Mannheim, 27. Juni 2016. (red/ms) In jungen Jahren ließen sich Sprachen noch deutlich leichter lernen, sagt Mannheims Bildungsbürgermeisterin Dr. Ulrike Freundlieb. Das sei aber nur ein Argument von vielen für die Willkommensschule im Columbus-Quartier – hier sollen Flüchtlingskinder Grundlagen des Lernens und zentrale westliche Werte vermittelt werden.
Komm in mein Klasse!
Dunkelbraune Kinderaugen glänzen mich an und der kleine Junge zerrt energisch an meinem Ärmel. Die Grammatik muss er noch ein bisschen üben – die Aussprache ist akzentfrei. “Mercedes” – so behauptet der Junge zu heißen – ist gerade elf Jahre alt geworden. Er lerne seit gut einem Jahr Deutsch, erzählt er. Aber erst jetzt “so richtig”.
Er und seine Familie sind Flüchtlinge aus Afghanistan. Heute leben sie in ehemaligen Militärkasernen auf dem Benjamin Franklin Village. Vor nur wenigen Wochen ist die zurückgelassene Wohnsiedlung US-amerikanischer Streitkräfte noch die größte Flüchtlingsunterkunft Baden-Württembergs gewesen. Bis zu 15.000 Menschen waren hier untergebracht. Aktuell sind es noch etwa 300, darunter 50 Kinder.
Es ist ein seltsames Gefühl. Ich komme mir ein bisschen vor wie in einer Geisterstadt,
sagt eine Mitarbeiterin, die die Phasen der größten Auslastung vor Ort miterlebt hat und nun auf die weitgehend verlassene Siedlung blickt: “Das ist unglaublich, wie schnell sich hier die Lage so stark verändern konnte.” Im Winter habe damit niemand rechnen können.
Spielerisch lernen – Werte vermitteln
Allein das Columbus-Quartier, das ehemalige Gewerbegebiet von Franklin, bietet theoretisch bis zu 6.500 Unterbringungsplätze. Das Land Baden-Württemberg wird diese Flächen bis Anfang 2019 als Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle (BEA) verwenden. Aktuell werden die vorhandenen Kapazitäten nicht ansatzweise ausgelastet – sollten die Zugangszahlen von Flüchtlingen in Baden-Württemberg wieder steigen, stünden hier nicht nur Plätze bereit. Sondern auch eine eigene Infrastruktur.
Vergangenen Donnerstag hat dort nun die sogenannte Willkommensschule eröffnet – ein freiwilliges Lernangebot der Stadt Mannheim in Zusammenarbeit mit dem Regierungspräsidium Karlsruhe. Bis zu 70 Kinder sollen und können hier spielerisch ans Lernen herangeführt werden. Bildungsbürgermeisterin Dr. Ulrike Freundlieb (SPD) erklärt dazu:
Wir wollen allgemeine Wissensgrundlagen vermitteln. Die deutsche Sprache ist dafür ein sehr wichtiger Baustein. Außerdem wollen wir früh die Werte unserer Gesellschaft vermitteln. Zum Beispiel, dass Männer und Frauen ohne Diskussion gleichberechtigt sind.
Dabei gebe es keinen völlig starren Lehrplan – das würde auch wenig Sinn machen, sagt Dr. Freundlieb. Es gebe auch keine Klassenstufen – dafür seien die Lernniveaus zu unterschiedlich:
Wir können hier keine Standards beim Vorwissen voraussetzen. Dafür sind die bisherigen Biographien einfach zu unterschiedlich.
Es gebe etwa Kinder, die schon mit groben Grundkenntnissen in der deutschen Sprache ankommen würden. Andere müssten von Null anfangen. Einige Kinder hätten schon in der Heimat schulische Erziehung genießen können – andere nicht.
Die Schulpflicht in Baden-Württemberg beginnt sechs Monate nach dem Zuzug aus dem Ausland. Flüchtlinge verbringen meistens weniger Zeit in Erstaufnahme-Einrichtungen – die ersten Wochen verstreichen in der Regel also, ohne dass die Flüchtlingskinder an das deutsche Bildungssystem herangeführt werden. Dr. Freundlieb kommentiert:
Ungenutzte Zeit ist nutzlose Zeit.
Gerade im frühkindlichen Alter sei Bildung besonders wichtig – insbesondere Sprachen ließen sich in jungen Jahren noch deutlich leichter lernen. Doch es gehe nicht ausschließlich um Wissensvermittlung:
Wir wollen den Kinder spielerisch Lerngrundlagen vermitteln.
Es gehe auch darum, ihnen “ein Stück Normalität” zurückzugeben. Viele von ihnen hätten nie einen Kindergarten besucht und würden in der Willkommensschule zum ersten Mal basteln.
Unterschiedliche Ausgangslagen
Wie unterschiedlich die Ausgangslagen der verschiedenen Kinder sind, zeigt sich schnell: Mit dem Jungen “Mercedes” kann man sich schon verständlich auf Deutsch unterhalten, bevor der Unterricht in der Willkommensschule überhaupt erst angefangen hat – andere können noch kein einziges Wort.
Ein anderer Aspekt, der die frühkindliche Bildung im Columbus-Quartier erschwert: Da es sich um eine Erstaufnahme-Einrichtung des Landes handelt, bleiben die Kinder und ihre Familien in der Regel nur wenige Wochen, bevor sie für die vorläufige Unterbringung an Kreise und Kommunen weiterverteilt werden.
Somit kann keine homogene Lerngemeinschaft zustande kommen – die Kinder werden fortlaufend durchmischt und mit ihnen die Lernfortschritte. Laut Dr. Freundlieb sei es daher besonders wichtig, dass die ehrenamtlichen Lehrer beim Unterrichten flexibel bleiben und auf jedes Kind individuell eingehen.
Freiwillige Hilfe
Bei der Willkommensschule handelt es sich um eine freiwillige Leistung der Stadt Mannheim. Wie teuer das Projekt ist, konnte unserer Redaktion auf Rückfrage noch nicht genannt werden, da die Gesamtkosten zunächst noch ermittelt werden müssten.
Dass sich die Investition lohnt, will Dr. Freundlieb folgendermaßen begründen. Durch den demographischen Wandel sei man auf jede nur mögliche Arbeitskraft angewiesen. Zudem gebe es zwar vorläufig regionale Bestimmungen für die Wohnorte von Asylbewerbern. Nach Abschluss des Verfahrens trete diese Regelung allerdings außer Kraft und es sei damit zu rechnen, dass es viele Flüchtlinge in Großstädte ziehe, da sie dort besser vernetzt seien:
Diese Investition in die Zukünfte wird sich langfristig für unsere Gesellschaft auszahlen.
In den Containern der Willkommensschule gibt es drei Klassenräume und ein Computerzimmer. Die aktive Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen wolle man mit der Hilfe von Ehrenamtlichen stemmen. Zur Koordination habe der Fachbereich Bildung ein kleines hauptamtliches Team zusammengestellt, das vor Ort als Ansprechpartner für die Kinder, Eltern und ehrenamtlich Tätigen da sein soll. Die Finanzierung bis Anfang 2019 sei gesichert.
Als die Schule am vergangenen Donnerstag eröffnet wurde, fand dort noch kein Unterricht statt – dafür aber gemeinsame Spiele zwischen Kindern und Ehrenamtlichen. Es ging hektisch zu und es war – wie für Kinder üblich – sehr laut. Und dennoch war es beruhigend zu sehen, dass ein zentrales Ziel offenbar erreicht wird: Den Kindern wie anderen einen Zugang zur Wissen und Entwicklung und auch ein wenig ein geregeltes Leben zurückgeben.
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