Mannheim, 03. März 2015. (red/pro) Jeder einigermaßen vernünftige Mensch, der tatsächlich noch Zeitung liest, musste sich heute die Augen reiben: “Der ist stiften gegangen”, macht der Mannheimer Morgen im Lokalteil auf. Die Zeitung schafft es, aus Null Informationen die absolute Räuberpistole zu basteln. Frei von Anstand, Respekt und sowieso von irgendwelchen journalistischen Regeln.
Kommentar: Hardy Prothmann
Die folgenden Sätze haben es in sich. Und sie stammen nicht aus der Bild-Zeitung. Sie sind original “Monnemer Dreck”- frei Haus geliefert vom Mannheimer Morgen:
KRIMINALITÄT: Mutmaßlich an Mannheimer Messerstecherei Beteiligter entkommt schwer verletzt / Vier Helfer?
Verdächtiger flieht aus Klinik
Von dieser Station der Chirurgie im Mannheimer Klinikum hat sich der 29-jährige Tatverdächtige abgesetzt – mit tiefen Stichwunden.
Der schwer verletzte Mann, der nach der Messerstecherei am Mannheimer Marktplatz in Lebensgefahr schwebte, ist gestern aus dem Klinikum von der Station xxx* geflohen. Das bestätigte die Polizei unserer Zeitung auf Anfrage.
Laut Polizei gilt der Verletzte nicht nur als Opfer, sondern steht auch im Verdacht, einer der Akteure der Messerstecherei und Schießerei gewesen zu sein.
Offenbar wollten ihn Komplizen aber wegbringen – entweder, um Aussagen bei der Polizei zu verhindern, oder um ihn vor Racheakten zu schützen, hieß es.
Vor der Tür ist kein Stuhl zu sehen. Laut Polizei gab es keine Rechtsgrundlage, ihn zu bewachen. Der 29-Jährige sei nicht festgenommen worden.
(* von uns anonymisiert) Diese Sätze sind Zitate aus Berichten von Peter W. Ragge, Cassandra Lajko und Christian Beister:
Verdächtiger flieht aus Klinik
Fakten
Fakt ist: Es gab am Mittwochabend vergangener Woche eine Messerstecherei und Schießerei. Dabei wurden mindestens vier Personen verletzt, drei durch Messer, eine durch eine Schussverletzung. Gegen einen Tatverdächtigen Mann wurde Haftbefehl erlassen, fünf vorläufig festgenommene Männer wurden wieder auf freien Fuß gesetzt.
Der Mann, der am Montag das Krankenhaus verlassen hat, wurde ebenfalls erheblich verletzt. Ob er nur Opfer war oder möglicherweise auch Täter steht noch nicht fest. Deswegen ist gegen ihn kein Haftbefehl ausgestellt worden – bis zum Beweis des Gegenteils ist er damit Opfer und ein freier Mann.
Jemand, der nicht festgesetzt oder gar verhaftet ist, kann überhaupt nicht “fliehen”, auch nicht “stiften gehen” oder “entkommen” und sich schon gar nicht “absetzen”.
Glatte Lüge ins Gesicht der Leser
Und wenn die Zeitung schreibt, die Polizei würde die “Flucht” bestätigen, dann ist das schlicht und ergreifend eins: Dem Leser glatt ins Gesicht gelogen. Denn die Polizei bestätigt auf Anfrage lediglich, dass sie Kenntnis davon hat, dass der Mann das Krankenhaus wohl verlassen habe. Die Auskunft von Polizeisprecher Norbert Schätzle geht so:
Der Mann ist erwachsen und frei, hinzugehen, wohin er will. Es liegt kein Haftbefehl vor, noch liegen ausreichende Gründe vor, ihn zu bewachen.
Ein möglicher Racheakt, vor dem die “vier Komplizen” ihn “retten” wollten? “Dazu haben wir keine Erkenntnisse”, heißt es lapidar von Seiten der Polizei.
Oberstaatsanwalt Andreas Großmann sagt:
Der Mann ist im Kreis der Verdächtigen zum Vorfall am vergangenen Mittwochabend. Zur Zeit liegen keine konkreten Informationen vor, die ihn zu einem Beschuldigten zu machen.
Verantwortungslos und verlogen
Es könnte schon sein, dass aus dem verletzten Opfer irgendwann ein beschuldigter Tatverdächtiger wird – wenn die Ermittlungsbehörden dafür konkrete Beweise finden. Es gibt viel, was sein könnte – gute journalistische Arbeit hält sich an Fakten. Natürlich ist in Ausnahmefällen auch eine “Verdachtsberichterstattung” erlaubt – welchen Verbrechens man aber jemanden, der in Begleitung von vier Personen ein Krankenhaus verlässt aber verdächtigen will, weiß allein der Mannheimer Morgen.
Die “Schutzzone” von Menschen in Not wird vom Mannheimer Morgen so detailliert beschrieben, dass möglicherweise “Schaulustige” oder auch andere “Reporter” genau wissen, wo sie “fündig” werden können. Das Foto der Station, die Tür zum Krankenzimmer – nichts ist den “Reportern” heilig.
“Unschuldsvermutung”?
Eine “Unschuldsvermutung” gibt es schon gar nicht – der “flüchtige Mann” wird zum “Tatverdächtigen”, der sich “abgesetzt hat”, “geflohen ist”, die “vier Männer” werden zu “Komplizen”, das Szenario wird frei nach dem “Paten” zur Mafia-Kriminalstory umgedichtet.
Tatsache ist: Das Verlassen eines Krankenhauses ist weder eine strafbare Handlung, noch ein “Absetzen”, noch eine “Flucht” und Begleiter sind keine “Komplizen” und niemand, der sich “selbst aus ärztlicher Behandlung entlässt”, ist deswegen “tatverdächtig”. Das Strafgesetzbuch kennt keine Paragrafen: “Strafbewehrtes Verlassen eines Krankenhauses”.
Tatverdächtige Reporterdarsteller
“Tatverdächtig” sind höchstens Reporterdarsteller. Sie vorverurteilen nicht nur einen verletzten Menschen, diskriminieren ihn ohne jede Grundlage als “flüchtigen Tatverdächtigen” und bezeichnen vier unbekannte Männer pauschal als “Komplizen” für welches unterstellte “Verbrechen” auch immer.
Diese Reporterdarsteller dringen auch noch in ein Krankenhaus ein, befragen dort unbedarfte “Zeugen” und veröffentlichen Fotos aus geschützten Räumen.
Die Lokalzeitung, die gerne mal was von “Wettergöttern”, “Gerstensaft” und “leckeren Bratwürsten” berichtet und zum Inbegriff des “Bratwurstjournalismus” geworden ist, entwickelt sich weiter in Richtung “Blutwurstjournalismus” – allerdings mit abgelaufenem Verzehrdatum.