Mannheim/Rhein-Neckar, 24. September 2015. (red) Alle drei Nächte sollen über das „Drehkreuz“ Mannheim auf unbestimmte Zeit Flüchtlinge mit der Bahn in Mannheim ankommen und vor dort mit Bussen in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und ins Saarland weiterverteilt werden. Eine weitere Zusatzaufgabe für Polizei und Rettungsdienste – zu den vielen anderen in den Flüchtlingsunterkünften, die es zu meistern gilt. Die Menschen, die „gedreht“ werden, sind erschöpft. Die meisten fügen sich, manche nicht. Das spielt keine Rolle. Es muss weitergehen – go, go, go.
Von Hardy Prothmann
Vorbemerkung
Unsere Reportage ist in dieser Nacht entstanden. Der Reporter war bis kurz vor 03:00 Uhr vor Ort. Der Artikel war um 05:30 Uhr fertig. Der Einsatz begann um 23:00 Uhr. Sie lesen einen aktuellen Text. Wenn er Ihnen gefällt, teilen Sie ihn. Verbreiten Sie ihn. Kommentieren Sie ihn. Der Artikel besteht aus zwei Teilen – dem Text und einer Fotostrecke. Das ist harte Arbeit am Limit. Nachtschicht. Nieselregen. Kälte. Ist Ihnen Journalismus etwas wert? Wir freuen uns, wenn das so ist und Sie unsere Arbeit nicht einfach nur „zur Kenntnis nehmen“, sondern auch finanziell unterstützen. Denn Journalismus kostet neben allem idealistischem Einsatz Geld. Und ohne Journalismus erfahren Sie nur „PR“. Wenn Sie ehrlichen Journalismus unterstützen wollen – hier geht es zum Förderkreis.
Frank Hartmannsgruber steht inmitten seiner Kollegen und erklärt den Einsatz:
Wir wollen nicht, dass uns jemand verloren geht oder jemand auf dem Gelände ist, der nicht hierher gehört. Die Busse werden mit exakt der Zahl von Menschen besetzt, die vorgegeben ist. Als Personen werden alle gezählt, die auf zwei Beinen laufen – Kleinkinder und Babys also nicht.
Es ist der dritte Einsatz für den Revierleiter Oststadt auf dem „Drehkreuz Mannheim“ seit Dienstagmorgen. Künftig sollen alle drei Tage Flüchtlinge über Mannheim in vier Bundesländer verteilt werden.
Der Mannheimer Bahnhof bietet sich an, weil die Züge direkt gegenüber dem ehemaligen Postverteilzentrum halten können. In der Nacht werden 790 Personen erwartet. Sie sollen um 23:00 Uhr eintreffen. Wie meistens, verspätet sich der Zug. Er musste drei Mal wegen Notfällen halten – ein Notfall war die Geburt eines Kindes. Es gibt bessere Orte als einen Zug, um sein Kind auf die Welt zu bringen.
Wieso wird eine Frau kurz vor der Niederkunft noch transportiert? Das ist keine Frage, die heute Abend oder morgen oder sonstwann diskutiert werden wird. Es ist, wie es ist.
Herr Hartmannsgruber hat seine Leute eingeteilt. Sie sollen überwachen, dass die Menschen geordnet den Zug verlassen, geordnet in die Halle geleitet werden und von dort aus in „Tranchen“ auf die Busse verteilt werden. Immer wieder klingelt sein Handy. Die Bundespolizei, zuständig für den Zugverkehr, informiert ihn über die Position des Zuges. Drei Telefonate kündigen Verspätung an, dann wird es ernst: „Jetzt geht es gleich los – Leute, noch zehn Minuten.“ Bei allen Beamten steigt die Anspannung.
Kurz vor ein Uhr kommt der Zug an. Die Menschen strömen heraus. Viele todmüde. Viele vollständig ahnungslos, wo sie gerade sind. „Mannheim, Mannheim, Mannheim“, immer wieder beantworten die Dolmetscher Fragen nach dem „Wo sind wir?“:
Es gibt immer wieder Diskussionen, weil Flüchtlinge in andere Länder oder Städte weiterreisen wollen,
sagt Herr Hartmannsgruber. Er ist aber kein Reisebüro und keine Service-Auskunftsstelle. Individuelle Wünsche können er und seine Kollegen nicht berücksichtigen.
Die Dolmetscher sprechen arabisch, die afghanischen Sprachen Farsi und Urdu, kurdisch. Die Polizisten versuchen mit englisch ihr Glück – manchmal werden sie verstanden, meistens nicht. Viele der Flüchtlinge folgen den Anweisungen ruhig. Andere nicht. Immer wieder gibt es Diskussionen. Die Flüchtlinge sind „durch“ – müde und kaputt, gestresst von der Reise und der Masse um sie herum. Manche wissen gar nicht, dass sie in Deutschland sind.
Leute, geht bitte weiter. Geht bitte in die Halle. Alles ist in Ordnung. Ihr bekommt alle ein Bett zum Schlafen. Ihr bekommt zu Essen und Trinken. Ihr werdet Sim-Karten kaufen können. Keine Sorge, die Familien und Gruppen bleiben zusammen,
immer und immer wieder sagen das die Dolmetscher in den jeweiligen Sprachen. Die Botschaft ist: Wir kümmern uns um Euch, Ihr bekommt Kommunikationsmöglichkeiten. Macht Euch keine Sorgen.
Die Aufgabe ist immer dieselbe. Die Herausforderungen wechseln,
sagt Frank Hartmannsgruber, der äußerst konzentriert und umsichtig den Einsatz leitet. Die Aufgabe, das ist eine geordnete Überführung der Menschen von der Bahn in die Busse. Die Herausforderungen sind, dass man nie weiß, wie die Menschen reagieren:
Die jungen und starken Männer drängen vor. Wenn die durch sind, wird es ruhiger. Deswegen versuchen wir die Familien schon in der Halle etwas zur Seite zu nehmen.
Am Ausgang kommt es immer wieder zu enormen Geschiebe. Die Polizisten und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes werfen sich dagegen. Das ist ein Knochenjob. In Gruppen werden die Menschen aus der Halle gelassen. Gegenüber warten die Busse. Eins, zwei, drei, acht, wird gezählt. Stop. Wieder eine Kraftanstrengung, weitere Flüchtlinge drängen, die Polizisten werfen sich mit ihren Körpern dagegen.
„Wie viele noch?“ – „Noch 23“. Ein anderer Polizist leitet die Personen: „Please go, go, go.“ Der Bus hat die geforderte Zahl von Personen aufgenommen. Abfahrt. Der nächste fährt vor.
Wieder öffnen die Beamten die Lücke, zählen die Personen, machen dicht. Immer wieder wollen Personen nicht in den Bus einsteigen: Sie kamen durch die Lücke – Verwandte und Freunde aber nicht. Sie müssen wieder durch den Eingang und ihre Mitreisende neu suchen. Zumindest anfangs. Später werden sie auf die Seite gestellt. Wie viele Personen gehören noch dazu? Namen werden gerufen. Beim nächsten Schwung komplettieren sich die Familien und Gruppen.
Weiter geht es. Vereinzelt gibt es böse Blicke und gezischte Wörter, die sicher nicht freundlich gemeint sind. Die Beamten lassen sich davon nicht beeindrucken: go, go, go.
Wir wollen hier keine Familie auseinander reißen. Aber manchmal ist das echt eine Herausforderung. Ohne die Dolmetscher könnten wir das hier nicht so bewältigen,
sagt Herr Hartmannsgruber und ist schon wieder ein paar Schritte weiter. Ein Mann will wieder aus dem Bus aussteigen. Das wird freundlich, aber bestimmt unterbunden. Vielleicht wurde er von Freunden getrennt, vielleicht gab es eine anderes Problem. Für lange Diskussionen ist keine Zeit. Jede Unterbrechung bringt die Zeitpläne durcheinander. Nächster Bus.
Manche Busse werden mit gut 50 Personen ausgelastet, andere nicht. Wie viele Personen wohin kommen, hat das Innenministerium festgelegt. Ein Mitarbeiter des Regierungspräsidiums überwacht die Zahlenvorgaben. Er hat ein Klemmbrett mit Listen und weiteren Informationen. Die Plätze sind überall so knapp, dass die Personenzahlen exakt sein sollen – kommen zu viele an einem Standort an, gibt es dort Probleme, die Leute unterzubringen.
In dieser Nacht werden alle 17 Busse nur nach Hessen fahren: Hanau und Offenbach sind das Ziel. Schwung um Schwung nehmen sie die Menschen auf, um sie zu ihrem Zielort zu transportieren. Viele der Busfahrer sind selbst Migranten, die Fahrzeuge kommen von überall her. Es gibt Nummernschilder aus Hessen, dem nördlichen Rheinland-Pfalz, dem Saarland. Bei den meisten Bussen reicht das Öffnen einer Gepäckklappe. Die allermeisten Flüchtlinge haben keine Koffer, sondern nur Handgepäck oder Rucksäcke. Manche zögern, sich von den Taschen zu trennen. Alle, die nur Handgepäck haben, nehmen das, was sie haben, lieber am Körper mit in den Bus. Denn dann kann diese Habseligkeit nicht verloren gehen.
Es gibt viele Kleinkinder unter den 800 Menschen. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle ruhig. Kein Kind schreit. Wenn ihnen vor Erschöpfung nicht die Augen zugefallen sind, sind die Blicke nur auf die Eltern gerichtet. Sie spüren die konzentrierte Atmosphäre.
Feuerwehr und Rettungskräfte von Johanniter und Malteser haben heute kaum zu tun. Das war bei den ersten Einsätzen anders. Eine Frau mit multipler Sklerose erlitt einen Schub, krampfte. Eine andere musste sich übergeben – Ursache unklar: „Eine Frau musste zur Untersuchung in die Klinik, der Rest ihrer Familie musste weiter.“
In der Halle bieten die Rettungskräfte Wasser, Soft-Drinks, Süßigkeiten und Snacks an. Es sind Bierbänke aufgestellt, viele der Flüchtlinge sitzen erschöpft mit den Köpfen auf den Armen an den Tischen und schlafen. Andere liegen auf dem Boden. Vor der Halle gibt es Dixi-Toiletten. Es regnet. In der Halle wird geraucht – das kann niemand unterbinden und interessiert nicht. Hier gibt es keine Standards, sondern nur ein Drehkreuz, das vom Zug über die Halle in den Bus führt.
Die Aufgabe ist, die Menschen möglichst geordnet auf die Busse zu verteilen und weiterzuschicken. Zum nächsten Standort. Von dem aus sie wieder weitergeschickt werden. Zum nächsten Standort. Und von dort aus zum nächsten Standort. Bis sie die „Erstaufnahme“, die Registrierung, die ärztliche Untersuchung hinter sich haben und dann wieder weitergeschickt werden, zur „vorläufigen“ Unterbringung in den Stadt- und Landkreisen.
Dort soll schnell über deren Fälle innerhalb von drei Monaten entschieden werden. Rund 300.000 Asylanträge stapeln sich. Meist dauern die Verfahren weit über ein Jahr. Bei Ablehnung folgt die Abschiebung. Bei Härtefällen nicht. Wer bleiben darf, reist weiter zum nächsten Standort in die Kommunen. Aktuell sind die Erstaufnahmestellen vollständig überlastet. Der Druck auf die Stadt- und Landkreise wird folgen. Dann der auf die Kommunen. Darüber redet noch niemand.
Der Mannheimer Hauptbahnhof und das Postverteilzentrum sind nur eine Drehkreuz-Station für die Menschen, die von hier aus verteilt werden. Auf ihrer langen Reise der Hoffnung auf eine neue Heimat.
Ob sie jemals ankommen? Die Frage stellt sich nicht am Drehkreuz Mannheim. Hier ist es entscheidend, die Vorgaben der Verteilung verantwortlich einzuhalten. Frank Hartmannsgruber und seine Kollegen führen den Einsatz konzentriert durch. Die Aufgabe ist klar: Es soll niemand verloren gehen und 23 oder 47 oder 55 Personen sollen nach den Vorgaben auf die Busse verteilt werden. Das gelingt. Der Einsatz verläuft einwandfrei, trotz immer wieder aufkommender Stresssituationen, die freundlich, aber bestimmt beherrscht werden.
Auf unbestimmte Zeit wird sich der Ablauf alle zwei, drei Tage wiederholen. Mal mehr, mal weniger reibungslos. Jeder Einsatz wird anders sein und immer wieder eine neue Herausforderung.
Anm. d. Red.: Wir bedanken uns gerne und ausdrücklich beim Polizeipräsidium Mannheim, stellvertretend beim Revierleiter Frank Hartmannsgruber für das Vertrauen in unsere Arbeit. Es gab keine Einschränkungen, die uns in irgendeiner Weise behindert hätten, sondern ganz im Gegenteil das Angebot, die Arbeit der Polizei kritisch zu begleiten. Wir konnten uns zu jeder Zeit frei und ohne Einschränkungen im Einsatzgebiet bewegen. Der Kontakt zu den Beamten war offen und ohne Einschränkungen möglich. Wir teilen das gerne und bewusst mit, weil wir auch andere Erfahrungen machen. Das Polizeipräsidium Mannheim loben wir aus unserer Sicht ausdrücklich gerne, weil uns zu keiner Zeit Informationen oder Zugänge verwehrt worden sind. Der Respekt vor der Pressefreiheit ist vorbildlich. Den beteiligten Beamten an diesem Einsatz drücken wir gerne und ohne Einschränkung unseren Respekt vor deren Leistung aus. Ebenso den Beteiligten von Feuerwehr und Rettungskräften.