Rhein-Neckar, 05. Mai 2020. (red/pro) RNB-Redaktionsleiter Hardy Prothmann bietet der geneigten Leserschaft einen ungewöhnlichen Text an – einen den Sie derart in so gut wie keinem anderen Medium finden. Nämlich Selbstkritik. Offen und ehrlich.
Von Hardy Prothmann
Ich bin erst im Alter von 25 Jahren zum Journalismus gekommen. Ich habe keine Schülerzeitung gegründet. Ich war nie politisch engagiert und zuvor sah meine Lebensplanung vor, Tierarzt zu werden.
Das hatte ich im Alter von zehn Jahren beschlossen, als ich, auf dem Land und mit vielen Tieren aufgewachsen, die TV-Serie “Der Doktor und das liebe Vieh” im damals noch überschaubaren Programm von drei Fernsehprogrammen verfolgte und danach die Bücher von James Herriot las.
Nein, ich habe sie nicht gelesen, ich habe sie verschlungen.
Und dann meine Tiere behandelt – dem Kater ne Luftgewehrkugel aus der Lende rausgeholt, die Rabenkrähe mit gebrochenen Flügel aufgepäppelt, dem Kaninchen die Zähne mit der Zange “abgelängt”. Und im Alter von elf Jahren habe ich einem Schwein einen Bolzen ins Gehirn geschossen, weil der Bauer meinte: “Willste?”. Das war 1977. Das waren andere Zeiten. Das Schwein wurde zerteilt und meine Familie und ich und andere habe es gegessen.
Heutzutage wäre ich aus Sicht der politisch-korrekten Moralapostel missbraucht worden, hätte ein Leben ausgelöscht und insgesamt wäre das ein Skandal, dass man Kinder klar macht, dass Schnitzel mal ein Schwein waren. (Bin mal gespannt, welcher Mannheimer Grüne mir dazu einen Rant schreibt.)
Ich mag Schnitzel, ich weiß, dass man für Fleisch Tiere töten muss und ich finde das vollständig in Ordnung.
In meinem Schrebergarten arbeite ich ohne jede Spritzmittel, sondern jage die Scheiß-Ackerwinde durch beharrliches Jäten und sie kommt trotzdem immer wieder – auch die Ackerwinde ist ein Lebewesen, das nur macht, was ihr immanent ist, sie wächst und windet sich um andere Pflanzen, die es dadurch behindert.
Ich kämpfe gegen diese Ackerwinde, weil sie den Ertrag meines Anbaus erheblich gefährdet und ich kann nicht erkennen, warum das “biologisch” sinnvoll sein sollte. Und ich töte Nacktschnecken. Meistens direkt durch Zermalmen.
Wer mein vollständig brutales Verhältnis zur “Natur” nicht teilen will, sollte sich die Frage stellen, ob die “Ausrottung” eines Virus nicht grundlegend faschistischen Gedanken folgt, wenn man weiß, das Viren schon immer “da waren” und immer mit “dem Menschen” und anderen biologischen Lebensformen interagiert haben.
Viren sind aus einem “normalen” Leben nicht wegzudenken – außer, man ist biologischer Faschist und entschlossen, eine moralische “Endlösung” konsequent durchzusetzen. Dieser Satz, über den man nachdenken kann, könnte dazu führen, dass ich ab sofort durch Horden von politisch-korrekt denkenden Menschen zur absoluten Non-grata-Person erklärt werde. Ich bin darauf sehr gespannt.
Richtig ist, dass extrem-moralische Menschen niemals für eine Befriedung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch nur einen sinnvollen Beitrag geleistet haben, sondern Hass und Hetze immer nur befördert haben. Wer sich gegen eine vernünftige, auf jeweils gegebenen Fakten basierte Debatte mit Moral stellt, befördert immer Hass und Hetze – und will das so. Das werfe ich insbesondere den Grünen vor, die apodiktisch eines verstanden haben, nämlich die Nachfolger der christlichen Märtyrer sein zu wollen, aber leider nicht kapiert haben, dass es mir dieser Saga seit Jahren zu Ende geht.
Weltuntergangsstimmungen waren immer “en vogue” – aber sie werden in einer mehr und mehr vernetzten Gesellschaft immer weniger akzeptiert. Und das sollten politische Entscheider endlich realisieren – das alte Geschäftsmodell, “wir retten die Welt für Euch”, funktioniert nur noch beschränkt.
Ich habe in Biologie ein 15-Punkte-Abitur geschrieben, in Erdkunde 13 Punkte, aber der Rest war solala bis mies. Latein und andere Fächer zogen mich (aus Gründen, die es gab) runter und letztlich wurde mein Abitur mit der Note 3,1 bewertet. (Sport: 15 Punkte). In Deutsch war ich angeblich mies und vielen anderen Fächern auch – Laberzeugs, das mich nicht interessierte.
Im Gegensatz zu anderen Abiturienten meines Jahrgangs habe ich in Nachtschichten als Zeitarbeiter viel Geld verdient – das musste ich, weil es familiär bei mir nicht gut lief und ich mich um mein eigenes Leben kümmern musste.
Fast gleichzeitig mit meinem leider nicht guten Abitur habe ich mir für 6.700 Mark eine “Ente” gekauft – selbstverdient und nicht als Bonus von BASF-Chemie-Doktor-Eltern als “Golf” schlüsselfertig bestellt.
Ich musste wegen des Nummerus Clausus von 1,0 vier Jahre auf einen Studienplatz für eine der vier Unis für Tiermedizin warten. Neun Monate arbeitete ich als “Schichtler” in der BASF. Rund zehn Monate verbrachte ich in Neapel, wo ich Oliven erntete, kellnerte, Deutsch-Unterricht gab und andere Jobs machte. Und ich habe dort erlebt, wie der örtliche Polizeischef die “Multe”, Strafzettel, der vergangenen Woche einkassierte, während er köstlich speiste. Ein hochangesehener, aber vollständig korrupter Beamter.
Ich reiste zwischendrin rum, in Frankreich und Schweden. Und auch da habe ich prägende Erlebnisse gehabt.
Und davor als Schüler und später als Student übernahm ich viele Jobs als “Zeitarbeiter” – heute eine “prekäre” Branche, damals sehr profitabel, weil man im Verhältnis betrachtet gut bezahlte für Leute, die sich für harte Arbeit “nicht zu schade waren”.
Ich habe Kabel im Großkraftwerk gezogen und der Papierfabrik, ich habe Fett in den Kanälen der Magarineunion gekratzt, tote Ratten inklusive und in der Nudelfabrik Schimmel aus den Maschinen gekratzt oder Nudeln in Pakete am Band verpackt, um nur ein paar Stationen zu nennen.
Das unterscheidet mich eklatant von vielen anderen Journalisten – ich kenne die harte Welt der Fabrikarbeiter.
Ich habe in Logistikzentren gearbeitet, in der BASF mit hochgefährlichen Chemikalien, Hochöfen bei Wahnsinnshitze gereinigt, Straßenpflaster verlegt und und und.
Und ich kenne den Elfenbeinturm der “gesitteten Wissenschaften” mit all den “herausragenden Wissenschaftlern” und dann habe ich Empirie betrieben – über viele Jahre. Die Basisdaten für die CNEP – Cross national election project zur ersten gesamtdeutschen Wahl stammten von mir. Die Studie machte der Professor Max Kaase. Mit dem hatte ich dann später Stress, weil ich seine Interpretation nicht teilte.
Den Statistikschein der VWler habe ich als Germanist und Politikwissenschaftler im ersten Lauf bestanden (Durchfallerquote über 60 Prozent) und ab dem dritten Semester, ohne Zwischenprüfung, für ZUMA, Zentrum für Umfragen, Methoden, Analysen gearbeitet, weil meine Leistungen herausragend waren – “Hiwi”, Hilfswissenschaftler durfte man damals erst ab dem fünften Semester und zuvor bestandener Zwischenprüfung werden.
Ich habe bei Eckhard Jesse studiert, das ist der mit der Totalitarismustheorie sehr umstritten. Der wollte mich wegen meiner Diskutierfreudigkeit als Doktorand. Ich habe abgelehnt, weil ich seine Theorie als nicht haltbar beurteilt habe. In Germanistik, also Literaturwissenschaft, habe ich übrigens mit 1,0 sowohl in der Arbeit wie in den Prüfungen abgeschlossen – in Deutsch in der Schule hatte ich alle möglichen Noten, auf 5en.
Warum schreibe ich das auf? Mein Lebensweg ist nicht durch Karrierebestrebungen bestimmt, sondern durch Interesse an dem, was um mich und andere Menschen herum vorgeht. Statt Tierarzt habe ich ein Studium der Literatur- und Politikwissenschaft absolviert.
Ich bin studiert, aber ich weiß, was es heißt, in Frankfurt ein Straßenpflaster bei über 35 Grad Celsius Hitze über Wochen hinweg zu legen.
Ich weiß, wie anstrengend das ist, seinen Körper einzusetzen und das eigene Hirn.
Am Montag war ich wie an anderen Tagen zuvor in der Mannheimer Innenstadt unterwegs, wegen einer neuen Reportage, die in den kommenden Tagen erscheint.
Weil meine Nacht kurz war, ich zu wenig geschlafen hatte, war ich müde und nicht wirklich fit.
Das war ein Fehler, denn mir hat die Kraft gefehlt, mir den professionellen Mantel umzulegen, der zwar Eindrücke zulässt, aber Eindringlichkeiten eben nicht.
Zurück zu Hause wollte ich mich kurz entspannen – das ging nicht. Als ich die Augen zu machte, habe ich vollständig wirre Bilder gesehen. Das war, als wäre ich plötzlich in einer Welt der Comics. Splash, boom, bang, vollständig überladene Bilder, die ikonografisch Emotionen in Szene setzen. Ich war erheblich in Unruhe versetzt.
Meine lieben Kritiker könnten jetzt meinen, ok, erledigt, der verliert gerade vollständig seinen Verstand. Stimmt nicht. Denn ich lasse mich auf sowas ein, das gehört nach meiner Auffassung für einen Journalisten zur Arbeit – denn auch das sind “Informationen”, die ich übermittle – die Situation beeindruckt nicht nur mich mit meiner Sensorik negativ, sondern viele. Ich kann das im Gegensatz zu vielen zum Ausdruck bringen. Das ist meine Arbeit, mein Job – hingehen, gucken, fühlen, checken, überprüfen, aufschreiben.
Was ich in den vergangenen Exkursionen in die Öffentlichkeit erlebt und “wahrgenommen” habe, ist ein Splash-boom-bang-Gesellschaft, von Angst und Unsicherheit getrieben.
Am Montag habe ich selbst ein wenig Schaden genommen, weil ich mich nicht selbst geschützt habe, das ist nicht außergewöhnlich besorgniserregend, das kann ich für mich verarbeiten. Auch, wenn es hart ist.
Was aber ist mit den Menschen, die nicht meine professionelle Erfahrung haben, nicht gelernt haben, mit negativen Emotionen umzugehen?
Also mit den meisten Menschen, die nicht in Berufen arbeiten, wo schlechte Gefühle zum Job gehören? Können die damit umgehen? Wenn nicht, was macht das mit diesen Menschen?
Die angeblichen Lockerungen sind für viele keine – weil, das ist eine dringende Perspektive, für viele Menschen ebenso erhebliche Probleme darstellt, wie zuvor die Beschränkungen.
Mein Ausflug in die Innenstadt Mannheims war geprägt von negativen Signalen – die Menschen sind erheblich unsicher, ängstlich, gestresst und ratlos. Ich war kaum ein Stunde mit meinem Fotografen unterwegs, da gingen den Security-Mitarbeiter an, aus Sorge, er könnte “Schwachstellen” dokumentieren. Es war ein kurzer Austausch, die Security-Leute waren freundlich und haben verstanden, dass wir journalistisch arbeiten – es hätte auch anders enden können.
Ich gehe davon aus, dass dem nicht nur in Mannheim so ist, sondern in vielen anderen Städten auch. Man will zurück zum “Normalzustand”, wie das viele Medien nennen.
Was für ein Blödsinn – was ist den schon “normal”? Gemeint ist vermutlich, ein einigermaßen sorgenfreies Leben mit bekannten Regeln, vor dem “Lockdown”. Doch das wir nicht mehr so sein können.
Viele Medien befördern diese Stimmungen – und zwar negativ, indem sie falsche Prämissen setzen und falsche Hoffnungen schüren.
Auch vor der Corona-Krise war das Leben für viele Menschen nicht “normal”, also alles easy, wir gehen zu Arbeit, trinken dann einen Absacker und mampfen ein paar Garnelen beim Lieblingsitaliener.
Das ist nicht die Realität für die breite Masse der Bevölkerung – viele Journalisten sind nicht in der Lage, ihr privilegiertes Leben von dem anderer zu unterscheiden. Und selbst die prekär Beschäftigen in der Medienbranche, die Legion sind, reflektieren das nicht, weil sie alle hoffen, irgendwann in den Privilegiertenstatus zu wechseln.
Zusammengefasst: Mein rund dreistündige Exkursion heute in der Mannheimer Innenstadt bezeichne ich als Horror-Trip.
Die Emotionen waren massiv negativ, die Stimmung fatalistisch, auch, wenn insgesamt alle versucht haben, “Haltung zu bewahren”. Als journalistisches Sensorium hat mich dieser Ausflug extrem erschreckt.
Das korrespondiert mit der Aktivität – ja, es waren viel mehr Menschen unterwegs als in den vergangenen Wochen, aber sie waren nur unterwegs, also die, die sich das trauten und die, die meinten, unterwegs zu sein, sei so etwas wie innere Freiheit.
Ich habe kein Lachen gehört, keine ausgelassene Stimmung erlebt, kein lockeres Miteinander – es war komplett asozial. Die Stimmung war paranoid, wer unterwegs war, wollte in Bewegung sein, aber die Sorge, die Angst, der Zweifel, alle diese Gefühle waren greifbar.
Der Lockdown hat diese Gesellschaft in Mannheim erkennbar massiv verletzt. Ich habe Informationen, dass es an anderen Orten anders zugeht – dazu wird RNB berichten.
Wir berichten natürlich auch zu Mannheim – auch mit einer neuen Fotoreportage.
Aktuell ist klar, trotz neuer “Freigaben” durch die politischen Entscheider, die Herzen sind eng, die Menschen verängstigt und die Stimmung am Boden.
Es gibt keinerlei Zuversicht.
Die Stimmung ist fragil. Sie könnte negativ umschlagen.
Ich als Journalist und Kolumnist nicht staatstragend – sondern ein Sensor. Diese Aufgabe ist mein Job. Eine kritische Auseinandersetzung.
Dieser Artikel ist nicht fertig – es folgen weitere.