Mannheim, 22. Oktober 2014. (red/ld) Zugegeben: Jeder ist ein bisschen sauer auf seine Eltern. „Wenn ich groß bin, mache ich alles anders“, sagt sich so manches Kind. Julian Ogert ist groß und schreibt seine Memoiren. Alles will er anders machen als seine Eltern, die ihm den Schock seines Lebens verpasst haben. Vor lauter Wut bemerkt er aber nicht, dass er zu ihrem Ebenbild geworden ist. Autor und Musiker Hans Platzgumer las am Freitag aus seinem neuesten Roman in der Werkhaus-Lobby des Nationaltheaters.

In „Korridorwelt“ irrt der Protagonist in der Welt umher – typisch für einen Roadmovie-Roman. Doch wonach sucht er?
Von Lydia Dartsch
Julian Ogert ist der Protagonist in Hans Platzgumers „Korridorwelt“. Der Autor selbst arbeitet eigentlich als Musiker am Nationaltheater, schreibt Lieder für die Stücke, die im Schauspielhaus und im Schnawwl gegeben werden.
An seinem 16. Geburtstag öffnete Julian Ogert die Tür zum Wohnzimmer seiner Eltern. Es war die letzte Tür, die er jemals wieder öffnen sollte. Denn, was er dahinter sah, negierte alles, worauf sein Leben aufbaute und warf den Teenager völlig aus der Bahn.
Die Welt wird ausgesperrt
Die Eltern des Protagonisten waren nicht gerade Sympathieträger: Der Vater wird gottgleich beschrieben, übermächtig, unhinterfragbar: „Wenn man vor ihm stand, so war es, als läge man ihm zu Füßen“, beschreibt ihn der Protagonist. Die Mutter ist wenig empathisch, die fleischgewordene Logistik, die To-Do-Listen abhakt, keinen Handgriff umsonst tut und danach Stunden auf dem Sofa liegend verbringt mit „Erschöpfung“ oder „Migräne“. Dann darf sie niemand stören.
Die Familie sperrt die Welt aus – oder sperrt sich selbst vor der Welt aus: Zugezogene Gardinen an den Fenstern. Halbdunkel in der Wohnung. Niemand blickt hinter die Fassade, nicht einmal ihr eigener Sohn, dessen Welt sie zerbrechen – unmittelbar nachdem er die Wohnzimmertür öffnet. Seit dieser Katastrophe sperrt sich auch Julian gegen die Welt aus. Als Straßenmusiker zieht er durch die Welt, sammelt keine Dinge und geht keine Bindungen ein. Er öffnet keine der Türen, die in seinem Leben darauf warten von ihm geöffnet zu werden: Er ist im Flur – oder Korridor – seines Weltdaseins gefangen. Isoliert. Und das freiwillig.
Katastrophe ist zu heftig für ein Publikum
Denn seit der Katastrophe, die ihm seine Eltern angetan haben, öffnet er keine Türen mehr. „Was fand der junge Julian hinter der Wohnzimmertür?“, fragte man sich am Freitag als Zuhörer. Die Antwort lieferte Herr Platzgumer im zweiten Teil der Lesung, warnte aber: „Mein Verleger hielt diesen Part für zu krass, als dass man ihn einem Publikum zumuten könne“, sagte er. In Österreich könne man so etwas drucken, ok. Im Theater könnte man soetwas auch vorlesen. Lesen Sie einfach selbst.
Wer sich im Buch bis zu diesem Teil vorgekämpft hat, versteht die Eingangssequenz, in der der Protagonist erschüttert wird. Nicht im übertragenen Sinne, wie an seinem 16. Geburtstag, sondern wortwörtlich durch ein Erdbeben in Hollywood, wo der Protagonist bei einer „älteren Dame“, wie er die 42-jährige Eleanore nennt, unterkommt.

Hans Platzgumer schreibt normalerweise Musik für die Bühnenstücke im Schauspielhaus. Für seinen Roman spielte er seine Songs: Ein bisschen Johnny Cash, ein bisschen Bob Dylan, ein bisschen Jeff Buckley.
Die Parallelen und Kontraste der beiden Ereignisse sind unüberlesbar: Ein Erdbeben und die familiäre Katastrophe, die wohl eher „the big one“ – das große Beben im San Andreas-Graben, das Kalifornien seit vielen Jahren erwartet – in Julian Ogerts Leben sind. Die Risse, die die brüchige Fassade der Traumwelt Hollywood bekommt und die Zerstörung einer vermeintlich heilen Familienwelt, die ebenfalls nur Fassade ist.
Doch selbst die Weltuntergangsstimmung aus dem Erdbeben dringt nicht an den Protagonisten heran: Es bricht los, während er schläft und kann ihn nicht wecken. Das schafft nur Eleaniore. Nackt flüchtet er aus dem Bett auf die Straße. Dort denkt er nur daran, seine Gitarre aus der Wohnung zu „retten“. Ihn erschüttert nichts mehr.
Auf der Suche wonach?
Dafür ergeht er sich dann in nicht enden wollenden Beschreibungen seiner Umwelt: Wie sie riecht, wie die Leuchtreklame des mexikanischen Supermarkts blinkt und so weiter. Stellen, die man im Buch wahrscheinlich überblättert.
Doch wonach sucht Julian? Hans Platzgumer beschreibt die „Korridorwelt“ als Roadmovie-Roman. Dabei erinnert er stark an „Die Heimkehr“ und „Der Prozess“ von Franz Kafka. Typisch für das Genre des Roadmovies: Der Protagonist ist rastlos, irrt umher, befindet sich auf der Suche. Wonach? Das wurde bei der Lesung nicht klar. Wunderbar passten dagegen die Lieder von Hans Platzgumer, die er zwischen den Kapiteln auf seiner Gitarre spielte: Ein bisschen Johnny Cash, ein bisschen Bob Dylan, ein bisschen Jeff Buckley.