Mannheim/Rhein-Neckar, 10. Mai 2017. (red/pro) Wir bieten allen Verschwörungstheoretikern eine Sammlung von Zitaten zum Song „Marionetten“ der „Söhne Mannheims“. Wer gerne an eine illuminatische Verschwörung des (jüdisch-pädophilen) Großkapitals glaubt, findet hier Belege dafür, wie die Marionetten tanzen, um den einzigen, der die Wahrheit kennt und alles durchschaut, nach Strich und Faden fertig zu machen. Die Eindeutigkeit der Ablehnung kann doch nur eine Verschwörung gegen Xavier Naidoo und die „Söhne Mannheims“ sein – oder etwa nicht?
Anm. d. Red.. Wir geben hier ausgewählte Textstellen aus verschiedenen Medien wieder, die wir uns nicht zu eigen machen. Für die Inhalte sind die Verfasser verantwortlich. Die Fundstellen sind jeweils verlinkt. Unsere ausführliche Kritik lesen Sie hier.
Nun kann von einer erkennbaren „Auseinandersetzung“ mit gesellschaftlichen Strömungen keine Rede sein, sein Lied ist, freundlich gesagt, eine affirmative Collage dessen, was aus den Tiefen deutscher Verschwörungstheorien so hervorgerülpst wird. Da ist nichts überzeichnet. Es gibt keine Anzeichen von kritischer Distanz, keinen Bruch, keine formale Feinheit, die auf Rollenprosa hindeuten könnte, es gibt nur ein pompöses Wir, das mit einem regressiven, antidemokratischen Affekt gegen ein nebliges Ihr in Stellung gebracht wird, mit dem regierende Politiker gemeint sind, die an den „Fäden“ höherer, dunkler Mächte hängen. Der Interpretationsspielraum war lange nicht mehr so klein wie hier. Aus welchem Kontext nun laut Naidoo einzelne Stellen „herausgerissen“ und in der Folge inkriminiert worden seien, kann man also nur raten. Selbst wenn er sich nicht als bewusster Bauchredner der Rechten versteht, so lässt sich sein Lied kaum anders deuten, denn als imaginäre Rachefantasie an jene da oben, die angeblich dem Volk unentwegt „in die Fresse“ träten, im Nietzscheanischen Sinne also pures Ressentiment.
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Tatsächlich wird aber in diesen Texten mehr die Perspektiven dieser Strömungen, also des Rechtspopulismus, auf die aktuelle gesellschaftliche Lage einfach komplett übernommen. Also man kann da wirklich auch nicht die leiseste Distanzierung oder irgendeine Art von subjektiver Zerrissenheit in diesen Texten hören. Und die reine Tatsache, dass sich die Söhne Mannheims und Xavier Naidoo jetzt irgendwie zu einer offenen Gesellschaft bekennen, verleitet die Stadt Mannheim jetzt dazu, zu sagen: Ach naja, dann ist ja jetzt alles gut und nichts gewesen. Und da gibt es jetzt keinen Ärger, weil die ja die Pop-Akademie in Mannheim mitgegründet haben und an diversen Stadt-Feierlichkeiten teilgenommen, das neue Album heißt „MannHeim“ und, wenn ich das richtig gesehen habe, gibt es auch einen Festauftritt über 200 Jahre Fahrrad, den die mit den Mannheimern gemeinsam machen wollen. Also die sind da schon sehr, sehr verwurzelt. Und offenbar hat die Stadt da doch sehr große Bedenken sich irgendwie von diesen Leuten zu trennen oder sich irgendwie auch nur scharf zu distanzieren. Da können die machen, was sie wollen. Also das ist wirklich windelweich, was die da geschrieben haben. Ich finde das ist eigentlich ein Skandal.
Seine aktuellen Äußerungen sind zwar deutlich zurückhaltender, doch eine glaubhafte Abwendung von der Gedankenwelt rechtsgerichteter Verschwörungstheoretiker ist darin nicht erkennbar. Naidoo spricht lediglich von künstlerischer Übertreibung und politischer Vereinnahmung, als sei alles nur ein Missverständnis und er eigentlich das Opfer. Dabei ist „Marionetten“ nicht das einzige Lied auf dem neuen Album der Söhne Mannheims, mit dem sich die Gruppe auf politisch fragwürdiges Terrain begibt. So ist in „Nie wieder Krieg“ von Muslimen die Rede, die „den neuen Judenstern“ tragen und in „Der Deutsche Michel“ wird das deutsche Volk als Opfer finsterer Mächte gezeichnet, zu denen Bänker und Medien gehören.
Diese Erklärung passt nicht ganz zu Naidoos Aktivitäten als Redner bei der rechtsextremen „Reichsbürger-Bewegung“ 2015, zu deren Nähe er seinerzeit keinen Hehl gemacht hat. Schon vorher hatte er in einem Interview im „Focus“ 2014 kundgetan, auf die NPD zugehen zu wollen. Deshalb klingen seine Beschwerden über den Beifall von Dunkelbraun absurd. Auch lassen seine Textzeilen den Schluss zu, dass Naidoo, selbst wenn er es bestreitet, gezielt auf das Wutpotential der rechten Protestbewegungen abzielt, deren Jargon er sich unzweideutig bedient.
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Und ein anderer fragt ganz einfach: „Der Text ist in der Ich-Form geschrieben – Du bist also der Protagonist. Wenn Du nicht zur Gewalt aufrufen möchtest, warum bedienst Du Dich des Aufrufs zur Gewalt?“
Der Stadt Mannheim scheinen so einfache Fragen nicht in den Sinn gekommen zu sein. Ihr scheint es schwer zu fallen, sich zu distanzieren. Weiter unten in der Pressemitteilung zum Treffen steht, die Stadt begrüße die Erklärung der Söhne Mannheims. Ob weitere Kooperationen mit der Band oder ihrem berühmtesten Mitglied geplant sind, wollte ein Sprecher nicht sagen. Zu früheren Kooperationen wollte er sich aus Zeitgründen nicht äußern. Ein aktuelles Beispiel ist leicht zu finden: Erst im Februar wurde ein Lied der Söhne Mannheims, gesungen von Naidoo, als offizieller Titel der städtischen Kampagne „Monnem Bike“ zum Jubiläum der Erfindung des Fahrrads präsentiert. Es ist nach wie vor auf der Website zum Jubiläum verlinkt.
Dazu wiederum passt Naidoos krudes Weltbild. Er glaubt daran, dass Deutschland immer noch besetzt sei und keine gültige Verfassung habe – deshalb würden immer noch die Gesetze des Dritten Reichs gelten. Und sogar den Terror-Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 hält er für eine kontrollierte Sprengung. Immer wieder vertritt Xavier Naidoo solche Ansichten und Anspielungen öffentlich, schreibt Songs, verbreitet Verschwörungstheorien mit solchen Themen und lässt sich von rechtsradikalen Reichsbürgern dafür feiern. Er distanziert sich auch nicht von dieser Gruppe, die vom Verfassungsschutz überwacht wird.
Deshalb sind die Aufregung und die Empörung der Politiker und Medien gerechtfertigt. Xavier Naidoos Songs ohne den Hintergrund seiner Ansichten zu betrachten verharmlost seine Texte. Was daher kommt wie der Song einer linken Hip-Hop-Gruppe verbreitet unterschwellig rechtes Gedankengut – wie der Wolf im Schafspelz. Gepaart mit seinem religiösen Eifer ist das besonders perfide und irreführend. Es verschleiert, wofür Xavier Naidoo wirklich steht und was er eigentlich will. Deshalb muss man darauf hinweisen. Denn er verkaufte in seiner Karriere bislang bereits mehr als 3,5 Millionen Platten. Seine Youtube-Videos haben zum Teil mehr als 30 Millionen Klicks. Seine Heimatstadt Mannheim schmückt sich gerne mit ihm. So jemand hat Einfluss. Seine schauerlichen Theorien, die den Glauben an unsere Grundwerte und an die Institutionen untergraben, erreichen Millionen. Ihn als Spinner abzutun wäre gefährlich.
Naidoo, der immerhin kein Trottel zu sein scheint, folgt offenbar Denkmustern, die bisher von den gängigen medialen Sortierfunktionen noch nicht recht ausgelotet sind, allerdings wohl immer mehr Anhänger finden. Unterbelichtet scheint dabei Naidoos Hang zum Libertarismus – einer politischen Philosophie, die auf einem starken Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen beruht. Freiheit wird dabei in erster Linie als das Freisein von äußeren Einflüssen und Zwängen verstanden – und nicht als die Freiheit, aus diesen heraus selbstständig entscheiden und handeln zu können.
Das bedeutet: Libertäre sind aus prinzipiellen Erwägungen gegen jede staatliche Einflussnahme. Der Gedanke funktioniert „rechts“ wie „links“, er findet sich bei der amerikanischen „Tea-Party“ wie bei Anarchisten. Der libertäre Gedanke liefert meist keine Vorbehalte gegen Rasse, Herkunft, Geschlecht oder sexuelle Neigung, ist aber dem Sozialdarwinismus zugeneigt: Alle bekommen die gleiche Chance, sind aber auf sich allein gestellt. Gut ist dabei, was sich aus eigener Kraft durchsetzt. Der, der „es“ schafft. Wer oder was auf der Strecke bleibt, hat das dagegen prinzipiell auch verdient. Eine Sicht, die vor allem Menschen einnehmen, die selbst sehr erfolgreich sind und dabei Widerstände überwinden mussten.
Diese Stellungnahmen waren allerdings auch mehr als überfällig. Nach der Vorgeschichte der letzten Jahre ist es nämlich in der Wahrnehmung eines Großteils der Öffentlichkeit keineswegs mehr selbstverständlich, dass die hochproblematischen Zeilen in „Marionetten“ eine fiktionale Überspitzung darstellen. Naidoo und seinem Umfeld war völlig klar, was dieses Lied erneut auslösen würde. Doch statt es vorab, zum Beispiel im Pressetext zur neuen Söhne-Mannheims-Platte (was in so genannten Song-für-Song-Kurzinterviews oft praktiziert wird) oder sonst irgendwo, nachvollziehbar einzuordnen, lassen die Mannheimer den Verdacht der geistigen Brandstifterei zwei Wochen lang heiß laufen.
In der Debatte wurde klar, dass die Gesellschaft nicht bereit ist, jede künstlerische Veröffentlichung klaglos hinzunehmen, sondern dass sie mit ihren Künstlern um die Grenzen streitet. Und um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Niemand hat Xavier Naidoo oder die „Söhne Mannheims“ in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt. Zu keiner Zeit.
Fans und Wutbürger loben Xavier Naidoo und die Söhne Mannheims für ihren Song „Marionetten“. Mutig sei er angeblich, würde den Finger in die Wunde legen und so weiter. Nüchtern betrachtet bedient sich Naidoo darin allerdings Sprachbildern von Rechtspopulisten, ruft indirekt zu Selbstjustiz auf und untermauert seine Ansichten, Deutschland sei kein freies Land. Die Kritik, die Naidoo dafür bekam, war hausgemacht und angesichts eines Album-Releases mit Sicherheit auch einkalkuliert.
Thorsten Riehle, SPD-Gemeinderat und Geschäftsführer des Capitol, wo Naidoo stets auftritt, hat jedoch eine ähnliche Debatte mit den „Söhnen“ geführt. „Da sind wohl ähnliche Dinge angesprochen worden wie beim Oberbürgermeister“, sagt er. Übereinstimmung habe geherrscht, dass es ein Fehler gewesen sei, das Stück „Marionetten“ auf das Söhne-Album „MannHeim“ zu nehmen. „Das haben alle vollkommen unterschätzt.“ Die Stimmung in der Gruppe sei angespannt gewesen, nicht nur weil viele Mitglieder mit den Weltanschauungen von Naidoo nicht oder nicht mehr hundertprozentig einverstanden seien. Es gehe auch Angst um das Image und die Existenz um, nicht zu Unrecht: Zahlreiche Radiosender spielen derzeit keine Naidoo-Songs. „Aber bei Xavier wird sich wohl nichts ändern“, so Riehles Einschätzung. „Es werden weitere Lieder kommen.“