Mannheim/Rhein-Neckar, 06. Oktober 2018. (red/pro) Laut Polizeiangaben versammelten sich am Mittwoch 9.000 Menschen auf dem Ehrenhof des Mannheimer Schlosses, um den Tag der Deutschen Einheit unter dem Motto “Demokratie, Menschlichkeit, Rechtsstaat” zu begehen. Nach Schätzungen des RNB waren es “nur” 5.-6.000 Menschen. Wir halten die Zahlenangabe der Polizei für falsch, aber das ist nicht das größte Problem. Das nicht-sichtbare, aber damit offensichtliche Problem war, dass in dieser Masse von Menschen zu diesem symbolträchtigen Tag nur vier deutsche Fahnen zu sehen waren. RNB-Redaktionsleiter Hardy Prothmann beschreibt in einer sehr persönlichen Schilderung, warum das ein massives Problem ist. Sie müssen sehr lange lesen, bis Sie an der Fahne ankommen.
Von Hardy Prothmann
Ich bin 51 Jahre alt. Mein Vater wurde 1944 geboren, ein Jahr vor dem Ende der Naziherrschaft. Meine Mutter 1947, zwei Jahre danach.
Der Vater meines Vaters war Herrenschneider in Rostock und musste für die Nazioffiziere Uniformen nähen, er starb an Gram darüber und Alkohol, bevor ich geboren worden bin.
Der Vater meiner Mutter, Jahrgang 1928 bildete als 16-Jähriger “Gebirgsjäger” aus, die jünger waren als er. Dieser Großvater verehrte Hitler, wie er mir erzählte, bis er verstand, welche Katastrophe diese Zeit über Millionen Menschen gebracht hat. Dafür brauchte er nicht lange. Er wurde als 16-jähriger von Russen interniert, floh und wurde dabei nicht erschossen.
In Dresden machte er eine Kaufmannslehre und floh aus dem Osten in den Westen – vor der Mauer – als ihm klar wurde, dass der Sozialismus die nächste Diktatur bringen würde. Er war autodidakter Fotograf, erfolgreich, als man ihm das Fotopapier rationierte, verstand er, dass es für ihn keine wirtschaftliche Zukunft in der “Zone” geben würde. Dieser Großvater hat mich politisch geprägt – als Jugendlicher wie so viele verblendet, lernte er schnell Verantwortung und entwickelte einen untrüglichen Gerechtigkeitssinn. Seine demokratische Haltung war und ist für mich Vorbild.
Ich bin Jahrgang 1966, einundzwanzig Jahre nach Kriegsende geboren. Ich habe mit diesem Krieg und mit allem sonst nichts zu tun. Doch der zweite Weltkrieg und die Nazidiktatur haben auch mein Leben geprägt. Große Teile der Verwandtschaft waren im Osten und wurden wenn, dann zu Weihnachten besucht. Ich erinnere mich gut an ein Kaufhaus in Dresden. In der Spielwarenabteilung für Kinder gab es überwiegend Soldaten und Panzer mit dem russischen Stern. Und ich erinnere mich auch sehr gut an die bedrohlichen Grenzkontrollen an der innerdeutschen Grenze.
Vom Fall der Mauer habe ich erst Stunden später erfahren. Das war bekanntlich 1989 und bis mich die Nachricht erreichte, war alles schon in vollem Gange. Freunde von mir sind sofort aufgebrochen nach Berlin. Ich habe versucht, Informationen zu sammeln, was da gerade los ist. Ich kannte niemand in Berlin. Damals waren viele dort, die Freiheit erleben wollten, umgeben von Feinden und viele Männer in meinem Alter allein deshalb, weil sie nicht eingezogen werden wollten. Ich fand diese Fahnenflucht verächtlich.
Ich hätte den Wehrdienst nicht verweigert, wurde aber, trotz hervorragender körperlicher Konstitution als Leistungssportler ausgemustert. Grund: Im Alter von zehn Jahren wurde ich von einem Auto angefahren, wäre fast gestorben, lag fünf Tage im Koma mit doppeltem Schädelbasisbruch. Durch den Unfall sind links Gehör- und Gleichgewichtsnerv gerissen. Seitdem bin ich auf einem Ohr taub und kann keine Richtung hören – also auch kein Kommando: “Männer, mir nach”, funktioniert nicht, ich kann diesem Befehl nicht ordentlich folgen, weil ich nicht höre, woher er kommt.
Revolutionäre Zeiten sind mir äußerst suspekt. Denn ich habe schon im Alter von zehn Jahren gut 1.000 Bücher gelesen. Mit jedem Buch stieg der Anspruch und ich war in Geschichte immer sehr viel besser als andere. Nicht, was Lehrplaninhalte und das Herbeibeten von historischen Zahlen angeht, sondern, was das Verständnis angeht. Revolutionen und Menschenmassen haben nichts mit Reflexion zu tun. Da werden Kräfte wach, die auch nichts mit Aufklärung zu tun haben, sondern nur mit Masse. Die meisten waren nicht friedlich.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Taumel der Begeisterung über die deutsche Wiedervereinigung. Ich hatte jede Menge Zweifel und fand mich damit überwiegend ganz alleine. Als ich dann 1990 das erste Mal in Berlin war, erlebte ich die utopistische Euphorie meiner Generation. Es war wir ein Rausch – und konkret hat man viel gesoffen und gekifft. Der Rausch war also nicht nur theoretisch, sondern wurde praktisch begangen. Letztlich wollte sich jeder selbst finden, wie das in der Jugend so ist – angesichts der historischen Ereignisse ist da manches auf die falsche Schiene geraten, weil junge Leute ohne Begleitung meist nicht den richtigen Weg finden.
Ich werde in Kürze 52 Jahre alt – ich bin aber schon immer älter als ich nach Lebensjahren bin. Weil ich früher erwachsen werden musste als andere. Dieser Bug an jungen Erfahrungen hat zwei Dinge bei mir ausgelöst. Der Zweifel ist mein ständiger Lebensbegleiter, aber auch die Gewissheit, was ich weiß und wofür ich einstehe.
Das Märchen der “blühenden Landschaften” habe ich nie geglaubt. Und ich habe mich, nachdem ich zunächst sehr erfolgreich die Richtung einer sozialwissenschaftlichen Karriere eingeschlagen hatte, durch Zufall für den Journalismus entschieden. Hier fand ich mich gut aufgehoben, zwischen Zweifel und Gewissheit.
Vor allem in den 90-iger Jahren war Journalismus ein anständiger Beruf, dem viel Achtung widerfahren ist. Man konnte zudem gutes Geld verdienen. Doch das änderte sich vor allem mit der Dotcom-Blase, an der viele Journalisten erheblichen Anteil, aber zuvor die Hand aufgehalten hatten. Dann kamen der 11. September und der Irak-Krieg und erhebliche Zweifel und viele Lügen wurden, teils erst viele Jahre später, publik. Sowohl der Afghanistan-Krieg wie der Irak-Krieg und spätere Krieg wie in Syrien begannen mit erheblichen journalistischen Fehlleistungen, konkret: Versagen und auch Lügen.
Von 1994-2008 habe ich in erheblichem Umfang über Medien berichtet. Medienpolitik, Medienwirtschaft, Medienkultur und die Leute, die darin tätig sind. Deshalb habe ich dazu erhebliche Kenntnisse und ich hatte mehr und mehr erhebliche Kritik. Die habe ich geäußert und mehr und mehr wurde ich damit zur “unmöglichen Person”, weil zu kritisch. Paradox, dass Medien keine Kritik vertragen? Betrachten Sie den Alltag.
Medien haben den Anspruch, “blinde Flecken” zu betrachten (also die anspruchsvollen). Betrachtet man deren blinden Fleck, wird es anspruchslos einfach – dann wird man zum Feind. Dass andere, die von Medien betrachtet werden, diese als Feind betrachten könnten, das ist intellektuell für die meisten Medienvertreter bereits vollständig zu anspruchsvoll, um sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
Der permanente Zweifel ist Teil meines Jobs und auch meiner Persönlichkeit. Sehe ich, was ich sehe? Höre, ich was ich höre? Spüre ich, was ich spüre? Weiß ich, was ich weiß? Diese Fragen begleiten meinen Job und ich bemühe mich immer um konkrete und vor allem korrekte und noch wichtiger, ehrliche Antworten.
Im Gegensatz zu früher erlebe ich seit 2011 eine Zeit der Befreiung, obwohl ich das auch erst lernen musste. Ich muss nicht mehr Sende- oder Andruckzeiten bedienen. Berichte auf dem RNB erscheinen dann, wenn sie fertig sind, ganz egal, was andere raushauen oder ob irgendwann ein Andruck oder eine Nachrichtenschiene läuft.
Und ich erfahre wegen der Medienkritik zum blinden Fleck teils Reaktionen von “Kollegen, die nichts mit inhaltlicher Auseinandersetzung zu tun haben, sondern durch Hass und Hetze geprägt sind. Motto: Dieser Prothmann muss weg. Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Ganz egal, ob ich von einem großen Zeitungsverlag (erfolglos) verklagt werde oder über soziale Netzwerke Kampagnen losgetreten werden von Leuten, die sich nicht-zu-kritisierenden-Systemen andienen wollen, in der billigen Hoffnung auf Karrierechancen.
Das ist wirklich arg. Man kann mich gerne kritisch angehen. Merkwürdig wird es, wenn diese Kritiker jegliche journalistische Sorgfaltspflicht ignorieren, ihre Meinung verbreiten, ohne jemals eine Frage an mich gerichtet zu haben. Dazu gehören Journalistendarsteller wie ein “Faktenfinder” Patrick Gensing von der ARD wie auch andere – gucken Sie selbst nach. Bis auf wenige Ausnahmen hat keiner der über mich berichtenden Medien auch nur einen Kontaktversuch zu mir unternommen.
Ich komme zur Fahne und zur Freiheit. Ich habe in diesem Leben noch nie eine Deutschlandfahne besessen, noch nicht mal ein Plastikfähnchen. Eine Flagge ist mir zu massig, ebenso wie Massen und damit zu wenig intellektuell.
Diese Haltung hatte ich solange, als es genug Menschen gab, die Masse waren. Hier konnte ich mich “intellektuell” immer fein absetzen.
Aktuell war ich regelrecht wütend. Über mich und die Masse und weil es keine deutschen Fahnen zum Tag der Deutschen Einheit gab.
Meine Analyse dazu. Ich habe es verpasst, mal eine deutsche Fahne in die Hand zu nehmen, hinter der ich stehe, aber nicht gesehen werden wollte. Wollte die aktuelle Masse in Mannheim so gesehen werden, dass man keine deutsche Fahne mehr schwenken kann? Wenn die Antwort ja sein sollte, muss ich demnächst die Fahne in die Hand nehmen.
Das macht mich sehr nachdenklich und obwohl es mir widerstrebt, mich hinter Symbolen einzuordnen, bei der nächsten Gelegenheit mache ich das halt und halte eine deutsche Fahne hoch. Dabei kreische ich nicht “Deutschland den Deutschen” und auch nicht “Einigkeit und Recht und Freiheit”.
Wer mich fragt, erhält dich Antwort: “Ich bin nicht stolz, ein Deutscher zu sein. Aber ich bin stolz auf Deutschland. Es gibt weltweit kein vergleichbares Beispiel für eine Zeit des menschenverachtenden Wahnsinns mit Millionen von Todesopfern, die mit erheblichen Opferzahlen von anderen beendet werden konnte. Die Deutschen waren vollständig am Boden der Menschlichkeit angelangt und haben sich – mit Hilfe der Alliierten – wieder aufrichten können. In Demut vor den Opfern dieser Unmenschlichkeit bleibt eine nicht ablösbare Schuld. Dabei geht es nicht um Zeit und um Geld. Diese Schuld ist historisch und niemals zu bestreiten oder zu relativieren. Gleichzeitig bin ich 21 Jahre nach dem Ende der Schuld geboren. Ich akzeptiere das historische Erbe, weil jede Zurückweisung auch jedes Erinnern an meine Vorväter- und Mütter negieren müsste. Das geht nicht – außer, ich wollte ein Mensch ohne Geschichte sein. Ich bin aber ein Mensch mit einer klaren Haltung, die basiert auf der Rechtsstaatlichkeit als modernster und bester Erfindung aller Zeiten für ein ordentliches Zusammenleben der Menschen. Das verteidige ich, dafür stehe ich ein. Egal für wen.”
Wenn in Mannheim die Flaggen des Halbmonds absolut zahlreicher sind, wenn diese von Kurden oder anderen zahlreicher sind, dann sind das sichtbare Symbole, die langfristig negativ wirken werden. Symbole sind leider oft nur “plakativ” und intellektuell nicht befriedigend – da muss man leider wieder an die Masse denken.
Die Menschheit besteht aus ihrer Geschichte. Und die hat viel mit Symbolen zu tun, weil Menschheit immer Masse war und leider zu wenig Intellektualität.
Wäre ich nur Bürger in der Masse, würde ich aktuell zur Fahne greifen und sie schwenken.
Man kann stolz auf dieses Deutschland sein. Es ist eines der stabilsten Länder dieser Welt. Es herrscht trotz teils widriger Umstände Rechtsstaatlichkeit. Die Menschen leben ganz überwiegend in Sicherheit. Es gibt Not und Probleme, aber im Vergleich zu anderen Ländern ist das Pillepalle – das meine ich nicht abwertend, sondern konkret realistisch.
Ich bin allerdings in erheblichem Zweifel, ob eine Gesellschaft und hier meine ich die Teilnehmer vor Ort und die “Gefühlten nicht vor Ort” einer Großdemo auf dem richtigen Weg sind, wenn sie nicht mehr bereit sind, eine gemeinsame Flagge zu schwenken, nämlich schwarz-rot-gold.
So gesehen, standen viele Tausend Menschen im Ehrenhof beieinander, “huldigten” dem Motto von Demokratie und Rechtsstaat, meinten aber “Menschlichkeit” und niemand war bereit darüber zu debattieren, wie “Menschlichkeit” rechtsstaatlich und demokratisch zu verstehen ist. Und niemand war bereit, klar zu sagen, dass niemand, der von außen kommt und Rechtsstaatlichkeit nicht achtet, sondern verletzt, nicht nur nicht willkommen ist, sondern sich vom Acker machen sollte.
Ich mache das wie immer brachial deutlich an einem Beispiel: Ist es menschlich, jemanden lebenslänglich wegzusperren? Widerspricht das nicht fundamental dem Artikel 1 des Grundgesetzes: “Die Würde des Menschen ist unantastbar”? Es gibt keinen größeren Würdeentzug, als die Freizeit zu entziehen. Heißt das jetzt, dass man Mörder nicht für “ewig” wegsperren sollte? Sie meinen Nein? Ich meine – darüber kann man diskutieren. Ich finde, dass man Mörder wegsperren sollte, aber ich habe Zweifel und bin nicht im Besitz der Wahrheit. Was meinen Sie? Was andere? Worauf kann man sich einigen?
Die Großdemo in Mannheim, ob es jetzt 5.-6.000 Menschen oder 9.000 waren, hat darauf genau keine Antwort geliefert. Ja – man trat für Menschlichkeit ein. Aber auch für Demokratie und Rechtsstaat? Oder nur für Rechtsstaatlichkeit, wenn diese in den eigenen Sinn passt?
Die Veranstalter, wenn diese sich ernst nehmen, haben sich in Verantwortung gebracht und müssen, wenn man sie ernst nehmen soll, die Arbeit fortsetzen. Nicht mit Symbolpolitik, sondern mit aktiver Arbeit, die über Verlautbarungen hinausgeht. (Wir warten immer noch auf Antworten auf Fragen an den Dekan Hartmann, obwohl man bei der Evangelischen Kirche Mannheim langsam aktiv wurde,,,)
Dabei darf bei jedem Unterstützer dieser Demo künftig gerne die Deutsche Fahne im Vordergrund zu sehen sein. Denn sie ist Symbol für Demokratie, Rechtsstaat und auch Wiedervereinigung im Gedenken an den Grund der Spaltung, falls das jemand vergessen haben sollte.
Ganz vielen Linken gefällt das noch nie und viele Bürgerliche haben Sorge, Flagge zu zeigen, weil man dann ja von links als “Nationaler” gesehen werden könnte. Wie wäre es mit einem Eigenbild als Deutscher, der für Demokratie und Rechtsstaat eintritt und dafür die Flagge als Demokrat gerne hochhält und schwenkt?
Nur vier von 5.-9.000 Teilnehmern waren in der Lage, sich zu “bekennen”. Das wirkt, als wäre der Rest fahnenflüchtig.
Ist ein Bekenntnis zu Deutschland am Ende “unmitmenschlich”?