Mannheim, 02. November 2016. (red/ric) Am Anfang stand die Entscheidung des Bundesrats die EU-Verordnung zur Abfall-Änderung umzusetzen. Seit dem 01. Oktober gilt der mit dem flammhemmenden Mittel HBCD versetzte Dämmstyropor als gefährlicher Müll und muss getrennt entsorgt werden. Das zuvor praktizierte Verbrennen mit normalem Müll ist nun nicht mehr möglich. Was dem Naturschutz dienen sollte, verkehrt sich aktuell ins Gegenteil. Die meisten Entsorger weigern sich den Sondermüll anzunehmen, da ihre Hausmüllverbrennungsanlagen keine Zulassung zur Entsorgung des gefährlichen Mülls besitzen. Somit kann der Dämmstyropor weder verbaut noch abgerissen werden, da die Entsorgung nicht gewährleistet ist. Die Folge: Baustopps, sowie eine mögliche Kostenexplosion für Hausbesitzer, welche die problematische Entsorgung des Mülls bezahlen müssen.
Von Riccardo Ibba
Was war es in der Vergangenheit einfach mit HBCD versetztes Dämmmaterial zu entsorgen. Und günstig. Das Zeug wurde einfach zur Müllverbrennungsanlage geschafft und dort mit anderen Abfällen verbrannt. Für eine Tonne wurden 80-100 Euro fällig, damit war das Thema durch. Für die Bürger, die Bauunternehmen sowie die Entsorgungsbetriebe.
Eine Entscheidung – viele Probleme
Seit dem 01. Oktober, auf Grund der Entscheidung des Bundesrats die EU-Verordnung zur Abfall-Änderung, stehen die Bundesländer vor gewaltigen Problemen.
Am einfachsten wäre es, die Landesministerien würden zur alten Regelung zurückkehren. Auch das Bundesumweltministerium befürwortet diese Möglichkeit. Dazu müsste der Bundesrat die gefassten Beschlüsse jedoch zurücknehmen.
Die Bereitschaft hierzu scheint aktuell (noch) nicht ausgeprägt zu sein, anstatt einen Fehler zu korrigieren, wird an dem hausgemachten Problem weiter herumgedoktert. Am Ende könnte ein veritabler Umweltskandal stehen.
Deutschland im Herbst 2016. Wer aktuell sein Haus vor dem bevorstehenden Winter mit Dämmplatten isolieren will, hat schlechte Karten.
Da die meisten Müllverbrennungsanlagen, die neuerdings als gefährlichen Müll klassifizierten Platten nicht annehmen, herrscht vielerorts ein Baustopp auf Baustellen, meint der Landesinnungsverband des Dachdeckerhandwerks Baden-Württemberg. Besonders prekär soll die Lage in Rheinland-Pfalz sein.
Die Bauunternehmen folgen einer einfachen Logik. Baumaterial, das nicht entsorgt werden kann, wird weder verbaut noch abgerissen.
7.000 Euro statt 100 Euro
Doch auch wer bereits gebaut hat und noch HBCD kontaminiertes Styropor entsorgen will, hat ein Problem. Da kaum ein Entsorgungsbetrieb die Platten annimmt, sind die Kosten für die Verbrennung explodiert. Normaler Sondermüll schlägt mit 2.000 Euro pro Tonne zu Buche, während für den neu deklarierten Sondermüll etwa 7.000 Euro pro Tonne berappt werden müssen. Tendenz eher steigend, wie aus Branchenkreisen der Abfallwirtschaft zu hören ist.
Die unmittelbare Folge: Nicht entsorgter Müll wird zur Gefahr für die Umwelt. Das giftige HBCD (Hexabromcyclododecan) ist wasserlöslich und kann vom Regen aufgeweicht im Boden versickern.
Nicht minder übel sieht die Lage bei den Entsorgungsbetrieben aus, die bereits am Rande ihrer Kapazitäten angelangt sind.
Früher gab es drei Möglichkeiten HBCD-haltige Stoffe zu entsorgen. Die öffentlichen oder privaten Abfall-Unternehmen verbrannten, vermischt mit normalem Müll die HBCD Stoffe. Die Zementwerke dienten als dritter Abnehmer. Auch sie vermischten verschiedenes Material. Da die Zementwerke keinen Sondermüll verarbeiten dürfen fallen sie nun weg. Damit ist eine Säule der Entsorgung von HBCD Material komplett weggebrochen.
Da die öffentlichen Müllbetriebe zumeist keine Genehmigung zur Verbrennung von Sondermüll besitzen und dieser auch nicht auf Deponien gelagert werden darf, bleiben nur noch die privaten Unternehmen als Entsorger übrig.
Verbrennung übergangsweise “geduldet”
Diese können jedoch zur Annahme des bedenklichen Materials nicht gezwungen werden, hier herrscht im Rahmen der Abfallverordnung die freie Marktwirtschaft.
Das grün-schwarze Umweltministerium Baden-Württemberg hat nun auf den Entsorgungsengpass mit einem Erlass reagiert. Dieser wird unter dem Aktenkennzeichen 25-8973.10/35 geführt.
Sowohl die öffentlichen wie auch privaten Hausmüllverbrennungsanlagen können eine förmliche Zulassung zur Entsorgung des gefährlichen Mülls beantragen. Bis über den Antrag entschieden ist, wird die Verbrennung von HBCD “geduldet” – erstaunlich, dass ausgerechnet eine grün geführte Landesregierung diesen Weg geht.
Von Seiten der Mannheimer MVV AG heißt es beispielsweise, das Umweltministerium Baden-Württemberg arbeite derzeit an einer ganzheitlichen Lösung für die umweltverträgliche Entsorgung HBCD-haltiger Baustoffe im Land. Das Ministerium sei dazu im Gespräch mit den zuständigen Behörden, Verbänden und Unternehmen. Das Ministerium habe angekündigt, den entsprechenden Erlass kurzfristig zu überarbeiten:
Lediglich für Chargen, die maximal fünf Volumenprozent HBCD-haltigen Dämmplatten enthalten, wurde bereits festgelegt, dass diese weiterhin in Hausmüllverbrennungsanlagen entsorgt werden können. Daher nimmt MVV in Mannheim derartige Chargen, die nicht mehr als 0,5 m³ pro Tonne enthalten, zur Entsorgung an. Weitere Entscheidungen sind noch nicht gefallen.
Mülltourismus?
Solange nicht alle Bundesländer und Kommunen einheitliche Regeln befolgen, hängt der “Mülltourismus” wie ein Damoklesschwert in der Luft.
Auch hier folgt die Logik einfachen Prinzipien. Wenn Baden-Württemberg das Verbrennen von HBCD duldet, ist es wahrscheinlich, dass die umliegenden Bundesländer ihren Sondermüll dort hinbringen, wo die Entsorgung möglich ist. Auch nach Baden-Württemberg.
Das totale Chaos wäre vorprogrammiert, die hiesigen Betriebe hätten Schwierigkeiten ihrem öffentlichen Auftrag zur Müllentsorgung nachzugehen, dank riesiger Staus voller Lkws aus aller Herren Länder, beladen mit HBCD-haltigem Styropor, vor ihren Müllverbrennungsanlagen.
Ein weiteres heißes Eisen, was keiner der Abfallentsorger anpacken will, sind mögliche Debatten mit aufgebrachten Bürgern. Die gleichzeitige Verbrennung von normalem und als gefährlich deklarierten Müll ist schwer vermittelbar. Sondermüll muss nunmal getrennt entsorgt werden.
Zudem werden Begehrlichkeiten geweckt nach dem Motto – wenn dieser Sondermüll normal entsorgt wird, wie sieht es dann mit anderen problematischen Materialien aus?
Es steht zu befürchten, dass unter diesen Umständen die derzeitige Blockade nicht aufgebrochen wird, zulasten der Privatpersonen, der Umwelt sowie den Handwerksbetrieben.
Stattdessen könnte ein weiteres Problem auftauchen, eine kriminelle Schattenwirtschaft auf dem Abfallsektor.
Nicht nur die neapolitanische Camorra weiß, dass sich mit der Beseitigung von Abfällen gutes Geld verdienen lässt. Bedingt durch den aktuellen Notstand in Deutschland, könnten Kriminelle versuchen eine Infrastruktur aufzubauen, um den gefährlichen Müll illegal zu entsorgen, fürchtet ein Mitglied der Abfallwirtschaft, der seinen Namen aber nicht lesen möchte.
Der Sondermüll wird gegen vergleichsweise kleines Geld angenommen und im nächstbesten Wald gebunkert oder nach Afrika verschifft. Bei aktuell 7.000 Euro Kosten pro Tonne ein mehr als lukratives Geschäftsmodell.
Wird der Beschluss wieder rückgängig gemacht?
Um dem HBCD-Entsorgungsnotstand entgegenzutreten, sind die Abfallbetriebe im permanenten Austausch mit den jeweiligen Landesregierungen, um Lösungen für die Zukunft zu präsentieren. Bislang erfolglos.
Der Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung hat sich zuletzt wieder direkt an die zuständigen Landesministerien gewandt, mit dem Vorschlag die vorgenommenen Änderungen der Abfallverzeichnisverordnung (AVV) rückgängig zu machen.
Dieser Vorschlag entspricht dem Regierungsentwurf zur Novellierung der Abfallverzeichnisverordnung, in dem die HBCD-Abfälle als nicht gefährlich eingestuft sind. Die öffentlichen Entsorgungsträger haben sich dem Antrag angeschlossen.
Auch das Bundesumweltministerium, unter Federführung von Ministerin Barbara Hendricks (SPD), plädiert für diese Lösung.
Doch letztlich und endlich ist all die Unterstützung nicht das Papier wert, auf dem es gedruckt wird.
Ein Beschluss des Bundesrats kann nur vom selbigen rückgängig gemacht werden.