Mannheim, 06. Oktober 2014. (red/ld) Dank Internet ist die Welt global. Wir können mit Menschen telefonieren – überall auf der Welt. Dabei sollen die Unterschiede verschwimmen. Doch das ist Fiktion, sagt Regisseur Amitesh Grover und ludt beim Theaterfestival Schwindelfrei die Menschen ein, sich das zu beweisen lassen. In einem Interaktiven Theaterstück, das eigentlich ein Experiment ist.
Von Lydia Dartsch
Im Café des Forums der Jugend herrscht noch für kurze Zeit Ruhe. Die Spannung kann man fast knistern hören. Gleich kommt es zum “Encounter 6134”, wie das Stück heißt, das Regisseur Amitesh Grover aus Neu Delhi entwickelt hat. Bei dieser Vorstellung geht es um das Thema “Zeit”. Die nächste Stunde wird einmalig sein: Die Zuschauer sind gleichzeitig Darsteller. Es ist nicht geprobt – nicht wiederholbar.
Im Raum sitzen 20 Menschen an einem Tisch. Vor uns steht ein Stapel Pappkarten, ein Headset und ein Tablet-Computer. Lisa Stepf, Co-Kuratorin des Schwindelfrei-Festivals, erklärt uns die Regeln: Gleich werden wir mit Menschen in Neu Delhi sprechen – über das, was auf den Karten vor uns steht. Nach exakt einer Stunde wird das Gespräch abbrechen, sagt sie. Gleichzeitig sitzen 20 Menschen im Goethe-Insitut von Neu-Delhi. Jeder von ihnen hat die gleichen Karten wie sein Gesprächspartner.
Sprachen kann man nicht übersetzen
Ein interkulturelles Experiment. Meine Gesprächspartnerin wohnt in Delhi und ist verheiratet – zumindest spricht sie von ihrem “husband”, ihrem Ehemann. Es kann aber auch ihr Freund sein: “Man kann nicht von einer Sprache in eine andere übersetzen, ohne dass Informationen verloren gehen”, sagt der Regisseur Amitesh Grover. Das merkt man schon an diesem Beispiel.
Doch wir sind darauf angewiesen, uns zu verständigen, denn wir müssen gemeinsam entscheiden, ob wir den Karten zustimmen oder sie ablehnen. Es sind Thesen, Glaubenssätze in Englisch auf ihnen zu lesen. Auf anderen sind Bilder gedruckt. Manche sind in Hindi geschrieben, was ich nich lesen kann. Meine Gesprächspartnerin aus Delhi muss sie mir übersetzen.
H.G. Wells: Ein unbekannter Klassiker
Aber auch dann bleiben sie kryptisch, denn in jedem Wort schwingt eine Bedeutung mit, die in der hinduistischen Religion und Kultur begründet ist. Ebenso geht es ihr. “Was ist das?”, fragt sie mich bei dem Bild der Zeitmaschine aus Horson G. Wells gleichnamiger Novelle von 1895 – für mich gilt es als Klassiker. Das Bild wird im Fernsehen gezeigt, beispielsweise in der Serie “The Big Bang Theory”, wo die Charaktere mit einem Modell Zeitreise spielen. Es gibt mehrere Kinofilme und Comics dazu. Aus meiner Kultur ist sie nicht wegzudenken.
Sie kennt das Gerät nicht. Auch von Horson G. Wells hat sie noch nicht gehört. Aber ihr gefällt das einfache Design der Zeitmaschine, und dass ich so begeistert von ihr bin. Wir akzeptieren die Karte und legen sie auf den Stapel der Karten, die wir angenommen haben. Dann versuche ich ihr Albert Einsteins Relativitätstheorie zu erklären, die sie bisher nicht verstanden hat. Wir akzeptieren auch diese Karte.
Unterschiede verschwimmen und doch nicht
Die Fiktion, in der es in Amitesh Grovers Stück geht, ist die Globalisierung selbst. “Die Fiktion besteht darin, dass Unterschiede aufgelöst werden”, sagt er. Eine Einkaufsmall sieht in Delhi genauso aus, wie in Deutschland, wie in den USA. Aber das ist nicht so. Gleiche Worte können unterschiedliche Bedeutungen haben: Wo sich beispielsweise “Schönheit” im Deutschen auf die Außenansicht eines Menschen bezieht, kommt die Schönheit in Indien aus dem Inneren, was dem Hinduismus geschuldet ist.
Im Gespräch werden mir diese Unterschiede bewusst: Wir sprechen über die gleichen Themen und merken, wie unterschiedlich wir sind und gleichzeitig sehr ähnlich: Meine Gesprächspartnerin erzählt mir, dass sie endlich angefangen hat, Sport zu treiben und regelmäßig joggen geht. Ich weiß nicht, ob sie den “inneren Schweinehund” kennt. Aber was sie mir erzählt, klingt als sei der ihr nicht fremd – wahrscheinlich heißt er in Indien nur anders.
So erklären wir uns gegenseitig die Welt. Im Raum brummt es geradezu von den vielen Gesprächen, die gleichzeitig geführt werden. Dann hört man einen nach dem anderen fragen “Hello? Hello?”. Und auch aus meinen Kopfhörern kommt nur noch rauschen. Die Verbindung ist gekappt. Die Stunde ist um. Sie war schön. Ich hätte mich mit ihr noch länger unterhalten können.