Rhein-Neckar, 17. Dezember 2012. (red/pro) Das Massaker von Newtown/Connecticut hat weltweit Entsetzen ausgelöst. Jeder mitfühlende Mensch nimmt Anteil und verabscheut diese Bluttat. Nach dem ersten Schock ist aber kühler Verstand gefragt, um dieses Drama und andere einzuordnen. Denn Newtown kann überall sein und ist es auch.
Von Hardy Prothmann
26 Tote – davon zwanzig Kinder. Wie das Städtchen Newtown (25.000 Einwohner) dieses furchtbare Massaker verkraften kann, fragen sich überall auf der Welt die Menschen, natürlich auch hier bei uns vor Ort. Der amerikanische Präsident versuchte vor Ort Trost zu Spenden – doch was nützt das? Die Medien berichten „neu“-gierig über alles, was man vermeintlich über den Täter an Informationen finden kann. Berichten, hoffentlich einfühlsam und sorgsam, über die Familien und Freunde, über deren Trauer und Schmerz. Anders als bei Spiegel Online, die über ein Asperger-Syndrom des Mörders im Zusammenhang mit der Bluttat spekulierten. Weil sich Autisten zu Recht gegen diese Darstellung gewehrt hatten, ergänzte Spiegel-Online den Text.
Doch der Fokus ist mit dem Blick auf Newtown zu eng gewählt. Ein bis zwei Dutzend Massaker finden jährlich in den Vereinigten Staaten statt. Das Massaker von Newtown war schon das 20. in diesem Jahr. Rund 30.000 Menschen werden hier Jahr für Jahr durch den Einsatz von Schusswaffen getötet: Davon sind 18.000 Selbstmorde und 12.000 Menschen werden Opfer von anderen, die – warum auch immer – mit meist großkalibrigen Waffen auf andere Menschen schießen:
Auch Deutschland hat schon sechs „School-Shootings“ erlebt, darunter zwei besonders entsetzliche. 2002 in Erfurt: Der 19-jährige Robert Steinhäuser tötete 17 Menschen, bevor er sich selbst erschoss. Der 17-jährige Tim Kretschmer tötete 2009 in Winnenden insgesamt 15 Menschen, verletzte elf weitere Menschen, bevor er sich selbst erschoss. Beide hatten über ihr persönliches Umfeld Zugang zu Waffen. Ob nun berechtigt oder nicht, spielt keine Rolle. Waffen waren teil ihrer Erfahrungswelt. Und beide konnten mit Waffen umgehen. (Uns bleibt hoffentlich eine Debatte über vermeintlich verantwortliche „Killerspiele“ erspart: „Der Mörder, die Journalisten und ihre Öffentlichkeit„.)
Jung, männlich, verwirrt – mit Waffe tödlich
Beim Amoklauf von Ansbach 2009 wurden zwei Schülerinnen schwer, sowie sieben Schüler/innen und eine Lehrerin leicht verletzt. Der 18-jährige Täter hatte „nur“ ein Beil, zwei Messer und Molotowcocktails. Nicht auszudenken, wieviele Todesopfer es durch den Einsatz von Schusswaffen möglicherweise gegeben hätte.
Fast alle Schulmassaker werden von jungen Männern verübt. Häufig erfährt man etwas über „psychologische Probleme“ der Täter. Die These, dass die Zahl der Massaker und die Zahl der Toten weniger mit einem „Lattenschuss“ als dem Zugang zu tödlichen Schusswaffen zu tun hat, ist angesichts der Fälle nicht von der Hand zu weisen.
Der Landtagsabgeordnete Hans-Ulrich Sckerl forderte Anfang 2010 vollkommen zu Recht eine Verschärfung des Waffenrechts. Newtown mag manchen weit weg vorkommen: Erfurt ist von uns aus nur etwas mehr als 300 Kilometer entfernt, Winnenden nur noch 125 Kilometer. Und die Bedrohungslage ist bei uns Vort ganz real: In Mannheim gab es zwei Amok-Drohungen an Schulen, in Schriesheim eine. 2009 legte ein Mann aus Viernheim Bomben in Weinheim und verminte seine Wohnung. Er verfügte über ein beängstigendes Waffenarsenal.
So bitter das klingt: Überall in Deutschland ist es nur eine Frage der Zeit, bis es wieder zu einem ähnlichen Drama kommen kann. Zwischen April 2002 und September 2009 gab es sechs Amokläufe an Schulen. Dass seit drei Jahren „nichts“ passiert ist, darf man nicht glauben. Es passiert ständig in den Köpfen von verwirrten jungen Menschen – ohne tödliche Waffen bleiben „Rachegelüste“ aber nur Gedanken und verschwinden irgendwann hoffentlich wieder.
Kinder sind immer Opfer – egal in welchem Kriegsgebiet
Amerika wird von vielen immer noch als vorbildliches Land gesehen. Das ist es nicht. Dieses Land lebt im Dauerausnahmezustand – im Krieg mit sich selbst. Bis an den Hals bewaffnet. Mindestens 250 Millionen Waffen sollen dort in Privatbesitz sein – darunter viele Kriegswaffen. 30.000 zivile Opfer durch Schusswaffengebrauch – das ist eine Zahl von Toten, die in vielen „realen“ Kriegsgebieten nicht erreicht wird.
Nach Angaben von Unicef starben in den vergangengen zehn Jahren zwei Millionen Kinder in den Krisengebieten dieser Welt, in Afrika, Asien, Südamerika und den Randregionen Europas: Ob durch Schusswaffen oder durch Bomben. Sechs Millionen weitere wurden körperlich verletzt. Die seelischen Schäden kann niemand zählen. Davon erfährt man nur selten.
Ohne das Leid der Familien in Newtown zu missachten: Kinder und deren Familien, die in der dritten Welt Opfer von Waffengewalt werden, haben meist keinen Zugang zu einer medizinischen Versorgung, erhalten keine psychologische Betreuung und in aller Regel auch keine Anteilnahme in der Welt, denn meistens erfährt man nichts davon.
Anmerkung der Redaktion: Im aktuell erschienenen Rüstungsexportbericht der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) vom 10.12.2012 ist nachzulesen: „Kleine und leichte Waffen sowie Munition gingen erneut an Staaten im Nahen und Mittleren Osten sowie an Länder in Asien. Insgesamt gingen 8.158 Kleinwaffen an Drittstaaten. Wichtigste Abnehmer waren Saudi-Arabien (4.213 Sturmgewehre), Indonesien (242 Maschinenpistolen, 102 Sturmgewehre) und der Kosovo (900 Sturmgewehre). Gleichzeitig wurden 6.051 leichte Waffen aus Deutschland exportiert. Der Großteil dieser Waffen ging an Singapur (rückstoßfreie Waffen). Die GKKE fordert die Bundesregierung dazu auf, den Export von kleinen und leichten Waffen sowie dazugehöriger Munition deutlich restriktiver zu handhaben. Angesichts der Zahlen aus dem Berichtszeitraum 2011 verwundert der Vermerk, dass die Bundesregierung auch in Zukunft Kleinwaffenexporte in Entwicklungsländer besonders restriktiv handhaben werde.“