Rhein-Neckar/Mannheim/Heidelberg, 22. Mai 2011. (red) An der Heidelberger Universität sprach Thilo Sarrazin vor 400 Zuhörern – der Saal war bis zum letzten Platz gefüllt. Eingeladen hatte der Heidelberger Club für Wirtschaft und Kultur e. V. (HCWK). Ende Juni soll Sarrazin in Mannheim einen Vortrag über seine Thesen zur Integration halten – auf Einladung der Wirtschaftsjunioren Mannheim-Ludwigshafen. Dahinter stehen Mannheimer Unternehmen, die IHK, der Verband Metropolregion Rhein-Neckar als Partner und als Sponsor die Firma CEMA AG – in deren Aufsichtsrat sitzen der frühere MVV-Chef Roland Hartung (CDU) und der frühere Hochschulrektor Dietmar von Hoyningen-Huene.
Von Hardy Prothmann
Der Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz muss stinksauer sein. Freiwillig schreibt ein Mann in seiner Position sicherlich keine Pressemitteilung, in der er der Öffentlichkeit mitteilt, dass er „persönlich enttäuscht“ von jemandem ist. In diesem Fall von den Wirtschaftsjunioren Mannheim-Ludwigshafen.
„Die Thesen Thilo Sarrazins wurden in allen Medien bereits ausführlich dargestellt, er kam dort ausführlich selbst zu Wort, und die Thesen wurden von allen Migrationsforschern im Kern widerlegt“, schreibt Peter Kurz. Es gebe keinen Bedarf für eine weitere Auseinandersetzung mit den undurchdachten und ungenauen Thesen, und vor allem nicht für eine einseitige Präsentation durch den Autor selbst.
Damit hat der engagierte Bürgermeister sicherlich recht. Die Thesen des Politprovokateurs Sarrazin sind seit gut einem Jahr öffentlich, zuhauf abgebildet, besprochen und vor allem bei den „widerlichen“ Schlussfolgerungen widerlegt.
Auflagenmillion durch politischen Schaden.
Irgendeine positive, gestalterische Folge für die Gesellschaft hatten der Autor, seinen Thesen und sein Buch nicht. Das sollten sie auch nicht haben. Je größer der Streit wogte, umso besser verkaufte sich das Buch des Ex-Bundesbankers, der mehrmals in seiner beruflichen Vergangenheit im Streit ging und auf Abfindungen klagte. 1,25 Millionen Exemplare sind über die Ladentheken gegangen. Und Thilo Sarrazin ist ein bekannter Mann geworden. Und so viele Leser sind eine Bestätigung: Dass es da draußen sehr viele Menschen gibt, die ähnlich denken wie er: „Deutschland schafft sich ab.“ „Deutschland wird dümmer – wegen der integrationsunwilligen Ausländer, die Kopftuchmädchen produzieren.“
Es passiert selten, dass ein fachfremder Autor eine solche Aufmerksamkeit erlangt. Wenig erstaunlich ist, dass „die Wirtschaft“ sich für Thilo Sarrazin interessiert, immerhin ist er Volkswirt. Höchst erstaunlich ist, dass Wirtschaftsverbände sich für sozialdarwinistische Thesen eines einzelnen Mannes interessieren, der sich beliebig bei Biologie, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften, Medizin und Geschichte bedient, um daraus höchst fragwürdige Schlüsse zu ziehen.
Getarnte Stammtisch-Demagogie.
Interessant ist, wie einfach der „Erfolg“ zu erklären ist. Thilo Sarrazin entwirft in einer Phase großer wirtschaftlicher Probleme ein Szenario, das sehr antagonistisch angelegt ist: Wir hier oben, die da unten, Leistung vs. Leistungsempfänger, Intelligenz vs. Armut, Deutschsein vs. Ausländersein, Kinderarmut vs. Kinderreichtum, christlich vs. muslimisch.
In Zeiten wirtschaftlicher Prosperität und ohne seine „hervorragende“ berufliche Stellung wäre Thilo Sarrazin nicht mehr als ein nölender Stammtisch-Hetzer gewesen.
Doch die Umstände waren und sind günstig. Der Mannheimer Grünen-Stadtrat Gerhard Fontagnier nennt Thilo Sarrazin einen „populistischen und pseudowissenschaftlichen Salon-Rassisten“. Das Unternehmen CEMA AG äußerte sich laut Rheinneckarweb (einer Internetseite, die gemeinsam (sic!) von der „unabhängigen“ Zeitung Die Rheinpfalz und der BASF betrieben wird): „Das -€hohe Interesse an der Veranstaltung-€ zeige den -€Bedarf an einer Auseinandersetzung mit dem Autor und dem Thema-€.
Cui bono? – Wer verspricht sich einen Nutzen?
Es gibt tatsächlich einen hohen Bedarf an Auseinandersetzung. Vor allem in der Hinsicht, dass man das Unternehmen CEMA AG fragen muss, wieso man einen „Theoretiker“ unterstützt, vom dem sich die Bundesbank getrennt hat, weil sie einen Imageschaden fürchtete.
Von Seiten des ehemaligen MVV-Chefs Roland Hartung (CDU) kann man sich das denken: Der gescheiterte Rauswurf Sarrazins aus der SPD ist eine willkommene Vorlage, um die SPD noch mehr zu beschädigen, als sie das selbst schon getan hat. Und dieser Fehler wird konsequent genutzt – umso konsequenter als man selbst verliert, nicht nur in Baden-Württemberg, sondern allgemein, wenn man sich die vergangenen Wahlen anschaut, aktuell in Bremen.
Dass auch ein renommierter Professor wie Dietmar von Hoyningen-Huene als Aufsichtsrat der CEMA dieses Spiel mitmacht, ist verwunderlich, aber vielleicht hat auch Herr von Hoyningen-Huene gewisse Interessen. Ob die CEMA AG und der Vorstand Thomas Steckenborn durch diese Art von „PR-Leiharbeiter“ gut beraten ist, für die sie als Sponsor auch Geld bezahlt, darf bezweifelt werden. Mindestens „verschleiert“ ist dieser Satz der Wirtschaftsjunioren in der Programmankündigung: „Bei allen hitzigen Diskussionen rät die muslimische Soziologin Necla Kelek jedoch, nicht den Autor zu verteufeln, sondern die Thesen von Thilo Sarrazin zu Bildung und Zuwanderung zu diskutieren.“ Hier wird so getan, als seien selbst Muslime bereit, Sarrazin Thesen ernst zu nehmen. Frau Kelek ist eine bekannte Islam-Kritikerin – darüber wird aber nicht informiert.
Warum nicht?
Auch die Wirtschaftsjunioren und die IHK müssen sich fragen lassen, welches Interesse sie an den „Thesen“ von Thilo Sarrazin haben.
Ebenso der Verband Metropolregion Rhein-Neckar, der schließlich Partner der Wirtschaftsjunioren ist. Dahinter stehen große Unternehmen wie die BASF, Daimler AG oder SAP.
Scheinbares „Problembewusstsein“.
Aber auch die Bürgermeister der größeren Städte im Raum. Mannheims OB Peter Kurz ist der erste und einzige, der sich offen gegen einen „Auftritt“ von Thilo Sarrazin stellt. Sarrazin ist schon zwei Mal in Heidelberg aufgetreten – weder der Rektor der Universität Heidelberg, Bernhard Eitel, noch OB Eckart Würzner (parteilos, aber zweifelsfrei CDU-nah) haben sich geäußert.
Die 40-jährige Geschichte von Ausländern in Deutschland und der Stand der Integration ist ernüchternd. Es gibt tatsächlich viele Probleme, die Thilo Sarrazin auch zum Teil „treffend“ benennt. Aber diese Probleme sind Teil der politischen Verantwortung aller Parteien, die nicht genug getan haben, um eine möglichst große „Integration“ zu erreichen, Teil der Verantwortung der deutschen Bevölkerung, sicher auch Teil der Verantwortung der ausländischen Bevölkerung. Und ganz sicher auch Teil der Verantwortung der deutschen Wirtschaft.
Emigration statt Integration.
Wer die Stellung der Frau in islamischen Kulturen kritisiert, sollte erstmal vor der eigenen Haustür kehren und sich fragen lassen, wie es denn um die (Gleich-)Stellung der Frauen in deutschen Wirtschaftsunternehmen bestellt ist? Wenn man sich dieser Frage offen stellt, kann man weiterfragen, wie es um die Stellung von Menschen mit Migrationshintergrund in deutschen Unternehmen bestellt ist? Die Abwanderung von gut ausgebildeten türkischstämmigen Ingenieuren, Juristen, Betriebswirten, Ärzten ist seit Jahren zu beobachten. Sie gehen zurück in eine Heimat, die Ausland ist, aber eines, in dem sie Chancen haben und respektiert werden.
Viele deutsche Unternehmer lassen sich die Augen lasern oder die Zähne richten – in der Türkei. Von akzentfrei deutsch sprechenden türkischen Ärzten, die in Deutschland sehr gut ausgebildet sind und für ein Viertel der Kosten bei sehr gutem Service ihre Arbeit verrichten – nicht, um maximalen Gewinn zu erzielen, sondern anständige Honorare und eine Wertschätzung zu erhalten, die ihnen in ihrer Heimat Deutschland fremd sind.
Vorteilswirtschaft.
Die Türkei ist eines der liebsten Reiseziele der Deutschen – weil es nicht teuer ist und man sich auf die deutschen Gäste „eingerichtet“ hat. Ebenso die arabischen Länder Nordafrikas.
Und Teile der deutschen Wirtschaft, also der „Intelligenz“ und der „Leistungselite“, feiern Sexparties in Südamerika, Ungarn oder welcher im Ausland organisierte Puff halt gerade angesagt ist. Übrigens: Auch hier werden die Frauen durch die deutsche Wirtschaft benachteiligt. Bumsparties für Managerinnen sind noch nicht ruchbar geworden – vielleicht, weil sich mangels hochrangigen Managerinnen die Organisation nicht lohnt?
Deutsche Unternehmen wie SAP haben überhaupt keine Probleme mit Ländern, in denen viele „Kopftuchmädchen“ gezeugt werden – der Code für seine Software-Produkte wird zu einem großen Teil in Indien produziert. Von nicht-lernbereiten Idioten? Die Inder wiederum kommen nicht gern nach Deutschland – too much bad news.
„Good-news“ sind Nachrichten über neue Produktionsstandorte deutscher oder westlicher Unternehmen im Ausland. Nicht, um dort Wohlstand zu schaffen, Bildung zu etablieren und politische Systeme zu stabilisieren. Es sind Kostengründe. Der Umzug von Produktionen kostet in Deutschland Arbeitsplätze – vor allem im Bereich der wenig qualifizierten Stellen.
Gleichzeitig zahlen immer mehr deutsche Unternehmen derartige Hungerlöhne, dass der Staat mit „Aufstockungen“ aushelfen muss und spätestens bei der Rente den Grundbedarf sichern muss, weil 40 oder 50 Jahre Arbeit nicht reichen, damit „die Rente sicher ist“.
Ehrenwerte Gesellschaft.
Beim Edel-Italiener, beim angesagten Thai oder Vietnamesen oder Inder oder… trifft sich die Wirtschaftselite, um stilvoll neue Projekte zu besprechen. Frisch motiviert durch asiatische Kampfkunstlehrer, Personal-Trainer, durch Feng-Shui, Yoga oder was gerade on vogue ist. Vielleicht erzählt man sich auch gerade was über diverse Tauchgebiete in Ägypten oder neue Management-Methoden aus den USA. Der letzte Kurztripp nach Dubai oder die abgefahrene Party in Damaskus bleiben nicht unerwähnt.
In Heidelberg erhalten 27 von 28 Kindern einer Schule in der Weststadt eine Gymnasialempfehlung – klar, der Türke nicht, aber alle 27 Kinder wohlhabender Eltern. In Heddesheim rät eine mittlerweile pensionierte Lehrerin türkischen Eltern ihr Kind nur auf die Realschule zu schicken – wegen der Sprachschwierigkeiten der Eltern. Das Kind gehört heute zu den Leistungsbringern der Gymnasiumsklasse.
Einer der größten deutschen Saubermann-Konzerne, Siemens, musste vor nicht allzu langer Zeit ein umfassendes System aus Korruption und Wirtschaftskriminalität eingestehen. Ein Vorbild, ein „Export-Schlager“ deutscher Herkunft?
Seltsame Erwartungshaltung.
Deutschland schafft sich also ab? An wem und zu welchem Preis?
Was erwarten die Wirtschaftsjunioren Mannheim-Ludwigshafen von einem Mann wie Thilo Sarrazin? Welchen Erkenntnisgewinn verspricht man sich? Glaubt man tatsächlich, durch das Engagement eines solchen Redners „gute Kontakte“ ins Ausland knüpfen zu können? Glaubt man tatsächlich, dass das „nur“ ein „deutsches Thema“ ist. Dass in China und anderen asiatischen Staaten nicht genau beobachtet und analysiert wird, wie es mit der Kooperationsbereitschaft der „Deutschen“ bestellt ist?
Vermutet man tatsächlich, dass ein Thilo Sarrazin, der kaum in der Lage ist, sich strukturiert und nachvollziehbar zu äußern, sinnvolle und gewinnbringende Impulse setzen kann?
Oder ist das Selbstbewusstsein dieser „Wirtschaftselite“ so arg ramponiert, dass man einen wie Sarrazin braucht, um sich an dessen Thesen über die da unten wieder ganz oben zu fühlen?
Im September 2010 habe ich einen Text geschrieben, der bis heute seine Gültigkeit hat: Der Fall Sarrazin – das Dilemma kann gar nicht groß genug ausfallen. Darin verwende ich auch den Begriff „Klartext“ und hoffe, nicht die Vorlage für die Veranstaltung der Wirtschaftsjunioren gegeben zu haben.
Im Kern geht es um die Selbstentblößung einer „herrschenden Klasse“, die sich ohne Idee, ohne Intelligenz, ohne Leistungsbereitschaft den kruden Thesen eines mindestens verwirrten Populisten unterwirft. Andererseits ist es sehr begrüßenswert zu sehen, wer sich aus der Deckung wagt und einem rechtspopulistischen Theorektiker wie Thilo Sarrazin die Bühner bereitet – auch das ist ein Akt der Aufklärung.
Meinungsfreiheit, die auch ein Herr Sarrazin für sich proklamiert, ist grundgesetzlich garantiert. Und das ist gut so. Meinungsfreiheit unterscheidet aber nicht zwischen intelligenten und dummen Meinungen. Garantiert ist nur die Freiheit, irgendeine haben zu können.
Diese garantierte Freiheit der Meinung ist aus der leidvollen Erahrung des Dritten Reichs geboren worden, wo jeder, der sich frei fühlte, in Lebensgefahr war. „Logisch betrachtet“, um ein Lieblingswort von Herrn Sarrazin zu bemühen, kann also jeder, auch ein rechtspopulistischer Demagoge, diese Freiheit für sich in Anspruch nehmen, selbst wenn er an Freiheit kein Interesse hat oder seine Freiheit beschränkt sieht.
Diese Paradoxie kann sehr, sehr wütend machen.
Das große Missverständnis der Wirtschaftsjunioren ist, dass Herr Sarrazin und andere ihre kruden Thesen im Rahmen geltender Gesetze frei äußern können – aber es keine Pflicht gibt, dies zuzulassen oder sogar zu unterstützen. Wer dies tut, entscheidet sich auf frei.
Und alle anderen dürfen frei darüber denken und sagen, was sie wollen. Insofern verstehe ich den Oberbürgermeister Peter Kurz und seine „persönliche Enttäuschung“ sehr gut.
Anmerkung:
In den Jahren 1991-1994 habe ich viel über „Integration“, damals hieß das Ausländerthemen, für den Mannheimer Morgen geschrieben. Der heutige OB Peter Kurz war damals Stadtrat – ein sehr fleißiger und präsenter. Ich empfang die „Ausländerpolitik“ der Stadt unter dem früheren OB Gerhard Widder als sehr schwach und hatte als Bewohner des „Jungbuschs“ in Mannheim einen täglichen Erfahrungseinblick – auch in die journalistische Leistung des Mannheimer Morgens. Ausländerthemen waren immer „schwierige Themen“ und nicht leicht durchzusetzen. Meine zuständige Redakteurin Anke Philipp hatte es nicht leicht, meine Themenvorschläge einzubringen. Ende 1994 habe ich die Arbeit für den MM eingestellt.
Anfang 1995 habe ich einen Text für „Die Zeit“ über den Bau der Sultan Selim Moschee geschrieben: Richtung Mekka. Die angstbesetzte Debatte unterscheidet sich kaum von der heute. Bis 1997 habe ich in „Little Istanbul“ gelebt, danach in Neckarau. Seit 2005 lebe ich in Heddesheim, wo es leider kaum Ausländer gibt. Der „Grieche“ um die Ecke brummt, die deutschen Gaststätten sind nicht wirklich beliebt und machen eine nach der anderen zu.