Weinheim, 09. Februar 2017. (red/pro) Eher ungewöhnliche „Touristen“ verirrten sich am Dienstag in die Weinheimer Innenstadt – eine 9-köpfige Wildschweinrotte war am Nachmittag für rund eine Stunde in der Stadt unterwegs. Ein Tier brach sich dabei einen Vorderlauf und wurde durch einen Jäger vor Ort erlegt. Der Rest der Rotte verschwand spurlos. Der Grund für das Auftauchen der scheuen Tiere ist unbekannt – vermutlich waren sie auf der Flucht. In Norddeutschland sind Wildschweine längst „Kulturfolger“ – demnächst auch hier?
Von Hardy Prothmann
Wieso tauchte an einem Dienstagnachmittag gegen 15 Uhr eine Wildschwein-Rotte in der Weinheimer Innenstadt auf? Das wird niemand eindeutig beantworten können.
Als ziemlich sicher kann gelten, dass die Wildschweine nicht freiwillig „auf Stadtbummel“ unterwegs waren, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Flucht waren. Doch vor wem?
Tödlicher Spritztour
Steffen Vree, Hegekreisleiter Weinheim der Kreisjägervereinigung, sagt:
Möglicherweise hat ein freilaufender Hund die Rotte aufgeschreckt. Die Tiere flüchten dann panisch und je nach Ort, Umständen und fehlender Ausweichmöglichkeit könnte es sein, dass der einzige Weg in die Stadt hinein war.
Und dort dürfte sich die Rotte eher noch unsicherer gefühlt haben. Nirgendwo Deckung. Eine unbekannte Gegend. Verkehr. Unbekannte Gerüche. Es dauerte eine knappe Stunde, bis die Tiere in ihrer Panik einen Weg aus der Stadt gefunden hatten – welchen, weiß niemand. Für eine junge Wildsau endete der Ausflug tödlich – sie brach sich im Galopp durch die Stadt das Bein und musste von einem Jäger erlegt werden.

Dieses etwa fünf Monate alte Tier brach sich beim Galopp durch die Stadt einen Vorderlauf und wurde von einem Jäger erlöst. Foto: Stadt Weinheim
Waren die Wildschweine eine Gefahr für die Bevölkerung?
Grundsätzlich sind Wildschweine keine Gefahr, weil sie flüchten. In die Ecke gedrängt und ohne Ausweichmöglichkeit können sie gefährlich sein,
sagt Herr Vree.
Wildschweine können gefährlich sein – theoretisch
Was also tun, wenn man Wildschweinen gegenübersteht?
Das ist eine sehr theoretische Frage, weil der Fall äußerst selten ist. Grundsätzlich sollte man nicht wegrennen, aber dringend Deckung suchen. Da reicht schon eine Motorhaube. Wildschweine können nach oben schlecht sehen und noch schlechter beißen. Wenn ein Wildschwein eine Fluchtperspektive hat, wird es diese nutzen.
Wildschweine sind äußerst scheue Tiere und überwiegend ab der Dämmerung und nachts aktiv. Tagsüber halten sie sich versteckt und ruhen – außer, sie werden aufgeschreckt. Rotten bestehen aus 5-20 Tieren. Je nach Jahreszeit. Ab März-April werden die meisten Jungtiere (Frischlinge) geboren und damit steigt die Zahl der Mitglieder einer Rotte sprunghaft. Im Verband leben nur die Bachen sowie der Nachwuchs.
Die Keiler sind Einzelgänger und kommen nur zur Paarungszeit (Rauschzeit) mit den Bachen zusammen – in der Regel ist das zum Jahresende der Fall, wobei auch spätere Verpaarungen möglich sind, beispielsweise, wenn eine Bache ihren Nachwuchs früh verliert. Der Keiler „kann immer“, ist aber abhängig von der Paarungsbereitschaft der Sau.
In aller Regel besteht eine Rotte aus der Leitbache und höchstens dem Vorjahresnachwuchs (Überläufer), der teils selbst Nachwuchs haben kann, sich dann spätestens ab dem dritten Jahr abtrennt. Jungkeiler leben kurzeitig in kleinen Verbänden zusammen und werden dann Einzelgänger.
Wildschweine haben enge soziale Gefüge. Stirbt eine Muttersau – aus welchem Grund auch immer – , übernehmen andere die Frischlinge. Die Rotte bietet Schutz, vor allem für den Nachwuchs. Zu große Rotten sind zu auffällig, möglicherweise ist das eine „Überlebensstrategie“ der Wildschweine, die sich regelmäßig in kleinere Verbände aufteilen, die sich durchaus erkennen, aber „ihrer Wege gehen“. Wildschweine sind keine Jäger, sondern unter anderem Aasverwerter. Sie wollen fressen, aber nicht gefressen werden.
Hoher Populationsdruck?
Wie viele Wildschweine auf der Gemarkung Weinheim leben, ist nicht bekannt und schwer messbar:
Die Rotte, die sie heute in Weinheim beobachten, kann morgen in Bensheim auftauchen,
sagt Kreisjägermeister Albert Vock. Wildschweine sind hervorragende Schwimmer, die ohne Probleme auch Flüsse überqueren können, auf festem wie auf weichem Boden per „Allrad“ gut vorankommen und im Trab über lange Zeit problemlos bis zu zehn Kilometer in der Stunde zurücklegen.

Endstation Marktplatz für dieses Wildschwein. Foto: Stadt Weinheim
Die Streifgebiete der Tiere haben durchaus einen Radius von 30 Kilometern, den sie durchstreifen. Dabei folgen sie meistens dem Futterangebot. Sie lieben Mais und Getreide und halten sich dementsprechend in solchen Feldern und in der Nähe auf, wenn die Körner reifen. Im Wald suchen sie vor allem Eicheln und Bucheckern. Beim Aufbrechen von Boden gelangen sie an proteinreiche Nahrung – Würmer, Käfer, Larven, Mäuse. Hier suchen sie aber auch schmackhafte Zwiebeln, Pilze, Wurzeln und junge Triebe. Als Allesfresser können sich Wildschweine sehr gut an viele Umgebungen anpassen – insbesondere in Berlin wird das zunehmend zu einem Problem, denn die Tiere sind anpassungsfähig:
Die wissen irgendwann, wo die Mülltonnen leckeres Fressen haben, wo es Katzenfutter gibt und mit dem Verkehr kommen sie auch zurecht. Sie passen sich an,
sagt Steffen Vree. Insbesondere in Norddeutschland werden Wildschweine als „Kulturfolger“ mehr und mehr zum Problem.
In unserer Region sind die Wildschweine normalerweise scheu und halten Abstand zum Menschen. Doch mehreren sich die Vorfälle, dass siedlungsnah „umgegraben“ wird. Vor zwei Jahren biss ein Wildschwein einen Radfahrer in Schriesheim. Spektakulär war der Einbruch eines Wildschweins in ein Fitnessstudio in Walldorf Mitte Dezember 2016. Warum das Wildschwein glatt durch eine doppelt verglaste Scheibe gerannt ist? Möglicherweise hat es sich selbst in der Scheibe gesehen und einen „Konkurrenten“ ausgemacht und ist zum Angriff übergegangen.
In vollem Lauf bei 50-60 Kilo Gewicht wirken die messerscharfe Hauer wie ein Nothammer auf eine Scheibe – deswegen kam das Schwein glatt durch, wenngleich es sich dabei verletzte, wie Blutspuren belegten.
Ein klares Bild gibt es noch nicht, aber „gefühlt“ nehmen die Sichtmeldungen in Siedlungen zu, ob in Mannheim, Viernheim, Schriesheim, Walldorf oder eben jetzt in Weinheim. Möglicherweise deutet das auf eine sich schnell vergrößernde Populationsdichte hin. Rotten konkurrieren eher nicht, sie versuchen sich aus dem Weg zu gehen. Je häufiger man sich begegnet, um so mehr „Auswege“ versucht man zu finden.
Ideale Bedingungen, keine Feinde
Fressfeinde haben die Wildschweine so gut wie keine mehr. Früher waren das in Deutschland Wolf und Braunbär. Gelegentlich Luchse, Füchse, Wildkatzen oder große Greifvögel – aber nur für kranke Tiere und sehr junge Tiere. Erwachsene Wildschweine können sich durchaus mit ihren scharfen Zähnen gegen Wölfe verteidigen.
Wildschweine sind schwer zu bejagen, weil sie scheu und schlau sind. Meist gelingt nur ein Abschuss pro Rotte, weil die nach dem Knall sofort in Deckung sind,
sagt Herr Vock. Gerade die Nachtaktivität erschwert die Jagd. Günstig sind Vollmondnächte, aber nur bei klarem Wetter. Die Jagd mit Nachsichtgeräten ist nicht erlaubt. Und die Wildschweine präsentieren sich nicht wirklich zum Abschuss. Ganz im Gegenteil scheinen sie zu lernen, wo es Jagddruck gibt und wo nicht und passen ihr Verhalten daran an.
Dabei belegen aktuelle Zahlen, wie wichtig eine erfolgreiche Jagd ist. Wegen optimaler Lebensbedingungen in Deutschland scheinen die Bestände explosionsartig zu wachsen. Gegenüber dem Mittelwert der vorangegangen 5 Jahre ist die Zahl der erlegten Wildschweine um 17,29 Prozent angestiegen: Auf 610.631 Tiere. 90.000 Tiere mehr als im Vorjahr. Obwohl die doch so schwer zu erjagen sind. Das ist der dritthöchste Wert seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen in den 1930er Jahren, teilt der Deutsche Jagdverband (DJV) aktuell mit.
Ohne Jagd könnten Wildschweine ihren Bestand in Deutschland jährlich verdreifachen. Durch das gute Nahrungsangebot – allein die Mais- und Rapsfläche ist in 30 Jahren um das 26-fache angestiegen – erreichen sie die Geschlechtsreife bereits mit etwa 4 Monaten und können dann bis zu 8 Frischlinge großziehen. Bei Rehen und Hirschen tritt die Geschlechtsreife hingegen erst im zweiten Lebensjahr ein und sie gebären nur 1 bis 2 Junge,
so der DJV. Das durchschnittliche Gewicht der erlegten Wildschweine liegt ausgenommen, also ohne Innereien, bei 40 Kilo. Bachen werden 130-170 Zentimeter groß (Kopf-Rumpf-Länge), Keiler 140-180 Zentimeter. Im südwestlichen Europa erreichen Keiler als „schwere Brocken“ schon mal 200 Kilogramm, hierzulande gilt ein Keiler über 100 Kilo „aufgebrochen“, also ohne Innereien, als „kapitaler Keiler“.

Kapitale Wildsau. Foto: 4028mdk09 – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9963671
Wildschweine machen zunehmend Probleme – Ängste sind nicht begründet
Die hohe Abschussquote erzeugt fast 24.000 Tonnen Wildbret vom Schwarzwild. Marktwert: Gut 96 Millionen Euro. Allerdings sind gut ein Drittel der erlegten Wildschweine in Sachsen beispielsweise nicht für den Verzehr geeignet – weil die Tiere verstrahlt sind. Sie nehmen über Bodenpflanzen, insbesondere Pilze noch aktuell soviel Cäsium auf, das noch 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ein Problem ist.
Wildschweine müssen zudem gesetzlich auf Trichinen untersucht werden. Das sind Fadenwürmer, die auch den Menschen befallen und tödlich sein können. Zwar sind die Fallzahlen nicht hoch, aber das Risiko muss ausgeschlossen werden. Viel virulenter sind Wildschweine als Überträger der Schweinegrippe.
Insbesondere ab März sind Hundebesitzer gut beraten, ihre Hunde in den Wäldern und landwirtschaftlichen Flächen nicht frei laufen zu lassen. Denn das kann dazu führen, dass Rotten aufgeschreckt werden. Typischerweise werden diese versuchen zu fliehen, ist das nicht möglich oder wenn Bachen ihre Frischlinge bedroht sehen, können die wehrhaften Schweine schnell in den Angriffsmodus wechseln. Wer „süße Frischlinge“ entdeckt und meint, die könnte man „knuffen“, begibt sich in Gefahr. Die Sau geht nicht von einer freundlichen Annäherung aus, sondern verteidigt den Nachwuchs.
Besonders imposant und gefährlich sind die Eckzähne im Oberkiefer („Haderer“) und Unterkiefer („Gewaff“) bei Keilern. Aber auch die Bachen beißen mühelos große Brocken Fleisch heraus und eine Hand ist nur ein Happen.
Klingt dramatisch und gefährlich? Das ist so. In der Theorie. Im echten Leben gibt es so gut wie keine Angriffe von Wildschweinen auf Menschen, wenn diese nicht provoziert werden. 2015 wurde in Italien ein Rentner tot gebissen, der wollte seine Hunde verteidigen. Ein fataler Fehler.
Große Sorgen muss sich die Bevölkerung also bislang nicht machen. Berichte anderer Medien über Mütter, die aus Sorgen vor den Schweinen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule fahren, sind unreflektiert und ordnen ohne Recherche die Tatsachen nicht ein. Tiere aus der Rotte des „Familienausflugs“ in Weinheim werden genau eins vermeiden – nochmals so einen Stress zu haben.