Mannheim, 07. Oktober 2016. (red/pro) Wir hatten kritisch über die Zurschaustellung eines 68-jährigen Mannes berichtet, der im Juli 2015 verstorben ist. Er hatte von einem bislang unbekannten Mann einen Faustschlag versetzt bekommen, stürzte daraufhin auf den Kopf und zog sich eine tödliche Gehirnblutung zu. Gestern hat sich der Tatverdächtige gestellt und die Spekulationen schießen ins Kraut, obwohl nur wenige Fakten bekannt sind. Hat der emotionalisierte Beitrag in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst “ dazu geführt, dass ein Ermittlungserfolg vorliegt? Dies ist bislang nicht eindeutig zu beantworten. Wir tragen zusammen, was feststeht und was Spekulation ist.
Von Hardy Prothmann
Fest steht: Am Morgen des 02. Juni 2015 kommt es gegen 09:00 Uhr zu einer Auseinandersetzung zwischen einem jüngeren Mann und einem 68-jährigen Rentner. Der jüngere Mann verpasst dem älteren Mann einen Faustschlag. Dieser stürzt und schlägt mit dem Kopf auf den Gehweg auf. Der junge Mann entfernt sich.
Kein Ermittlungsansatz
Der Rentner erleidet Brüche der Gesichtsknochen, ein Trauma des Augapfels und eine Hirnblutung. Trotz intensivmedizinischer Behandlung stirbt er am 14. Juli 2015 an den Folgen der Tat.
Die Polizei tappt im Dunkeln. Vom Tatverdächtigen keine Spur. Keine brauchbaren Zeugenaussagen. Kein sonstiger Ansatz, der die Ermittlungen voranbringt. Ende August lobt die Staatsanwaltschaft eine Belohnung von 2.000 Euro aus für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen. Auch das bringt keinen Erfolg.

Kriminaloberrätin Roswitha Götzmann informiert aus Sicht der Polizei über den Todesfall eines 68-jährigen Rentners in der Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“ vom 05. Oktober 2016 im ZDF. Sie ist zwar eine Kriminalpolizistin mit teils spektakulären Ermittlungserfolgen in der Vergangenheit, aber aktuell keine Ermittlerin mehr und nicht bei der Kripo Mannheim wie die Unterzeile suggeriert, sondern Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Mannheim. Quelle: Screenshot ZDF
Hochemotionalisiertes Fernsehen
Dann strahlt das ZDF in der Sendung „Aktenzeichen XY…“ vom 05. Oktober einen hochemotionalisierten Beitrag zu dem Fall aus (wir haben das kritisch problematisiert). 35 Hinweise gehen ein. Viele Zuschauer denken, das Geschehen habe sich genauso zugetragen, es wirkt doch alles so echt und das ZDF ist doch seriös – und zu viel „Konjunktiv“ stört solche Beiträge. Das ist „Reality-TV“, was meist mit der Realität nur bedingt zu tun hat.
Kriminaloberrätin Roswitha Götzmann, Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Mannheim, ist im Studio und gibt Moderator Rudi Cerne Auskunft zum Ermittlungsstand. Am Ende der Sendung wird mitgeteilt, eine Zeugin habe sich gemeldet, die den möglichen Tatverdächtigen sogar namentlich benennen konnte. Noch ein weiterer Zuschauerhinweis könnte einen möglichen Ermittlungsansatz erbringen.
Zeugenhinweise bringen keinen Ermittlungserfolg
Tatsache ist, dass diese Zeugenaussagen nach unseren Informationen keinen Ermittlungserfolg zur Ergreifung eines Tatverdächtigen brachten.
Der Hinweis auf den namentlich benannten Tatverdächtigen erwies sich als nicht-zutreffend, es wurde also eine Person falsch verdächtigt. Der andere Hinweis ist für weitere Ermittlungen möglicherweise brauchbar – ob dem so ist, steht aktuell nicht fest.
Tatverdächtiger stellt sich – doch was heißt das?
Tatsache ist, dass der Tatverdächtige sich am Tag nach der Sendung am Donnerstagnachmittag der Kriminalpolizei stellt und nach Mitteilung der Polizei die Tat „weitestgehend“ eingeräumt hat. Doch was heißt das?
Es kann heißen, dass er geständig ist – ob er ein Geständnis abgelegt hat, heißt das noch nicht. Was er genau ausgesagt hat, wurde der Öffentlichkeit noch nicht mitgeteilt und wird es bis zum Prozess auch nicht, denn das würde die Ermittlungen und eine mögliche Anklage behindern.
Auch gibt es keine exakten Informationen zum Ablauf des Geschehens. Das Opfer konnte sich nicht recht erinnern. Die Reisegruppe aus Brasilien, die zur Tatzeit auf Abreise aus einem Hotel war, „war mit sich selbst beschäftigt“, wie Frau Götzmann es in der Sendung formulierte. Brauchbare Zeugenaussagen waren eher keine dabei.
In der Sendung spricht der Moderator von „Mord“, korrigiert sich aber kurz darauf auf „Körperverletzung mit Todesfolge“. Die Bild-Zeitung nennt den Tatverdächtigen „Killer“, was dasselbe ist wie Mörder und behauptet, dieser habe sein Opfer „tot geprügelt“. Das ist nicht emotionalisiert, sondern vollständig unzutreffend boulevardisiert.
Alles noch offen
Aktuell wird ein 27-jähriger Mannheimer mit deutscher Staatsbürgerschaft verdächtigt, eine Körperverletzung mit Todesfolge begangen zu haben (hier die Meldung dazu). Ob er wegen dieses Tatverdachts auch angeklagt wird, ist unklar. Oberstaatsanwalt Andreas Grossmann sagt auf Nachfrage:
In diesem Fall ist noch sehr viel offen. Wir werden uns aktuell nicht über die Informationen der Pressemitteilung hinaus äußern.
Mit großer Sicherheit wird es eine Anklage geben – unklar ist, mit welchem Tatvorwurf. Die Behörden ermitteln aktuell eine „Körperverletzung mit Todesfolge“ nach Strafgesetzbuch § 227. Wird dieser Straftatbestand vor Gericht bewiesen, ergibt das eine Mindesthaftstrafe von drei Jahren, in minderschweren Fällen zwischen einem Jahr bis zu zehn Jahren Haft.

Das einzige, was an der Bild-Zeitung zuverlässig ist, ist die grenzenlose Skandalisierung, die oft mit der Wirklichkeit nur bruchstückhaft zu tun hat. Quelle: Ralph Stanger, Facebook.
Bild hat wieder einmal eine „Killer“-Schlagzeile
Für die Bild-Zeitung ist der Tatverdächtige bereits ein „Killer“, also ein „Mörder“. Dies ist eine glatte Falschinformation der Öffentlichkeit. Nach unseren Informationen gibt es weder Hinweise für einen Totschlag noch einen Mordvorwurf. Mord wäre Strafgesetzbuch § 211 und führt im Fall einer Verurteilung immer zu einer lebenslangen Haftstrafe.
Völlig unklar ist angesichts der mangelnden Zeugenaussagen beispielsweise, wer wen zuerst angegriffen hat? Möglicherweise ging die Aggression vom Opfer aus? Wir wissen das nicht und andere Medien auch nicht. Klar ist, wer unterlegen war. Aber ist deshalb umgekehrt klar, wer den Streit und die Aggression begonnen hat?
Schuld oder Unschuld? In beide Richtungen muss ermittelt werden
Auch das werden die Behörden zu ermitteln haben. Was entweder nicht gewusst oder übersehen wird – die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, offen in alle Richtungen zu ermitteln. Sie ermittelt also nicht nur, was für die Schuld eines Tatverdächtigen spricht, sondern auch, was für dessen Unschuld oder eingeschränkter Schuld spricht. Und am Ende gilt: in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Aktuell ist der Tatverdächtige trotz Haftbefehls wieder unter Auflagen auf freiem Fuß – warum, konnten wir heute nicht mehr recherchieren.
Ebenso unklar ist, warum sich der Tatverdächtige einen Tag nach der ZDF-Sendung freiwillig gestellt hat und ob er sich „reuig“ zeigte. Möglicherweise wusste er bis Mittwoch, Donnerstag gar nicht, welche Folgen die Auseinandersetzung genommen hat. Nicht jeder liest Internet oder Zeitung, um sich über das öffentliche Geschehen in einer Stadt zu informieren. Hat der mögliche Täter nichts von den Folgen gewusst, war er auch nicht auf der Flucht oder hat etwas zu vertuschen versucht – dann wusste er es einfach nicht.
Kriminelle stellen sich eher selten freiwillig
Wer sich intensiv mit Tätern und Täterverhalten beschäftigt, weiß, dass es eher außergewöhnlich ist, dass sich ein Krimineller selbst stellt, wenn er nicht befürchten muss, ermittelt zu werden. Möglicherweise war sich der Tatverdächtige einer möglichen Schuld bewusst und hat sich gestellt, bevor die „Zeugenaussagen“ zu seiner Verhaftung geführt haben – wenn dem so sein sollte, ist er dem Druck erlegen. Möglicherweise wusste er aber auch nichts und hat sich selbst gestellt, weil er eben kein Krimineller ist, sondern in eine Auseinandersetzung verwickelt war, deren Ausgang er nicht beabsichtigt hat und sich nun den Behörden stellt, um Schuld oder Unschuld feststellen zu lassen. Ein „Killer“, wie die Bild-Zeitung schreibt, verhält sich so ganz sicher nicht.
Tatsache ist auch: Der Mann ist zunächst ein Tatverdächtiger. Erst, wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, wird er zum Beschuldigten. Und erst, wenn er rechtskräftig verurteilt wird, ist er ein Täter. Der Rechtsstaat funktioniert so und nicht anders. In der Öffentlichkeit wird allein der Verdacht fiel zu oft in eine Feststellung uminterpretiert. Vorverurteilungen sind aber alles, nur kein Rechtsstaat.
Eltern – passt auf eure Söhne auf
Wichtig ist ein Hinweis an Eltern junger Männer, denn ganz überwiegend sind junge Männer „Täter“: In den seltensten Fällen werden Menschen bei Körperverletzungsdelikten tatsächlich „tot geprügelt“, wie das die Bild-Zeitung wieder einmal in diesem Fall falsch behauptet.
Tatsache ist, dass es immer wieder zu tödlich endenden Körperverletzungen kommt, bei denen es keine unmittelbare Tötungsabsicht gibt. Bundesweit bekannt ist der Fall der 22-jährigen T. aus Offenbach. Auch sie erlitt lebensgefährliche Verletzungen, weil der später zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilte Täter ihr einen Faustschlag versetzt hatte. Auch sie stürzte ungebremst auf den Boden und zog sich dadurch massive Kopfverletzungen zu.
Was ist Körperverletzung mit Todesfolge?
Es muss kein Faustschlag sein, es reicht ein Stoß, ein Beinfeger – wer aus dem Stand stürzt und ungebremst mit dem Kopf auf Steinplatten aufschlägt, zieht sich meist schwerste und durchaus tödliche Verletzungen zu. Häufig sind die Opfer zunächst nur benommen und später wieder ansprechbar – aber in unmittelbarer Todesgefahr, weil wie im Fall des Rentners die tödliche Hirnblutung erst einige Zeit später eintritt. Und das selbst bei einer medizinischen Versorgung eine solche Verletzung einen tödlichen Verlauf nehmen kann, ist leider beim 68-jährigen Opfer eingetreten.
Körperliche Auseinandersetzungen bergen anders als im Actionfilm immer erhebliche Gefahren. Das gilt auch für den Sport. Boxer treffen sich über zwölf Runden oft weit über einhundert Mal. Wenn es richtig zur Sache geht auch heftig am Kopf und dabei „gehen sie auch zu Boden“. Der große Unterschied zum Straßenkampf – das sind trainierte Athleten, die mit gepolsterten Fäusten Boxen und auf einen Schwingboden fallen, der enorm viel Energie absorbiert. Doch auch im Ring birgt ein echter K.o.-Schlag ein enormes Verletzungsrisiko, wenn der Boxer ungebremst auf den Kopf aufschlägt.
Strafe kann man absitzen – Schuld bleibt und wer nie vergibt, leidet ewig
Wenn ein Mensch infolge einer solcher Auseinandersetzung fürs Leben gezeichnet oder gar tot ist, greift der Rechtsstaat und urteilt den Täter aufgrund von Beweisen ab. Dieser verbüßt eine wie auch immer geartete Strafe. Diese ersetzt aber nie das Leid des Opfers und der Angehörigen. Und so schwer das auch zu verstehen sein mag – wer niemals vergibt, dessen Leid wird auch niemals enden.
Straftaten kann man niemals ungeschehen machen – darüber sollte sich jeder im Klaren sein. Vor einer Tat. Hinterher ist es zu spät.
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