Rhein-Neckar, 26. Oktober 2011. (red) Seit ein paar Tagen „geistert“ eine Meldung durch soziale Netzwerke wie Facebook, dass vor Ort ein Mann Kinder anspreche und diese in einen „weißen Bus“ locken wolle. Was wie die mögliche Bedrohung von Kindern durch pädophile Kindesentführer klingt, ist eine unwahre Geschichte, ein so genannter „Hoax“. Trotzdem ist die Bedrohung real – allerdings eher durch Männer im unmittelbaren „vertrauensvollen“ Umfeld der Kinder.
Von Hardy Prothmann
Egal, wie man es nennt, ob übler Scherz, Kettenbrief, Hoax, „urban legend“ – die Geschichten funktionieren immer gleich. Ein Empörungsthema wird gesucht, eine Bedrohung, irgendetwas, das viele Menschen berührt.
So auch die Warnung, man habe vor der Schule einen weißen Bus gesehen, ein Mann spreche Kinder an, die Mama hat gesagt, dass der Junge mitfahren muss, weil der reguläre Bus nicht kommt, etwas passiert ist und so weiter. Obligatorisch ist die Aufforderung, die Nachricht weiter zu verbreiten, „um andere zu warnen“.
Und flugs verbreitet sich das Gerücht – in Zeiten des Internets rasant. Der „weiße Bus“ ist mittlerweile in ganz Deutschland vor Schulen gesehen worden. Es gibt mittlerweile dutzende Varianten der Geschichte, deren Botschaft im Kern lautet: „Achtung, pädophiler Kinderschänder hat es auf Dein Kind abgesehen.“
Schutzreflexe

Wer Angst vorm "weißen Bus" hat, sollte sich viel mehr vorm "weißen Talar" fürchten. Quelle: regensburg-digital.de
Der Schutzreflex ist verständlich. Auch ich habe die Meldung gestern gelesen und war sofort aufmerksam. Der Sohn ist mit 17 Jahren „zu groß“, aber da ist ja noch die Tochter, die beschützt werden muss. Als ich die Nachricht zu Ende gelesen hatte, habe ich nach Hinweisen gesucht, bei der Polizei nachgefragt. Weniger, weil ich beunruhigt war, sondern aus einem journalistischen Reflex heraus. Kann das sein? Ist da was dran? Das Ergebnis: Keine Erkenntnisse. Keine Hinweise. Damit war die Sache für mich erledigt.
Da der Bus oder vielmehr die angebliche Geschichte seine Bahnen zieht, braucht es offensichtlich doch eine „offizielle“ Entwarnung. Es gibt ihn nicht, den „weißen Bus“.
Den „weißen Bus“ gibt es nicht – wohl aber die Angst
Tatsächlich gibt es große Ängste – das eigene Kind in den Fängen pädophiler Verbrecher… Eine Horror-Vorstellung für viele Eltern. Tatsache ist aber, das sexuelle Gewaltverbrechen (mit Todesfolge) seit Jahren rückläufig sind.
Das hat vor allem mit einer erhöhten Aufmerksamkeit zu tun, mit Prävention, mit guter Polizeiarbeit. Der allerschlimmste „Horrorfall“, der sexuelle Missbrauch mit Todesfolge ist die absolute Ausnahme. 2009 hat die „Polizeiliche Kriminalstatistik“ (PKS) in Deutschland zwei solcher Fälle „erfasst“, 2010 keinen einzigen.
So erschütternd jedes einzelne Schicksal ist: Statistisch gesehen ist die Bedrohung, gemessen an einer Bevölkerungszahl von rund 80 Millionen Menschen, nicht messbar. In krassem Gegensatz dazu steht die Angst davor.
Missbrauch in der Statistik
Schaut man auf die „kalten“ statistischen Daten, fällt vor allem der „sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen“ auf. Diese Täter fahren keinen „weißen Bus“, sondern sind meist im alltäglichen „Umfeld“ der Kinder zu finden.
Es sind Väter, Brüder, Onkel, Opas, Nachbarn, Mitarbeiter von „Jugendorganisationen“, Vereinsfunktionäre, Kirchen, Ärzte, Sozialarbeiter – eben alle, die „alltäglich“ mit Kindern zu tun haben. Die Täter sind meist männlich und im direkten Kontakt mit Kindern. Nicht der „böse Unbekannte“, sondern der „Bekannte“ ist die reale, böse Bedrohung.
Das perfide an dieser Bedrohung – es sind Personen, den man eigentlich vertraut. Von denen „man das nicht denkt“.
Hier gehen die Missbrauchszahlen in die tausende. Statistisch gesehen muss man diesen Zahlen misstrauen. Ganz im Gegensatz zu den Zahlen über entführte Kinder, die zu Tode kommen. Die sind sehr exakt.
Die sexuellen Missbrauchsfälle, die durch „bekannte“ Personen begangen werden, werden wegen Schamgefühls, Sorgen um die „öffentliche“ Stellung häufig nicht angezeigt. Die Dunkelziffer ist nicht zu bemessen, man kann aber davon ausgehen, dass sie sehr hoch ist.
„Jungs“ haben es „schwerer“
Nicht nur Frauen wissen das sehr genau. Welche Frau erzählt schon gerne, dass der Opa sie „gestreichelt“ oder sie ihre „Unschuld“ durch den „Onkel“ verloren hat? Kaum eine. Trotzdem gibt es immer mehr Frauen und Mütter, die sich dem Missbrauch stellen und ihn nicht einfach „abtun“.

"Echte" Missbrauchzahlen findet man als statistische Zahlen in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik. Jeder Fall ist erschütternd - die Zahl der Fälle ist aber "gering". Die Dunkelziffer hingegen hoch. Quelle: PKS
Für „Jungs“ ist das bis heute noch viel schwerer. Als „Mann“ einen Missbrauch einzugestehen, ist auch durch „Rollenbilder“ sehr viel schwieriger. Mal ganz ehrlich? In wie vielen Köpfen geistert noch der Blödsinn rum, dass „Frauen genommen werden“ und „Männer nehmen“? Und was ist dann mit „Männern“, die „(heran)genommen“ wurden? Sind das Männer oder nur einfach „Schwuchteln“?
Solche blödsinnigen Rollenbilder machen es pädophilen Tätern einfach. Und die Scham der Opfer, der Familien und der Gesellschaft schützt die Täter zusätzlich. Das ist die Perversion der Perversion.
Als eine der größten „Missbrauchsorganisationen“ geriet die katholische Kirche in die Kritik – die Welle der Anzeigen und „Offenbarungen“ reißt nicht ab. Und eine „ehrenwerte“ Haltung der katholischen Kirche, Missbrauchsfälle konsequent und ohne Kompromisse zu verfolgen, ist nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil – die Vertuschung hat Methode, selbst unter Einsatz juristischer Mittel.
Auch mein Kollege Stefan Aigner aus Regensburg ist so eine Art „Missbrauchsopfer“. Eineinhalb Jahre musste sich der freie Journalist gegen die Diözese Regensburg wehren, die ihn verklagt hatte, weil er in einem Bericht Zahlungen an die Familie eines Missbrauchsopfers als „Schweigegeld“ benannt hatte.
Das bekannteste Beispiel für „sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener“ in unserer Region ist die „Odenwaldschule“. Nach einem Bericht von Spiegel online wurden hier „sexuelle Dienstleister fürs Wochenende eingeteilt.“
„Schulleiter, Kirchenvertreter, Ministerien – alle reden von „Einzelfällen“ des sexuellen Missbrauchs an Schulen. Inzwischen sind es ziemlich viele Einzelfälle. Die Schulen haben einen blinden Fleck, die Behörden offenbar einen toten Winkel: Wo ist die staatliche Schulaufsicht, wenn man sie braucht?“,
fragt Spiegel online in einem weiteren Artikel.
Die reale Bedrohung ist nicht der „weiße Bus“, sondern das Umfeld.
Für Eltern und ihre Kinder muss klar sein, dass nicht der „weiße Bus“ die echte Bedrohung darstellt – die tatsächliche Bedrohung liegt aber tatsächlich vor Ort im vermeintlich vertrauenswürdigen Umfeld.
Der beste Schutz der Täter ist die Scham, die viele empfinden. Der beste Schutz vor den Tätern und auch nach einer Tat ist die Anzeige und notfalls auch die Öffentlichkeit – damit anderen nicht dasselbe „Schicksal“ widerfährt.
Dafür braucht es sicherlich Mut. Mehr, als eine dubiose Meldung weiter zu verbreiten, die nur das Angstthema schürt.
Wer wirklich etwas gegen Missbrauch tun will, darf einen solchen nicht verschweigen. Der Missbrauch darf kein „Tabu“-Thema sein. Und es gibt mittlerweile durch Polizei und Behörden umfangreiche Hilfen.
Auch privat sollte das Thema kein Tabu mehr sein. Hier gilt es, den Opfern Mut zu machen und sie frei von jeder Schuld zu halten.
Wer Opfer eines Missbrauchs geworden ist, hat trotzdem jedes Recht, mit Würde behandelt zu werden. Die Täter sind die Schuldigen. Wenn die Gesellschaft das begreift, wird es weniger Opfer und damit auch weniger Täter geben.
Und irgendwann verschwindet vielleicht auch die übertragene Angst vor „weißen Bussen“.