Hemsbach, 20. Dezember 2013. (red/ld) Die Brennessel in der Landstraße 35 gibt es seit 1927. Die Menschen in der Umgebung schätzen das Kino für sein Programm, das in den vergangenen Jahren mehrfach ausgezeichnet worden ist – auch in diesem Jahr. Statt der industriellen Atmosphäre moderner Multiplex-Kinos verströmt es einen nostalgischen Charme, den es sich noch von seinen Anfängen in den 1920er Jahren bewahrt hat.
Von Lydia Dartsch
„Heute abend gehen wir in die Brennessel.“ Mit einem Satz wisse rund um Hemsbach jeder, was am Abend passieren wird, sagt Inhaber Jürgen Bieler. Er ist froh über diesen – wie er findet – ausgefallenen Namen für sein mehrfach ausgezeichnetes Programmkino an der Landstraße. Seit 86 Jahren werden hier Filme gezeigt. Im Jahr 1927 hieß es noch „Union Lichtspiele“, wie es noch heute über dem Eingangsschild in roten, verwaschenen Buchstaben steht.
Im Jahr 1982 bekam es seinen heutigen Namen „Brennessel“. Den Grund wisse er nicht, sagt Herr Bieler. Die damaligen Betreiber hätten alles anders machen wollen, sagt er: Gelangte man damals noch von der Eingangstür direkt in den Vorführraum, wurde das Kino umgebaut. Aus einem wurden zwei Kinosäle mit 45 und 120 roten Plüschsesseln. Aus einer kleinen Nische heraus werden Eintrittskarten, Getränke und Naschwerk verkauft. Der Vorraum erinnert mit einem großen Esstisch, einer Sitzecke und den dekorativen alten Filmprojektoren eher an ein Wohnzimmer und verleiht ihm einen gemütlichen Charme und Jugendstilatmosphäre. An das unangenehm juckende Kraut erinnert nichts. Jürgen Bielers Theorie:
„Brennessel“ ist wahrscheinlich aus einer saufseligen Laune heraus entstanden.
Seit 1997 führt er das Kino. Davor hat er hier neben seinem Studium als Filmvorführer gearbeitet und ist „hängengeblieben“, wie er sagt. Er schmiss das Studium und übernahm das Kino als die Vorbesitzer nicht mehr wollten. Geändert hat er den Namen nicht. „Warum auch?“ fragt er. „Brennessel“ sei schließlich einzigartig für ein Kino. In Suchmaschinen werde er sofort gefunden.
Neben der gemütlichen Atmosphäre und seiner günstigen Eintrittspreise von derzeit 6,50 Euro zeichnet sich die Brennessel vor allem durch ihr Programm aus, für das sie seit 1997 fast jedes Jahr von der MFG Filmförderung Baden-Württemberg ausgezeichnet wurde. Nur einmal habe er den Einreichungstermin verpasst, sagt Jürgen Bieler. In den vergangenen zwei Jahren wurde es auch vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) ausgezeichnet. Das Geld, das Jürgen Bieler im Zuge dieser Auszeichnungen erhält, nutze er, um das Kino zu modernisieren: Die Sessel beispielsweise oder die Projektoren.
Bei der Auswahl der Filme sind für Jürgen Bieler zwei Dinge besonders wichtig: Der Geschmack seines Publikums und sein eigener. Er sei der erste in der Region gewesen, der seinen Besuchern „Ziemlich beste Freunde“ gezeigt hatte. Das sei ein richtig guter Film gewesen, sagt der Kinobetreiber. Dass er sich einmal zum Blockbuster entwickeln würde, habe damals noch niemand geahnt. Bei allen anderen Kinos sei er erst viel später angelaufen.
Die Filme, die er aussucht, richten sich vor allem an Erwachsene zwischen 30 und 50 Jahren. Viele seiner Besucher seien Lehrer, sagt Jürgen Bieler. Deshalb suche er auch Filme aus, die sie ansprechen: Beispielsweise „Fack ju göhte“ oder Charlotte Links „Exit Marakkesch“.
Manchmal kann Jürgen Bieler nicht anders, als einen Film zu zeigen, egal ob dieser ein Kassenschlager wird oder nicht. Dann schlägt sein eigener Geschmack durch, der nur ein einziges Kriterium kennt: Eine spannende funktionierende Story. „Jung und Schön“ sei ein solcher Film. Ein Fan von Effektschlachten sei er nicht, sagt er und gibt zu, ein Fan der Kinderbuchreihe „Harry Potter“ zu sein. Die Filme seien aber mit jeder Fortsetzung schlechter geworden. Die Geschichte habe unter den Effekten sehr gelitten sagt er. Dann doch lieber eine runde Geschichte – ob die Menschen in Scharen kommen oder nicht:
Diese Filme sind es einfach wert, im Kino gezeigt zu werden.
Große Filmhöhepunkte, wie „Ziemlich beste Freunde“ und „The King’s Speech“ im vergangenen Jahr, habe es dieses Jahr nicht gegeben, sagt Herr Bieler. Ein schlechtes Jahr für das Programmkino. Gute Aussichten sieht er für „Der Medicus“, weil das Buch so bekannt ist.
Viel Zeit zum Filme schauen hat Kinobetreiber Bieler nicht. Als Besitzer und „Mädchen für alles“ erledige er viel Büroarbeit, Messebesuche, Filmkritiken lesen. Das Programmheft muss geschrieben werden und braucht ein Layout. Auch Einkäufe wie Knabbereien, Getränke und Süßigkeiten erledigt er. Wie viel Arbeit hinter einem Kino steckt, habe er nicht gewusst, als er das Kino übernommen hatte und sagt selbst, er sei „blauäugig“ und „naiv“ gewesen. Um die Fimvorführungen und die Gäste kümmern sich seine zwölf Mitarbeiter. Er selbst würde sich aber nicht an die Kinokasse stellen – seiner speziellen Art wegen, sagt er.
Zwei Filme liegen Jürgen Bieler besonders am Herzen: „Twelve Monkeys“, in dem Brad Pitt eine seiner besten Rollen gespielt hat – jedenfalls, wenn es nach ihm ginge. Der zweite ist Roberto Begignis „Das Leben ist schön“. Den wolle er nur im Kino sehen. Einen richtigen Lieblingsfilm habe er aber nicht. Dafür habe er zu viele Filme gesehen. Genauso verhalte es sich mit Lieblingsregisseuren und -schauspielern, sagt er:
Ich habe viele schlechte Filme von guten Regisseuren gesehen und genauso viel gute Schauspieler in schlechten Rollen.