Mannheim/Rhein-Neckar, 26. Oktober 2015. (red) Fünf Monate hat die Journalistik-Studentin Shannon Broderick in Mannheim verbracht – ihr Porträt über diese Stadt, in die man sich erst auf den zweiten Blick verlieben kann, hat bereits über 14.000 Facebook-Likes. Kein Wunder – erzählt sie doch schonungslos ihre Eindrücke, um am Ende in einem Satz eine Liebeserklärung auszusprechen, wie sie schöner nicht sein könnte. Wir haben den Text für unsere Leser/innen aus dem Englischen übersetzt. Der Artikel ist zuerst im Amherst Wire erschienen.
Text und Fotos: Shannon Broderick
Mein erster Eindruck von Mannheim war nicht vielversprechend.
Als ich mich um ein Auslandsstudium in Deutschland bewarb, sah ich vor meinem geistigen Auge eine Stadtkulisse mit Hinterhöfen und Kopfsteinpflaster, Fachwerkhäusern und ehrwürdigen Statuen. Selbst als mich die Leute warnten, dass Mannheim nicht gerade der malerischste Ort sei, blieb ich hartnäckig hoffnungsvoll. Wie hässlich, dachte ich, könnte eine europäische Stadt denn tatsächlich sein?
Wie es sich herausstellte, hat Mannheim den Ruf, die zweithässlichste Stadt Deutschlands zu sein. Es gibt hier keine verzierten Fassaden oder gewundene Gässchen; stattdessen prägen trostlose Wohnblocks und abgenutzte Güterwagons das Bild. Kräne recken sich hoch in die Luft und Chemiefabriken stehen dichtgedrängt am Rheinufer.
Das Stadtzentrum, das nach dem zweiten Weltkrieg fast vollständig wieder aufgebaut werden musste, ist ein Mischmasch aus verputzten Gebäuden, überwiegend im postmodernen Stil gehalten; schlichte Fassaden, große rechteckige Fensterfronten und matte Farben dominieren. Selbst TripAdvisor, wo es oft hunderte oder tausende Empfehlungen für eine einzige Stadt gibt, scheint in Bezug auf Mannheim eher sprachlos zu sein; es finden sich nur fünf Attraktionen, die als besuchenswert gelten.
Aber trotz der fehlenden Anmut war dieses “hässliche Entlein” Süddeutschlands der beste Ort, den ich mir für diese fünf Monate meines Lebens hätte aussuchen können.
Immerhin beheimatet Mannheim das zweitgrößte Barockschloss Europas, das jetzt die Universität beherbergt. Mannheim ist die Geburtsstadt sowohl des Fahrrads als auch des Autos; die Stadt ist Mitglied im UNESCO Creative Cities Network. Unter der schlichten Oberfläche liegt eine reichhaltige Geschichte voller Musiker, deutschem Adel und großen Erfindungen.
Von der Schlossruine in Heidelberg, der Frankfurter Skyline und dem mächtigen Speyrer Dom überschattet, ist Mannheim fast frei von Touristen. Die Stadt nutzt keine Werbegags: keine Souvenirläden, die Kalender oder geprägte Löffel feilbieten, keine Bedienungen in Lederhosen, die einen auffordern, ihr “authentisch bayerisches Restaurant” zu betreten.
Stattdessen haben meine Freunde und ich im grell beschilderten Discounter in derben Straßen eingekauft. Wir haben Döner in kleinen türkischen Gaststätten bestellt und billige Currywurst im punkigen und völlig überfüllten Café Vienna gegessen.
Wir haben mit der deutschen Bürokratie gekämpft, indem wir Termine ausmachten, um Termine auszumachen, und beklagt, dass in Banken, Behörden und Bahnstationen niemand Englisch sprach. Und überall hin fuhren wir mit der Straßenbahn und dem Bus, wenn wir auf dem Weg zu unseren Kursen die Stadt durchkreuzten.
Selbst auf die Gefahr hin, vollständig klischeehaft zu klingen: Ich hatte das Gefühl, dass Mannheim mir erlaubt hat, das “echte” deutsche Leben zu erleben. Ohne Horden von überdreht-vergnügten Besuchern in den Hauptstraßen waren es die kleinen, schönen, alltäglichen Momente, die mir aufgefallen sind und an die ich mich selbst Monate später noch erinnere.
Wenn ich an Mannheim denke, denke ich an eine dunkle Straße, nur aus einem einzigen Fenster beleuchtet, hinter dem ein Paar in seinem Wohnzimmer langsam Walzer tanzt; an eine abgekämpfte Frau in Zimmermädchen-Kluft, die auf einem Wischmopp lehnt und ihre Zigarette mit tiefen Zügen raucht. Alte Männer, die spät in der Nacht im Döner-Imbiss um die Ecke leicht schief auf Türkisch singen; kichernde Schulkinder in der Straßenbahn auf dem Nachhauseweg.
In den wärmeren Monaten sah das Freibad aus wie ein Gemälde von Seurat, mit Familien auf dem grünen Rasen, bunte Sonnenschirme wogen leicht im Wind. Und abends die lebhafte Unterhaltung der Taxi-Fahrer in ihren zerknitterten Hemden neben ihren Taxis unter dem weichen Licht der Straßenlaternen.
Wenn man an einem Ort lebt, der als eher unansehnlich beschrieben werden kann, lernen die Augen, anders zu sehen. Man sucht weiter und tiefer nach Schönheit – und man findet sie an den merkwürdigsten Orten.
Während das Semester voranschritt, wurde mir das immer deutlicher. Mein Studentenwohnheim war von Bauvorhaben und von atemberaubenden Sonnenuntergängen umgeben, die für mich nie Gewohnheit wurden. Hinter großen Wohnanlagen verstecken sich Schrebergärten und Hinterhöfe, gewundene Wege und kleine Flächen mit baufälligen Hütten und dichtem Efeu.
Und der Jungbusch, ein Stadtquartier in der Nähe, war einer dieser leicht verfallenen, leicht gefährlichen Orte, der sich dank schnuckeliger Straßenkunst und Hipster-Bars langsam aber sicher einer Yuppifizierung unterzog.
Jedes Mal, wenn ich weg war, atmete ich erleichtert auf, wenn mein Bus wieder am Busbahnhof einfuhr, so froh, diese immer gleichen trostlosen Wohnblocks und abgenutzten Schienenfahrzeuge zu sehen, die mich ursprünglich in Panik versetzt und mich meine Wahl des Auslandsstudiums hatten anzweifeln lassen. Prag, Berlin, Madrid… Mit Mannheim können sie alle nicht mithalten.
Mannheim war Heimat.
Die Autorin: Shannon Broderick (21) studiert Journalistik an der University of Massachusetts Amherst und wird ihren Abschluss im Mai 2016 machen – Ihr Berufsziel ist, als Journalistin für eine Zeitung oder ein Online-Medium zu arbeiten. Sie verbrachte ein Auslandssemester in Mannheim – und fand eine zweite Heimat. Hier kann man ihr auf Twitter folgen. Kontakt: sbroderick@umass.edu
Übersetzung: Besten Dank an Rebekka Schmitt-Illert.
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