Mannheim/Berlin, 29. September 2012. (red) Aktualisiert. Der Mannheimer Schnulzen-Sänger Xavier Naidoo und der Berliner Rapper „Kool Savas“ lösen mit einem „Hidden Track“ Entsetzen aus. Das „versteckte Lied“, dessen Titel „Wo sind sie jetzt“ ist, befindet sich am Ende ihres neuen Albums „Gespaltene Persönlichkeiten“ und beschreibt nebulöse Satanssekten, die angeblich „Kinder und Babies abschlachten“. Die beiden Sänger wärmen damit „Ritualmordlegenden“ auf, die immer wieder für Pogrome gesorgt haben, vor allem an Juden und auch an Homosexuellen.
Das Lied beginnt folgendermaßen:
Ich schneide Euch jetzt mal die Arme und die Beine ab und dann fick ich Euch in’n Arsch, so wie ihr’s mit den Kleinen macht. Ich bin nur traurig und nicht wütend. Trotzdem würd‘ ich Euch töten. Ihr tötet Kinder und Föten und ich zerquetsch Euch die Klöten. Ihr habt einfach keine Größe und Eure kleinen Schwänze nicht im Griff. Warum liebst Du keine Möse? Weil jeder Mensch doch aus einer ist.
Im Refrain thematisieren die beiden „starke Männer“ und „Führer“:
Wo sind unsere Helfer? Unsere starken Männer? Wo sind unsere Führer? Wo sind sie jetzt?
Als Verantwortliche machen die Sänger blutrünstige „Logen“ und „Bruderschaften“ aus:
Wenn die Treibjagd beginnt, ziehen sie los, um zu wildern. Denn ihr Durst ist unstillbar und schreit nach ’nem Kind. Okkulte Rituale besiegeln den Pakt der Macht. Mit unfassbarer Perversion werden Kinder und Babies abgeschlachtet.
Ritualmordlegende
Wir sind auf dieses „Lied“ durch den Stadtrat Gerhard Fontagnier gestoßen, der einen Link auf Facebook dazu gepostet hat. Am Ende des Liedes gibt es einen „Einspieler“, der ein Zitat aus dem Film „Missbrauchte Kinder, gequälte Seelen“ bringt. Diese Dokumentation, die unter anderem 2003 bei N24 gesendet worden ist, ist ein 45-minütiges „Grusel-Machwerk“, das satanistische, rituelle Morde an Kindern und Säuglingen behauptet, dabei aber ohne jeden glaubhaften Beleg auskommt – bis auf einen: Das reiche Netzwerk sei so „einflussreich“, dass es alle Behörden und Instanzen der Gesellschaft kontrolliere, womit bewiesen wäre, dass täglich Kinder abgeschlachtet würden, aber niemand die „Wahrheit“ erfahren darf.
Bereits 2001 hatte der NDR den Film „Höllenqualen“ ausgestrahlt, der ähnlich verschwörerische „Tatsachen“ behauptete und mehrere Staatsanwaltschaften und die Polizei beschäftigte. Keine Behauptung ließ sich verifizieren, was in den Augen von Anhängern der Ritualmordlegende wiederum der Beweis ist, wie „einflussreich“ die Satanszirkel sind.
Gegenüber dem Radiosender FFN äußerte sich Xavier Naidoo, er sei durch den Fall „Dutroux“ auf das „Thema“ aufmerksam geworden. Den Songtext begründet Naidoo vollständig ernst:
Es gibt furchtbare Ritualmorde an Kindern, die tatsächlich ganz viel in Europa passieren, aber nie jemand drüber spricht.
Reichlich wirr. Der Kinderschänder Marc Dutroux war für den schrecklichen Tod von vier Mädchen und jungen Frauen sowie eines Komplizen verurteilt worden. „Ritualmorde“ und „Satanskulte“, Babies und Kannibalismus waren dabei kein Thema. Außer „Andeutungen“ von Dutroux über einen Pädophilen-Ring. Im „Song“ thematisieren Naidoo und Savas aber eher homosexuelle Täter: „Warum liebst Du keine Möse?“
Die Ritualmordlegende wurde überwiegend antisemtisch benutzt, auch von den Nationalsozialisten. Betreiben Xavas rechtextremistische Hetze? Was bedeutet die Frage nach den „starken Männern“ und den „Führern“ in diesem Zusammenhang?
Dumm-Kunst-Selbstjustiz
Zum Posting von Gerhard Fontagnier und auf anderen Seiten gibt es mittlerweile zahlreiche Kommentare, die von „dümmer geht’s nicht“, über „das ist Kunst“ bis hin zu „Für Vergewaltiger Todesstrafe und Foltern!“ reichen. Soll man so ein Lied einfach als Blödsinn abtun? Ist der Aufruf zur Lynchjustiz noch „Kunst“? Oder muss man es ernst nehmen und dagegen vorgehen, weil sich irgendjemand berufen fühlen könnte, „Arme und Beine abschneiden“ und „Klöten zerquetschen“ ernst zu nehmen, wie auch den abstrusen Rest? Ist der Text blödsinniges Geblubber oder gefährliche Hetze? Im Frühjahr 2012 hatte der Fall eines Lynchaurufs gegen einen mutmaßlichen Mörder den Mob in Emden auf die Straße gebracht – der Verdächtige war unschuldig. Oder ist es eine Marketing-Maßnahme, um mit gefährlich, dunklen Andeutungen das Geschäft anzukurbeln?
Interview
Herr Fontagnier, was war ihr erster Gedanke, als Sie das Lied gehört haben?
Gerhard Fontagnier: Ich habe zuerst den Verriss in der Welt gelesen. Dann dachte ich: kann das wahr sein? Ich suchte dann im Internet und hab‘ den „Hidden Track“ „Wo sind sie jetzt“ als Clip gefunden. Der Text wurde tatsächlich von der „Welt“ korrekt zitiert.
Wie beurteilen Sie den Songtext?
Fontagnier: Mit diesem Text haben Kool Savas und Xavier Naidoo nicht nur die Grenze des guten Geschmacks überschritten. Wer das Abschneiden von Armen und Beinen propagiert, scheint geistig im Mittelalter verblieben zu sein. Homophobe Sprüche und der Ruf nach den starken Männern und Führern liegen dann geschichtlich eher in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ehrlich: Der Text gruselt mich!
Was gruselt Sie als Mannheimer und als Stadtrat an dem Lied besonders?
Fontagnier: Es regt mich besonders auf, wenn ich mir vorstelle, wieviele Menschen den Sohn Mannheims gut finden oder gar zum Vorbild haben. Es regt mich auch auf, wenn man bei den Online-Diskussionen meine Kritik an dem Text damit abwiegelt, indem man mir sagt, ich hätte keine Ahnung vom Rap. Mag stimmen, dass ich keine Ahnung von Rap habe, aber soll ich deswegen die Texte nicht mehr ernstnehmen? Falls der Hidden Track mit dem gruseligen Text „nur“ ein Marketing-Gag sein soll, regt mich dies allerdings noch mehr auf, denn dann geht es nur darum noch mehr Platten zu verhökern und die Grenzüberschreitung dafür einzusetzen. Was soll das für ein Vorbild sein?
Haben Sie vor, etwas gegen das Lied zu unternehmen?
Fontagnier: Ich habe die Information an die Presse weitergegeben und hoffe es wird darüber offen diskutiert. Ein Versuch den Song auf den Index zu setzen zu lassen, würde vermutlich das Gegenteil bewirken.
Sie haben sich bei Facebook mit Kommentaren bereits geäußert. Wie waren die Reaktionen?
Fontagnier: Die Reaktionen auf meinen Post auf Facebook gingen in beide Richtungen. Die meisten waren ebenfalls entsetzt über diesen Liedtext. Aber auch Fans von Xavier Naidoo haben sich mehrfach zu Wort gemeldet und den Song und seine Urheber verteidigt. Es blieb auch dort die Frage: „Ist das Kunst oder kann das weg?
Aktualisierung: Xavas haben gestern in Berlin den 8. Bundesvision Song Contest mit ihrem Titel „Schau nicht mehr zurück“ gewonnen. Ziel des von Stefan Raab initiierten „Wettbewerbs“ ist die Förderung des deutschsprachigen Kulturguts. Vom Publikum ernteten sie Buh-Rufe.
Weitere Artikel:
Mannheimer Morgen: Freie Fahrt für Xavas
Altgedienten Anhängern werden auch die harten Töne über Ritualmorde an Kindern nicht fremd sein, die Xavas in einem versteckten Track nach dem Schlusssong „Lied vom Leben“ anschlagen.
Regioactive: Kontroverser Hidden Track im Netz aufgetaucht.
Hierbei mischt sich einiges, das jeweils für sich alleine genommen schon krude genug wäre: Eine Verschwörungstheorie über Ritualmorde. Homophobie. Der Ruf nach einer Führerpersönlichkeit. Androhung von Verstümmelungen. Esoterik trifft auf offensichtlich fehlenden Hirnschmalz trifft auf Steinzeit.
Rap.de: Hebe Dich hinweg, Satan
Befasst man sich zudem etwas näher mit dem Thema, so stößt man auf allerlei fragwürdige Verschwörungsblogs, darunter auch solche, die beispielsweise auch der Hohlwelttheorie anhängen, sowie eine sehr reißerisch gemachte Doku. Zudem ist die Ritualmordlegende keineswegs neu, bereits in der Antike und im Mittelalter wurden bestimmte Völker und/oder Glaubensgemeinschaften mit dem Vorwurf belegt, zu rituellen Zwecken Kinder zu töten. Man fragt sich, warum die beiden sich nicht stattdessen greifbareren und gesellschaftlich drängenderen Problemen widmen. Und wenn es schon unbedingt um Kinderficker gehen muss – wie wäre es denn mal mit einem Song über die Vorliebe vieler deutscher Rapper für minderjährige Groupies?
Queer.de: Schwule Verschwörungstheorien (mit über 140 Kommentaren, Stand: 29.09.2012, 15:00 Uhr)
Naidoo, der als Neunjähriger selbst einmal Missbrauchserfahrungen durch einen Angestellten der Familie erleben musste, hat sich bereits auf seinem letzten Studioalbum mit dem Thema befasst. Im versteckten Song gehe es aber konkret „um furchtbare Ritualmorde an Kindern, die tatsächlich ganz viel in Europa passieren, über die aber nie jemand spricht, nie jemand berichtet.“ Das Problem scheint tatsächlich so ungeheuer eminent und zugleich so maximal geheim zu sein, dass einem unter dem Stichwort „Ritualmorde an Kindern“ in den Suchmaschinen ausschließlich krude Seiten mit Verschwörungstheorien empfohlen werden.
Welt.de : Kool Savas und Naidoo sind kongenial humorlos
Wir versuchen zusammenzufassen: Schwule Kapitalisten entwickeln unter dem Eindruck der Macht eine unbändige Lust, Kinder abzuschlachten, und schließen sich zu diesem Zweck zu Geheimgesellschaften zusammen. Verzweifelt erhebt Naidoo seine Stimme: „Wo sind unsere starken Männer, wo sind unsere Führer, wo sind sei jetzt?“ Ist es nicht süß, wie bei Naidoo Homophobie mit der Sehnsucht nach einer starken männlichen Schulter einhergeht?