Mannheim/Rhein-Neckar, 05. Oktober 2015. (red) Ein Asylsuchender, der auf Franklin untergebracht ist, ruft andere dazu auf, seine Frau zu steinigen. Das ist die „Story“, die uns aus der Gerüchteküche erreicht. Nach ersten Recherchen gibt es einen scheinbar „wahren“ Kern, aber eine ganz andere Story als die, die im Umlauf ist und sich anscheinend rasend schnell verbreitet. Es gibt einen Mann. Es gibt eine Frau. Es gibt die Angst vor Steinigung. Aber wie die Zusammenhänge sind, ist noch vollständig unklar.
Von Hardy Prothmann
„Haben Sie das noch nicht mitbekommen mit der Steinigung?“, fragt mich die Quelle.
„Welche Steinigung?“, frage ich.
„Na, auf Franklin“, sagte die Quelle.
„Ich habe keine Kenntnis von einer Steinigung auf Franklin“, sage ich.
„Da hat einer aufgerufen, seine Frau zu steinigen, wegen Untreue oder so“, sagt die Quelle.
„Ok, wann soll das gewesen sein?“, frage ich.
„Also ich habe gehört, von einem der dabei war, dass ein Mann dazu aufgerufen hat, seine Frau zu steinigen, vielleicht wegen Untreue oder so. Irgendwie gerade jetzt“, sagt die Quelle.
„Von wem haben Sie das wann gehört? Wann soll das passiert sein? Wer ist der Mann? Wen hat er aufgefordert? Was ist mit der Frau?“, frage ich die Quelle.
„Das weiß ich nicht genau. Ich kann nur sagen, dass es so war“, sagt die Quelle.
„Was war so?“, frage ich und denke „so wird das also für viele sein“.
„Na, dass ein Mann dazu aufgerufen hat, seine Frau steinigen zu lassen. Das gibt es doch gar nicht. Geht hier alles drunter und drüber? Und die Polizei berichtet mal wieder nichts – die haben Order von oben, nichts zu sagen, die haben doch einen Maulkorb. Vermutlich ist alles noch viel schlimmer“, sagt die Quelle.
„Klare“ Informationen vs. Recherchen
Dieser Einstieg in ein Thema, das wir recherchieren, ist nicht ungewöhnlich. Es gibt angeblich klare Begebenheiten, es gibt angeblich klare Zeugen, es ist angeblich so, wie es dargestellt wird. Im Zuge unserer Recherchen entwickeln sich „klare Begebenheiten“, die Rolle von „klaren Zeugen“ dann oft anders. Und meist ist „was ist, wie es ist“, dann doch ein wenig anders.
Das ist unser Job – kritisch und konzentriert nachzufragen, Informationen ernst zu nehmen, sie aber zu überprüfen. So gut wir das können. Sehr entscheidend ist die Erfahrung. Sehr entscheidend ist auch der Zugang zu anderen Quellen. Sehr entscheidend ist, hart zu arbeiten, um herauszubekommen, was „ist“ und was nur so „scheint“.
Vermeintlichkeiten
Bei unserer Recherche zu diesem Hinweis erfahren wir – irgendetwas muss vorgefallen sein. Die Story an sich hat einen vermeintlich „wahren“ Kern – welchen auch immer.
Nach weiteren Recherchen konfrontieren wir die Polizei mit unseren „Informationen“, dass es einen Vorfall gab. Doch die „Story“ läuft anders.
Zur Ausgangslage: Es gibt ein Gerücht, dass ein Mann andere aufgefordert hat, seine Frau zu steinigen. Im Benjamin Franklin Village. Direkt vor unserer Haustür sozusagen.
Durch unsere Polizeikontakte erfahren wir, dass die Frau dieses Mannes befürchtet, dass ihr Mann sie möglicherweise steinigen lassen will. Vielleicht will er das tatsächlich. Das ist noch vollkommen offen und noch nicht ermittelt. Der Vorfall soll sich am vergangenen Donnerstagnachmittag ereignet haben.
Kein „Steinigungs-Aufruf“
Fest steht – laut Pressestelle der Polizei -, dass es keine Situation gegeben hat, dass dieser Mann andere aktiv dazu angestiftet hat, seine Frau zu steinigen. Die Frau habe vielmehr ihre „Sorge“ geäußert, dass ihr Mann dies vorhaben „könnte“, weil sie ihn verlassen wollte.
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Damit bekommt die Story einen anderen „Spin“, also Dreh – der die Dramatik ändert, wenngleich die Sorge, dass eine Frau befürchtet, möglicherweise „gesteinigt“ zu werden, nicht aus dem Raum ist. Was ist hier los? Kann es wirklich sein, dass sich Flüchtlingsfrauen in Deutschland fürchten müssen, gesteinigt zu werden? Aus welchen perversen Gründen auch immer?
Unterschlägt die Polizei Informationen?
Warum hat die Polizei nicht über diesen „Skandal“ informiert? Weil es keine konkrete Bedrohungssituation gab. Der Mann hat – so die Polizei – niemanden anderen angestiftet, die eigene Frau zu steinigen, sondern die Frau hat dies „befürchtet“. Aus Sicht der Polizei gab es keinerlei „Vorbereitungshandlungen“ durch den Mann, sondern nur die Befürchtungen der Frau.
Das ist schlimm genug und dementsprechend wurde die Frau auch aus der möglichen Gefahrenzone heraus und woanders untergebracht – weil die Behörden die Frau, die möglicherweise gefährdet ist, beschützten.
Hat die Polizei also Informationen unterschlagen? Nach unserem Recherchestand nicht, denn es handelt sich auf dem Stand der Ermittlungen um einen privaten Konflikt, der „noch“ kein öffentliches Interesse rechtfertigt. Es gibt auch bislang keine Hinweise, dass der Mann andere zu einem gemeinschaftlichen Verbrechen angestiftet hätte, aber es gibt die wohl ernstgenommenen Sorgen der Frau – auf die wurde verantwortlich reagiert. Vermutlich hat die Frau den „öffentlichen Raum“ genutzt, um ihre Sorge „darzustellen“ – denn wie sonst hätte die „private Angelegenheit“ sonst öffentlich werden können?
Zur Verantwortung gehört auch, dass man die Frau nicht nur vor einem wütenden Ehemann beschützt, sondern auch vor Öffentlichkeit. Insofern kann man der Polizei keinen Vorwurf machen, sondern nur feststellen, dass sie sich auf aktive Nachfrage zur Sache im gegebenen Rahmen des Zulässigen äußert.
Was ist „sicher“? Wie geht die „Story“ weiter?
Ob und wie eine Bedrohungssituation bestand, das werden die polizeilichen Ermittlungen ergeben müssen.
Sicher ist, dass es einen ehelichen Konflikt gab. Sicher ist, dass sich die Frau durch ihren Mann bedroht fühlt. Sicher ist, dass die Frau in Sicherheit gebracht worden ist und die Behörden ihrer Obhutspflicht nachkommen.
Und sicher ist, dass wir dranbleiben und versuchen in Erfahrung zu bringen, was tatsächlich vorgefallen ist. Es gab einen Vorfall und die Behörden sind in der Pflicht, das Ergebnis ihrer Ermittlungen der Öffentlichkeit vorzustellen.
Sollten die Vorwürfe der Frau gegenüber ihrem Mann zutreffen, wäre das ungeheuerlich. Ebenso ungeheuerlich wäre, wenn die Vorwürfe nur dramatisiert wären. Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht auf eine solide und wahrhaftige Unterrichtung, was tatsächlich passiert ist.
Tatsachen
Tatsache ist, dass es eine Vielzahl von Konflikten und illegalen Handlungen in den Asylbewerberunterkünften gibt. Ethnische Spannungen, Verteilungskämpfe, teils sich abzeichnende mafiöse Strukturen, Drogenhandel, sexuelle Belästigungen, Prostitution, Schleusertum und sonstige Dinge, die unserer Gesellschaft Sorgen bereiten.
Die Aufgaben und Herausforderungen für die Polizei steigen enorm – fatal wäre, das Vertrauen in deren ordentliche Arbeit zu verlieren. Für die Polizei gilt ebenso wie für Journalisten, dass sie verantwortlich mit Informationen umgehen muss. Jegliche unnötige Dramatisierung ist kontraproduktiv.
Ja – eine Frau hat offenbar Angst vor ihrem Mann, der sie womöglich mit dem Tode durch Steinigung bedroht hat. Das muss man ernst nehmen und das wird ernst genommen. Das wird nach allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt.
Was nicht abzustreiten ist, ist, dass durch die große Zahl der Flüchtlinge „Herausforderungen“ auf unsere Gesellschaft zukommen, die wir bislang nicht kannten. Und auch die Polizei nicht.
Es ist für mich als Reporter mit 25 Berufsjahren der erste Fall, dass die Polizei einen mutmaßlichen Fall in Deutschland behandeln muss, in dem der Vorwurf einer möglichen „Steinigung“ einer Frau durch ihren Mann und andere, untersucht werden muss.
Wir, als Gesellschaft, müssen dringend davon ausgehen, dass die Ermittlungsbehörden diesen „sensiblen“ Fall mit allem Nachdruck verfolgen und zu Aufklärung bringen – dazu gehört auch, über die Umstände und der Verlauf vollumfänglich öffentlich derart zu informieren, dass die „Persönlichkeitsrechte“, die auch für Flüchtlinge gelten und das öffentliche Interesse, das auch die Flüchtlingssituation umfasst, berücksichtigt werden und trotzdem Klarheit vermittelt wird, was sich hier möglicherweise anbahnte.
A propos: „Öffentlichkeit“ meint auch die Flüchtlinge. Werden diese eigentlich „ordentlich“ darüber informiert, was die „deutsche Öffentlichkeit“ über sie erfährt? Was erfährt die „deutsche“ Öffentlichkeit tatsächlich über die Situation der Flüchtlinge?
Zur Erinnerung: Es ist uns Journalisten nach wie vor nicht gestattet, was wir jederzeit in der deutschen Öffentlichkeit tun können – wir können jederzeit im öffentlichen Raum jede Person zu jedem Thema ansprechen. An den Checkpoints der Lager ist Schluss – Lager sind kein öffentlicher Raum. Nachrichten aus den Lagern kommen aber in den öffentlichen Raum. Es gibt leider keine Möglichkeit, unmittelbar vor Ort zu kommen, mit den Menschen zu sprechen und zu recherchieren. So schafft sich die Politik ihre eigenen Gerüchteküchen.