Schriesheim, 25. Juli 2013. (red/pro) Aktualisiert. Der CDU-Stadtrat Adrian Ahlers hat in der Gemeinderatssitzung vom 24. Juli 2013 den Ruf der Stadt Schriesheim ohne Not und vorsätzlich beschädigt – auch, wenn das viele vielleicht nicht so sehen und schnell wieder vergessen wollen. Die Debatte um den Umgang mit Neubürger/innen oder eingebürgerten “Neudeutschen” endete nicht mit einem Handschlag für Eingebürgerte, wie die FDP forderte, sondern mit einem verbalen Faustschlag gegen eine Eingebürgerte.
Von Hardy Prothmann
CDU-Stadtrat Adrian Ahlers sagte nach einer fast 45-minütigen Debatte zwischen den Fraktionen zur GLS-Stadträtin Fadime Tuncer:
Ihre Erfahrungen in allen Ehren akzeptiere ich gerne, aber so, wie Sie es formulieren, tun Sie so, als wäre die deutsche Staatsbürgerschaft eine Krankheit. Ich bin beleidigt, wenn Sie auf diese Art und Weise die deutsche Staatsbürgerschaft herunterziehen.
Fadime Tuncers Replik kam umgehend und empört:
Wie kann ich etwas herunterziehen, das ich selbst habe?
Einen weiteren Eklat verhinderte die zuvor bereits von Bürgermeister Hansjörg Höfer geschlossene Rednerliste.
Was war passiert?
Im Februar stellte die FDP einen Antrag, der nicht-öffentlich und wie man hört durchaus nicht zustimmend diskutiert worden war: Neu eingebürgerte Deutsche sollten künftig per Handschlag durch den Bürgermeister begrüßt werden. In einer email an die Gemeinderatskollegen schrieb FDP-Stadtrat Wolfgang Renkenberger:
Es ist ein Antrag, wie ich meine, ohne jegliche politische „Färbung“. Er ist geradezu „unspektakulär“ und eignet sich wohl nicht für irgendwelche Polarisierungen oder Empörungen.
Falls Herr Renkenberger das tatsächlich so meinte – so lag er vollkommen falsch. Der Antrag war sehr wohl geeignet, Polarisierungen und Empörungen hervorzurufen.
Die Grüne Liste Schriesheim formulierte ihrerseits einen Antrag, der gestern verhandelt wurde. Die Fraktion schlug vor, im Sinne einer guten “Willkommenskultur”, allen zugezogenen Neubürger/innen ein bis zwei Mal im Jahr eine Stadtführung anzubieten. Eine Formulierung zu Nationalitäten sucht man im Antrag vergebens.
CDU-Stadtrat Adrian Ahlers beantragte, eine Entscheidung zu vertagen. Der Antrag der GLS sei unterstützenswert, aber ebenso der der FDP. Die beiden Fraktionen sollten Gelegenheit haben, sich auf einen gemeisamen Antrag verständigen. FDP-Stadtrat Renkenberger gab sich sehr zahm, er bestehe nicht auf seinem Antrag und könne auch dem grünen Antrag zustimmen, würde aber eine Vertagung auch mittragen.
Der Wahlkampf hat begonnen
Der SPD-Stadtrat Karl-Heinz Schulz bemängelte, dass der Bürgermeister zuvor nicht mit beiden Antragstellern gesprochen habe. Schließlich hätten beide Anträge dieselbe Motivation. Er stellte fest:
Der Wahlkampf hat begonnen.
Bürgermeister Hansjörg Höfer sah das anders:
Es war so ausgemacht, dass die FDP den Antrag modifiziert. Dann kam der Antrag der GLS. Und es ist für mich eine politische Unterscheidung, ob man Menschen begrüßt, die Deutsche geworden sind oder solche, die hier Neubürger sind. Ich weiß nicht, wie man hier einen Kompromiss finden soll.
Was auch GLS-Fraktionssprecher Christian Wolf deutlich machte:
Ich hatte die Hoffnung, dass diese Rituale vorbei sind, in unseren Anträgen ein Haar in der Supper zu suchen. Die Anträge haben nichts miteinander zu tun. Alle Menschen, die nach Schriesheim kommen, werden hier empfangen. Der FDP-Antrag ist eindeutig auf die deutsche Staatsbürgerschaft abgestimmt. Das kann man nicht zuammenbringen.
“Gute Vorschläge und Reduzierungen”
FDP-Stadtrat Renkenberger meinte, es sei nicht zu machen, die Menge an zugezogenen Neubürgern zu begrüßen und meinte, er sei durchaus bereit, sich mit den Grünen zu verständigen. Die CDU meinte, der gute Vorschlag der FDP werde jetzt auf eine Stadtführung reduziert und der “symbolische Wert” sei auf das “Deutsche” reduziert worden.
GLS-Stadträtin Famine Tuncer erläuterte nochmals den Antrag und die aus ihrer Sicht untaugliche Unterscheidung in Staatsbürger und Neubürger. Dabei schilderte sie aus ihrem Leben, wie sie mit sechs Jahren nach Deutschland gekommen war und als Studentin keine Chance auf Einbürgerung hatte. Erst als die nötigen Voraussetzungen, unter anderem eine ausreichende Wohnfläche und ein festes Einkommen vorgelegen hätten, konnte sie den Antrag stellen und wurde im Jahr 2000 eingebürgert. Ein Unterscheidung von Neubürger/innen in “Staatsbürger” und andere lehnte sie ab, denn alle Menschen seien in der Stadt willkommen, Deutsche, wie EU-Ausländer oder andere, die Bürger/innen der Stadt Schriesheim werden wollten.
SPD-Stadtrat Cuny legte nochmals nach und meinte, beiden Anträgen liege die “Willkommenskultur” zugrunde:
Die Diskussion hätten wir uns sparen können, wenn die Grüne Liste gesagte hätte, liebe FDP, können wir uns nicht einigen? Dennoch werden wir dem GLS-Vorschlag zustimmen, auch wenn wir alle hier im Rat wissen, wer den Ball ins Rollen gebracht und wer ihn dann eingenetzt hat.
CDU-Stadtrat Ansem Löweneck sagte daraufhin:
Wir werten doch durch diese Diskussion diejenigen ab, die sich tatsächlich für eine deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden.
FW-Stadträtin Jutta Becker meinte:
Hier wird eine gute Sache zerredet und ich finde, dass ist eine schlechte Außenwirkung für uns alle.
Daraufhin wurde CDU-Stadtrat Ahlers ausfällig (siehe oben).
Nochmal die Frage: Was ist passiert?
Ganz einfach: Eine politisch verabredete Strategie. Man muss nur genau hinschauen und zuhören. CDU, FDP, SPD und Freie Wähler finden den GLS-Antrag angeblich gut. Weil aber der FDP-Antrag “zuerst” da war, solle man die Sache vertagen (CDU). Die FDP habe die Vorlage geschafffen (SPD). Aber die Vorlage der GLS sei auf Wahlkampf ausgerichtet (SPD). Man habe es gut gemeint, ein Symbol setzen wollen, sei aber sowohl als auch bereit (FDP). Schade sei, dass die “gute Sache” zerredet werde (FW). Menschen, die Deutsche werden wollten, würden beschädigt (CDU). Es ist unerträglich, wie die deutsche Staatsbürgerschaft als “Krankheit” dargestellt werde (CDU).
Zusammengefasst: Die GLS macht Wahlkampf, klaut der FDP die Idee, zersetzt die deutsche Staatsbürgerschaft und stimmt sich nicht mit anderen ab. Geht es undemokratischer?
Das ist ein politisches Gauner-Stück. Inszeniert von CDU, SPD, FDP und auch von den Freien Wählern. Die Botschaft: Die GLS klaut eine Idee, setzt sich in Szene, macht Wahlkampf vor dem Hintergrund der “hehren Sache”, zeige sich zersetzend (“Krankheit”). Und alle anderen wollten doch nur das Beste – dem sich die GLS verweigert.
Ausgerechnet die Parteien, die alle Federn lassen mussten, weil sie über Jahre alles andere als demokratisch offen agieren, stellen sich als Opfer dar und der Täter ist identifiziert: Die Grünen im Allgemeinen und in persona Frau Tuncer. die eingebürgerte Türkin.
Die Darsteller sind eine CDU, die bis heute massiv unter der Schmach leidet, nach 60 Jahren die Macht im Land verloren zu haben. Unterstützt von einer SPD, die bis heute massiv darunter leidet, nur “Juniorpartner” der erstarkten Grünen zu sein. Einer FDP, die wieder mal um’s Überleben kämpft und Freien Wählern, die oft konservativer als die CDU sind.
Ein Stadtrat Cuny, der die GLS auffordert, das Gespräch mit der FDP zu suchen, ist entweder politisch vollständig ahnungslos oder begabt zynisch. Denn die Verbindung Grüne-FDP ist die schlechthin unvorstellbarste Vorstellung überhaupt – insbesondere in Schriesheim, wo die Haltung der FDP gegenüber den Grünen besonders vergiftet ist – ein Blick auf die Homepage des Ortsvereins sagt klar und deutlich, was die FDP von den Grünen hält.
Ein CDU-Stadtrat Ahlers, der mit Unterstützung von anderen nur darauf hinarbeitet, einer früheren Türkin und seit 13 Jahren eingebürgerten Deutschen vorzuwerfen, ihre Haltung gegenüber der deutschen Staatsbürgerschaft sei krank, entwertet tatsächlich die deutsche Staatsbürgerschaft selbst. Denn seine Aussage ist klar (Anmerkung der Redaktion, 30. Juli 2013: Herr Ahlers hat uns eine strafbewehrte Unterlassungserklärung zukommen lassen und verlangt, das nachfolgende “Zitat” nicht weiter zu verbreiten.” Zur Klarstellung: Der nachfolgende Satz ist ein fiktives Zitat, das Herr Ahlers nicht gesagt hat, sondern von uns aufgrund des oben geschilderten Sachverhalts so interpretiert worden ist. Das geht aus dem Kontext klar hervor. Und nicht von uns allein, auch die Fraktion der Grünen Liste Schriesheim hat von Herrn Ahlers eine Entschuldigung für seine Ausfälligkeit eingefordert, die bis heute noch nicht erfolgt ist.) :
Du hast zwar einen deutschen Pass, glaube aber bloß nicht, dass wir Dir symbolisch Respekt bezeugen. Wir wissen, wo Du herkommst. Wir lassen Dich das spüren. Wir akzeptieren die, die wir wollen. Du gehörst nicht dazu.
Lauter “Krankmeldungen”
Wenn sich jemand in dieser Gemeinderatssitzung “krank” verhalten hat, dann vor allem Herr Ahlers. Unterstützt von Herrn Löweneck. Geduldet von Herrn Cuny und Herrn Schulz. Bedient durch Herrn Renkenberger. Geschützt durch Frau Becker und die Freien Wähler. Nicht gemaßregelt durch Bürgermeister Hansjörg Höfer.
Besonders bitter: Eine moralische Unterstützung durch die eigene grüne Liste wurde Fadime Tuncer auch nicht zu Teil. Niemand aus der Fraktion haute auf den Tisch und machte klar, wie unwürdig dieses Spiel war.
Fadime Tuncer ist als Türkin auf die Welt gekommen, seit sie sechs Jahre alt ist, lebt sie in Deutschland. Im Alter von 30 Jahren hat sie sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entschieden und sich schwanger beeilt, diese zu erhalten, damit ihre erstgeborene Tochter keinen Konflikt erleben muss, als Türken-Kind in Deutschland geboren zu werden, sondern als Deutsche. Wie der Sohn. Zusammen mit ihrem früher türkischen Mann ist sie Deutsche geworden. Aus Überzeugung.
Sie engagiert sich für das Gemeinwohl. Sie ist eine politische Person. Sie verteidigt keine persönlichen Pfründe als “Alteingesessene”. Sie kann sich keine Vorteile durch die Gemeinderatsarbeit verschaffen – anders als andere. Sie möchte andere (fremde) Menschen in Schriesheim willkommen heißen und ist sogar bereit, ihre Lebensgeschichte öffentlich zu machen. Sie ist nach wie vor aus Überzeugung, freiem Willen und großer Hoffnung deutsche Staatsbürgerin geworden.
Faustschlag statt Handschlag
Um dann festzustellen, wie das ist, einen “symbolischen Handschlag” zu erhalten. Es ist ein Faustschlag in die Magengrube der eigenen Persönlichkeit.
Herr Ahlers, Herr Löweneck, Herr Cuny, Herr Renkenberger, Frau Becker – sie alle haben darüber gesprochen, worum es geht. Angeblich um ein “psychologisches Symbol” der “Willkommenskultur”. Und um das “Ansehen”.
Frau Tuncer hat emotional reagiert. Zu Recht. Weil sie gespürt hat, was offensichtlich ist. Sie ist nur eine eingebürgerte Deutsche zweiter Klasse und keine echte Deutsche. Sie wird durchstehen müssen, was so viele mit ihr teilen – einen Handschlag bekommen zu haben, aber ohne Ehre. Ohne Respekt. Sie wird gespürt haben, was viele spüren, die ihre “Nationalität” wechseln. Der alte Staat verachtet sie und der neue – auch.
Demokratische Tradition?
Der Antrag ohne jegliche politische “Färbung” der FDP hatte natürlich nur zum Ziel, eingebürgerte Deutsche “per Handschlag” in “guter, alter badischer demokratischer Tradition” von 1828 zu begrüßen. Auf spätere Anfrage kann Herr Renkenberger keine Quelle benennen. Es gibt sie nicht, die im FDP-Antrag geschilderte “Handschlag-Tradition” der demokratischen Aufnahme ins Gemeinwesen von 1828.
Die “echten” Deutschen haben in dieser Sitzung – schaut man genau hin und hört man genau zu – klar gemacht, was sie wollen. Wer in Schriesheim als Fremder deutsch sein will, muss einen symbolischen Handschlag leisten und sich dann ins System der “wahren Deutschen” einordnen. Wer eigene Ideen hat, ist “krank” und “zieht das Deutsche herunter”. Das ist mindestens rassistisch, wenn nicht noch schlimmer.
Sie finden das skandalös? Ist es. Inszeniert und passiert in Schriesheim am 24. Juli 2013 in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung mit drei Gästen.
Willkommen in Schriesheim!
Anm. d. Red.: Wie wir heute Abend erfahren haben, hat der FDP-Stadtrat Wolfgang Renkenberger heute vorgeschlagen, doch beide Anträge zu stellen. Denn jeder habe seine “Berechtigung”.