managen auch deren Krise gut – der vermutete Krach fällt aus, trotz einer erheblichen Traumatisierung bei den Christdemokraten. Es geht so geruhsam zu wie Sie sprechen. Und alles wird geprüft.
Warten Sie, Herr Ministerpräsident, nun die Prüfungen ab, wieso diese Hunderte von Menschen im Mittelmeer ertrinken mussten? Oder prüfen Sie gerade – das machen Sie schließlich schon lange – ob die Maghreb-Staaten nicht ebenso wie die Türkei sichere Drittländer sind und man bedenkenlos – weil Prüfung – „da einfach zustimmen muss, was wäre denn die Alternative?“.
Sie, Herr Ministerpräsident Kretschmann, machen den Fehler, den viele an der Macht begehen – Sie vertrauen auf Ihren Wahlsieg und ersetzen Gewissen durch eine angebliche Verantwortung. Wer Verantwortung trägt, muss sich Fragen gefallen lassen. Für Fragen sind Leute wie ich, Journalisten, zuständig. Unsere Macht ist die Unabhängigkeit, sofern wir diese gegen harte Widerstände verteidigen wollen. Fragen, die Sie nicht beantworten, Herr Ministerpräsident, bleiben aber Fragen. Die Welt wird sehr viel transparenter und daran müssen auch Sie sich messen lassen.
Uns lesen neben sehr vielen interessierten Lesern auch sehr viele Journalisten und sehr viele Entscheider, ob in Politik und Wirtschaft. Weil wir relevante Fragen haben.
Ich frage Sie, Herr Ministerpräsident Kretschmann, auch im Auftrag meiner Leser:
- Wie viele Menschen müssen sterben, bis die Flüchtlingslager wieder aufnahmefähig sind? (In Mannheim werden die Kapazitäten ja vorgehalten.)
- Wie viele Menschen wird Baden-Württemberg aufnehmen (müssen) im Jahr 2016?
- Ab wann werden die Menschen aufgenommen werden müssen?
- Was ist aus dem von Ihnen für Februar angekündigten Wohnbauprogramm geworden (ich habe dazu außer Ihrer Ankündigung nichts mehr gehört)?
- Wir haben rund 100.000 zugeflüchtete Menschen im Land, die dringend integriert werden müssen. Das ist eine unglaubliche Aufgabe – was haben Sie aktuell in den vergangenen Monaten getan, um die Bedingungen zu schaffen, dass dies leistbar ist?
- Wie helfen Sie den Kommunen?
- Ab wann ist die Landesregierung eigentlich wieder handlungsfähig?
- Wann werden Sie den Menschen die Wahrheit darüber mitteilen, was finanzierbar ist? Also mehr Polizei, mehr Lehrer, mehr Straßenbau, mehr schnelles Internet usw. – und was nicht finanzierbar ist?
- Beten Sie immer noch für die Kanzlerin und wenn ja, wofür?
- Beten Sie dafür, dass nicht passiert, was alle erwarten – die „Invasion“ übers Mittelmeer?
- Was muss Deutschland leisten, wenn Italien unter dem Ansturm verzweifelt?
- Welche Positionen haben Sie als verantwortlicher Regierungschef in den Haushalt eingestellt?
- Wie würden Sie „grüne“ Politik damals (Sie waren dabei) und heute (Sie sind dabei) bewerten? Welche Veränderungen haben sich ergeben? Was gefällt Ihnen, was nicht?
- Passt nicht ganz zum Thema oben, ist aber wichtig. Wie lange prüfen Sie noch, bis Sie die Kernkraftwerke solange abschalten, um Scheinprüfungen auszuschließen? Planen Sie eigentlich Strafverfolgung und Klagen oder nur „Prüfungen“, bis sich niemand mehr interessiert?
- Nein. Wir fragen Sie nicht, wie Sie zu erneut Hunderten Toten im Mittelmeer denken. Selbstverständlich finden Sie das tragisch und sagen möglicherweise „das darf doch nicht sein“ oder „das muss man ändern“. Aber diese „Statements“ interessieren uns nicht. Diese Botschaften verbreiten wir nicht – wir haben oben konkrete Fragen.
Wir bitten um Antworten auf diese redaktionellen Fragen – auch, wenn Sie diese möglicherweise für „unverschämt“ halten, „weil man sowas doch einfach nicht fragt“. Wir fragen einfach. Zum Beispiel sowas:
- Ab wie vielen Ersoffenen muss Europa, respektive Deutschland Ihrer Meinung nach reagieren, auch im Alleingang? Spielt die Zahl und mediale Inszenierung von Kindern dabei eine Rolle oder ist für Sie ein ersoffener Erwachsener soviel wert wie ein Kind?
- Wenn Sie an Aylan denken – ist das für Sie politische Propaganda oder nur ein totes Kind oder nur eine zu prüfende Abwägung?
Mit freundlichen Grüßen