Rhein-Neckar/Südwesten, 21. Juni 2016. (red/ms) Die Zugangszahlen von Flüchtlingen wurden radikal reduziert – doch die Herausforderung ist damit nicht verschwunden. Den Ländern und seinen Kommunen stehen immense finanzielle Belastungen bevor. Ab 2018 sollen Flüchtlingen während der vorläufigen Unterbringung in Baden-Württemberg mindestens sieben Quadratmeter pro Person zur Verfügung stehen. Insbesondere im Wohnungsbau müssen gewaltige Investitionen gestemmt werden – in Zeiten des Sparzwangs.
Kommentar: Von Minh Schredle; Mitarbeit: Mathias Meder
Im vergangenen Herbst sind bis zu 1.500 Flüchtlinge pro Tag in Baden-Württemberg angekommen. Schnell waren die vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung überlastet. Im Eilverfahren wurden notgedrungene Zwischenlösungen hergerichtet: Zeltstädte, umfunktionierte Lagerhallen, zweckentfremdete Turnhallen – hier lebten wildfremde Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht unter kaum zumutbaren Bedingungen.
Seitdem die Zugangszahlen radikal reduziert wurden, hat sich die Lage in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEAs) deutlich entspannt – was nur logisch ist, schließlich verbringen Asylbewerber in der Regel nur wenige Wochen in LEAs, bevor sie für die vorläufige Unterbringung auf die Stadt- und Landkreise verteilt werden. Die Nachrichtenlage hat sich beruhigt.
Auf die Gemeinden und Kommunen hat der Druck hingegen kaum nachgelassen – sie müssen weiterhin Unterbringungsplätze für insgesamt deutlich mehr als 100.000 Menschen schaffen. Im Idealfall handelt es sich dabei nicht um zweckmäßige Notlösungen, sondern langfristig angelegten Lebensraum, der nicht zwangsweise ausschließlich von Flüchtlingen genutzt werden muss.
„An die Mindeststandards haben sich andere zu halten“
Doch guter Wohnraum kostet richtig Geld und die Kassen der Kommunen sind klamm – also wird tendenziell schlicht und minimalistisch gebaut. Nach der gültigen Rechtslage stehen Asylbewerbern in Baden-Württemberg während der vorläufigen Unterbringung aktuell mindestens 4,5 Quadratmater pro Person zu.
Eine Gesetzesänderung unter der grün-roten Vorgängerregierung sollte diese Bedingungen verbessern und die Wohn- und Schlaffläche auf mindestens sieben Quadratmeter pro Unterbringungsplatz erhöhen. Der Beschluss stammt aus dem Sommer 2013 und hätte eigentlich Anfang 2016 in Kraft treten sollen.
Nachdem die Zugangszahlen über den vergangenen Sommer drastisch angestiegen sind, wurde die Gesetzesänderung vorübergehend ausgesetzt und tritt nun erst am 01. Januar 2018 in Kraft.
Während unter grün-rot zwar die Mindestanforderungen in der vorläufigen Unterbringung angepasst wurden, gilt das nicht für die Landeserstaufnahme. Soll heißen: Die Landespolitik macht zwar den Stadt- und Landkreisen verschärfte Vorgaben – sieht sich aber offenbar nicht dazu verpflichtet, den Mindeststandards selbst gerecht zu werden, die sie anderen vorschreibt.
3,5 Quadratmeter pro Person
Deutlich wird das am Beispiel Mannheim: Da Mannheim Standort von Erstaufnahme-Einrichtungen ist, ist sie von der vorläufigen Unterbringung befreit. Die LEA in der Pyramidenstraße im Industriegebiet der Neckarstadt bietet Platz für bis zu 750 Menschen – doch sie ist heruntergekommen, marode und soll durch einen Neubau ersetzt werden.
Zuständig dafür ist nicht die Stadt Mannheim, sondern das Land Baden-Württemberg, das sämtliche Kosten für die Maßnahme trägt. Die Pläne zum Neubau, der in der benachbarten Untermühlaustraße errichtet werden soll, wurden noch unter grün-rot gefasst und dem Wirtschaftsausschuss des Mannheimer Gemeinderats vergangenen Dezember vorgestellt.
Das ließ tief blicken: Vier Gebäudekomplexe sollen Lebensraum für bis zu 1.000 Menschen bieten. Dafür sollen bis zu acht Personen auf 28 Quadratmetern untergebracht werden. Heißt also: 3,5 Quadratmeter pro Person – das ist gerade einmal die Hälfte dessen, was den Stadt- und Landkreisen künftig vorgeschrieben wird.
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In einem beiläufigen Nebensatz erwähnten die Planer gegenüber dem Wirtschaftsausschuss, dass man für sämtliche LEA-Neubauten in Baden-Württemberg ähnliche Grundkonzepte wie in Mannheim verfolge.
Verantwortungs-Ping-Pong
Kann das sein? Die Landespolitik definiert für andere Mindeststandards, an die sie sich selbst nicht ansatzweise hält?
Offenbar schon. Auf Rückfrage der Redaktion bestätigt das Innenministerium Baden-Württemberg:
Eine Mindestfläche je Unterbringungsplatz schreibt das Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG) des Landes für Erstaufnahmeeinrichtungen nicht vor; die Regelung in § 8 FlüAG, die eine Mindestwohn- und Schlaffläche von durchschnittlich 7 Quadratmetern pro Person vorsieht, gilt unmittelbar nur für Einrichtungen der vorläufigen Unterbringung in den Stadt- und Landkreisen.
„Refugees Welcome“ also? In fünf Jahren mit den Grünen in Regierungsverantwortung und der SPD als Juniorpartner wurde allem Anschein nach nichts getan, eigene Mindeststandards für LEAs zu definieren, um menschenwürdige Unterbringungsbedingungen zu sichern. Für einen Neubau in Mannheim, der frühestens 2018 bezogen werden kann, sind 3,5 Quadratmeter pro Person geplant.
Dass die Bedingungen bei der vorläufigen Unterbringung verbessert werden sollen, wurde als Erfolg verkauft; doch die Umsetzung – und damit der wesentlichste Teil der Verantwortung – wird anderen aufgezwungen, während das Kehren vor der eigenen Tür ausgespart wird. Diese Realität wirkt wie eine grausame Parodie auf die vorgegebene Ideologie.
„Wir haben vielleicht etwas vor“
Nun gab es einen Regierungswechsel und die CDU ist mit in der politischen Verantwortung. Unsere Redaktion hat daher beim Innenministerium angefragt, wie es mit dem LEA-Neubau in Mannheim weitergeht und ob weiterhin 3,5 Quadratmeter pro Person vorgesehen sind. Die Antwort:
Da der Flüchtlingszuzug im Vergleich zum Vorjahr abgenommen hat und inzwischen etliche Erstaufnahmeeinrichtungen im Land – auch in Mannheim – bestehen, wird derzeit das Erstaufnahmekonzept des Landes der veränderten Lage angepasst. Auf dem Prüfstand stehen insbesondere bisher beabsichtigte Neubauten. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir deshalb momentan keine weiteren Angaben zum Standort Mannheim machen können.
Nichts Genaues weiß man also nicht. Das könnte sogar heißen, dass Mannheim als LEA-Standort nicht erhalten bleibt und damit wieder Kreisflüchtlinge zugewiesen bekommt.
Und es wird noch kryptischer:
Jedoch strebt das Land an, diesen Flächenansatz (Anm. d. Red.: Sieben Quadratmeter pro Person) für eine Regelbelegung auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu verwirklichen. Die Regelung in § 8 FlüAG wurde als Reaktion auf die Flüchtlingskrise bis Ende 2017 ausgesetzt. Eine Änderung oder Abschaffung der Flächenvorgabe steht aktuell jedoch nicht zur Diskussion.
Das Land strebt also an, den Flächenansatz für eine Regelbelegung auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu verwirklichen, aber eine Änderung der Flächenvorgabe steht aktuell nicht zu Debatte?
Unser Interpretationsansatz: Die Änderung oder Abschaffung der Flächenvorgabe für die vorläufige Unterbringung steht aktuell nicht zu Diskussion und vielleicht könnte darüber hinaus unter Umständen womöglich auch die Rechtslage in den Erstaufnahme-Einrichtungen verbessert werden (man beachte den Konjunktiv), zumindest wird das „angestrebt“. Eine Zusage sieht anders aus.
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Harte Zeiten stehen bevor
Höchstwahrscheinlich werden ehrenwerte Ambitionen an einer harten, finanziellen Realität scheitern: Ab 2020 tritt die Schuldenbremse auf Landesebene in Kraft. Dann wird keine Nettoverschuldung mehr zulässig sein. Bis dahin müssen also der Haushalt ausgeglichen und strukturelle Defizite möglichst abgebaut worden sein. Das Land steht demnach zunehmend unter Sparzwang – worunter auch die Kommunen leiden werden. Aktuell bleibt abzuwarten, bei welchen Landesmitteln es zu Streichungen kommen wird. Schmerzhaft wird es in jedem Fall.
Gemeinden und Städte befinden sich indessen in misslichen Lagen – denn viele sind finanziell ohnehin schon am Kämpfen und haben Schwierigkeiten, einen genehmigungsfähigen Haushaltsplan aufzustellen. Es ist kaum vorstellbar, wie sie die aktuellen Herausforderungen an den kommunalen Wohnungsmarkt aus eigener Kraft schultern können sollen – ohne Zuschüsse und Drittmittel drohen hier städtebauliche Desaster, Parallelgesellschaften und Ghettoisierungen.
Die strukturellen Defizite und verschwenderischen Strukturen in zahlreichen Haushalten sind über Jahrzehnte gewachsen und werden nicht erst durch den Zuzug von Flüchtlingen verursacht. Trotzdem entstehen dadurch zusätzliche Herausforderungen in Zeiten des Sparzwangs. Doch kurzfristig billig zu bauen, wird langfristig umso teurer – denn die Folgekosten sozialer Isolation, dauerhafter Perspektivlosigkeit, Sozialamtskarrieren oder Kriminalität sind weitaus dramatischer.
Die neue Landesregierung ist in ihrer Lage wirklich nicht zu beneiden – ihr könnte eine der schwierigsten Legislaturperioden in der Geschichte Baden-Württembergs bevorstehen. Schaufensterpolitik und ideologisches Geschwätz kann sich die Gesellschaft nicht mehr leisten – sondern nur noch ehrliche Sachlichkeit und knallharten Pragmatismus.
Anm. d. Red.: Beachten Sie bitte in den kommenden Tage weitere Recherchen zum Thema Unterbringung.
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