Mannheim/Rhein-Neckar, 11. Mai 2014. (red) Warum bespielt das Hermann Art Kollektiv in Mannheim den Stummfilm “Berlin – Die Sinfonie der Großstadt” (1927)? Vielleicht, weil es wenige Stummfilme gibt, die wie eine Sinfonie komponiert sind. Und weil es eine Herausforderung ist, einen 87 Jahre alten Film zu bespielen. Und ein Erlebnis.
Von Hardy Prothmann
Tag für Tag fuhr ich mit meinem Aufnahmewagen durch die Stadt um bald im Westen den verwöhnten Kurfürstendammbewohner zu überlisten, bald im Scheunenviertel ärmstes Berlin einzufangen. Täglich wurden die Aufnahmen entwickelt und ganz ganz langsam, nur für mich sichtbar begann sich der erste Akt zu formen. Nach jedem Schnittversuch sah ich was mir noch fehlte, dort ein Bild für ein zartes Crescendo; hier ein Andante, ein blecherner Klang oder ein Flötenton und danach bestimmte ich immer von neuem, was aufzunehmen und was für Motive zu suchen waren – ich formte mein Manuskript dauernd neu während der Arbeit. (Walter Ruttmann, Licht-Bild-Bühne, 08.10.1927, zitiert nach ARTE)
Das Ensemble des Hermann Art Kollektivs improvisiert den dramaturgischen Fahrplans des Films. Experimentell, teils durch sprachliche Komponenten von Samples und Text unterbrochen. Teils atemberaubend schön und authentisch, teils verstörend, teils als wäre es eine Filmmelodiekomposition. Eine großartige Leistung eines freien Ensembles, das sich mit großer Spielfreude aufeinander und den Film einlässt.
Und ein Erlebnis, über das sich die rund 120 Gäste freuen und alle ärgern dürfen, die es verpasst haben. Wann hat man schon mal die Chance, ein so altes Werk im Blick zurück nach vorn mit herausragenden Musikern zu erleben, die in einer Performance Bilder betonen?
Überraschungen für die Ohren
Ganz klar: Das ist teils enorm anstrengend. Vor allem dann, wenn es “crowdy” wird. Wenn die Hektik einer Großstadt pulsiert. Wenn Hunde oder Männer aufeinander los gehen oder Pferde zusammenbrechen oder Menschen über Straßen hetzen oder ein wilder Verkehr von Männern mit großen Hauben geregelt wird. Puhh. Da macht auch die Improvisation nicht halt vor. Und auch klar: Manchmal “routinieren” die Musiker professionell und es gibt Phrasen aus der Hausapotheke. Aber immer wieder gibt es während der 64 Minuten grandiose Überraschungen für die Ohren.
Der Stummfilm ist ein “modernes” Dokument für die damalige Zeit. Mit schnellen Schnitten, die für damalige Zeiten verstörend waren. Der Film erzählt einen Tag in der nach dem 1. Weltkrieg immer noch gezeichneten Stadt. Auch Mannheim kommt drin vor – als Station der Reichsbahn auf dem Weg von Berlin nach Italien.
Wie modern ist der Film heute? Menschen gehen zur Arbeit, zur Mittagszeit wird gegessen und geruht, der Tag verläuft, der Abend gehört den Veranstaltungen und dem Ausklingen der Großstadt. Also sehr modern – nur eben schon sehr alt.
Historie trifft Wahlkampf – zufällig
Siegfried Kracauer, Journalist und Soziologe kritisierte damals die “Oberflächlichkeit und die damit einhergehende soziale Blindheit des Films“:
Während etwa in den großen russischen Filmen Säulen, Häuser, Plätze in ihrer menschlichen Bedeutung unerhört scharf klargestellt werden, reihen sich hier Fetzen aneinander, von denen keiner errät, warum sie eigentlich vorhanden sind.
Heute würde er sich dafür vermutlich schämen und es anders formulieren. Ganz sicher ist “Berlin – Die Sinfonie der Großstadt” kein sozialkritischer Film. Aber er zeigt viel Sozialkritisches. Zwangsläufig. Durch seine “fetzige” Aufnahme und der schnelle Schnitt dynamisiert das “pulsierende” Leben, dass schon damals durchaus stressig war. Und das Projekt ist gut gewählt – auch Mannheim ist eine Stadt mit teils verstörender Sinfonie. Insbesondere in Zeiten des Wahlkampfs.
Das Hermann Art Kollektiv sind Künstler, die sehr voller Empathie umsetzen, was sie sehen und spüren. Wie es auf sie wirkt. Und die teils sehr anstrengenden Momente wirken mit dem Film. Das fasziniert – wenn man bereit ist, sich drauf einzulassen.
Hermann Art Kollektiv – hingehen und staunen
Im Gegensatz zu Regisseur Ruttmann können sie nicht “nachdrehen”, was sie benötigen – sie improvisieren. Es gibt kein Studio und keinen Schnitt. Die Töne und Geräusche erklingen mit den Bildern und sind vorbei. Nicht reproduzierbar in der Art. Wie ein Lebensgefühl, dass immer nur den Moment beherrscht.
Ein langer Applaus, der die Künstler zu einem dritten Auftreten und Verbeugung vor dem Publikum herausholt, war mehr als verdient. Für die Künstler und das Publikum. Das Hermann Art Kollektiv ist wunderbar in der Performance, aber auch anstrengend. Wie das Leben. Das darf und muss so sein.
Es gibt noch drei weitere Events dieser Künstlergruppe im Mai 2014. Wer heute nicht dabei war, hat eine hervorragende Vorstellung verpasst und noch genau drei Chancen, dabei zu sein. Deswegen mein Tipp: Hingehen und erleben. (Beachten Sie die Werbung in der Seitenspalte.)
Es spielten:
Thomas Siffling (Trompete), Alexandra Lehmler (Saxophon), Lömsch Lehmann (Saxophon/Klarinette), Anke Helfrich (Piano), Claus Kiesselbach (Vibraphon), Matthias Debus (Bass), Erwin Ditzner (Schlagzeug), Jens Wienand (Sprache).