Rhein-Neckar, 31. Dezember 2015. (red/pro) 2015 war ein äußerst ereignisreiches Jahr. Das Top-Thema waren „die Flüchtlinge“ und sie werden Top-Thema bleiben. Chefredakteur Hardy Prothmann blickt auf das wenig Sichtbare zurück – das, was „uns umtreibt“ und was uns 2016 beschäftigen wird. Soviel ist sicher: 2016 wird ein Jahr voller Herausforderungen. Lasst sie uns meistern.
Von Hardy Prothmann
Die Deutschen können stolz auf sich sein. Auf ihre Solidarität, ihre Hilfsbereitschaft, die Freiwilligen, die Polizei, die Feuerwehren, andere Hilfs- und Rettungsdienste, auf die Vereine und alle, die sich selbst oder finanziell für uns alle eingesetzt haben. Auf alle Menschen, die teils bis zur Erschöpfung dazu beigetragen haben, dass rund 1,4 Millionen flüchtende Menschen hier aufgenommen worden sind. Trotz aller damit verbundenen Probleme und aller berechtigter Kritik: Das war eine Meisterleistung, die kein anderes Land auf der Welt vergleichbar erbracht hat.
Richtig vs. falsch
Über 60 Millionen Menschen sind weltweit aufgrund von Kriegen oder elendigen Lebensbedingungen auf der Flucht. Es gibt Länder wie die Türkei oder Jordanien, in denen noch mehr Flüchtlinge leben als hier. Aber hier können diese Menschen, das neu finden, was uns allen so wichtig ist und was sie zurückgelassen haben: Heimat.
„Wir schaffen das“, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt. Wir haben das geschafft. Bis jetzt. Zumindest die Logistik. 2016 müssen wir das nochmal schaffen, 2017 und 2018 womöglich auch. Die Kanzlerin ist gelobt und gescholten worden für ihre Entscheidung, die Grenzen aufzumachen. Manchmal muss man einen Fehler machen, um das Richtige zu tun. Und machmal macht man das Richtige und doch einen Fehler. „Die Wahrheit“ liegt oft irgendwo dazwischen.
Sicherheit vs. Unsicherheit
Wenn ich als politischer Journalist auf das Jahr 2015 zurückblicke und versuche, das zu beschreiben, was uns alle emotional bewegt hat, dann sind das zwei Worte, die überall mitschwingen: Sicherheit und Unsicherheit.
Die zwei meistgelesenen Texte unseres Angebots stammen mit über 140.000 Aufrufen aus dem Februar „Ich bin fassungslos – krass geht anders“ und mit gut 80.000 Aufrufen „Ich hab Schmerzen, Alter“. Beides sind „Polizei-Themen“ und beide stehen symptomatisch in vielen Details für das, was die Menschen am meisten bewegt.
Ende Februar treffen sich in Mannheim Mitglieder des „Milieus“ und es kommt zu einer Schießerei. Mitten in der Innenstadt. Täter und Opfer sind schwer zu unterscheiden und alle haben einen Migrationshintergrund. Sie kommen aus Offenbach und Ludwigshafen. Showdown ist Mannheim. Kurz darauf wollen junge, deutsche Partygänger als „freie Bürger“ durch eine Polizeiabsperrung laufen. Gegenüber den Beamten verhalten sich die jungen Schnösel aus gutem Hause herablassend und respektlos.
Anfang November hält die NPD zum dritten Mal in Folge ihren Bundesparteitag in Weinheim ab. Die Polizei schützt die gesetzlich vorgeschriebene Veranstaltung und bundesweit mobilisierte Autonome greifen die Polizei gezielt und taktisch an. Nach dem Straßenkampf folgt insbesondere aus dem linken Lager der propagandistische Angriff: „Maßlose Polizeigewalt“ wird angeprangert – doch handelt es sich, wie belegt werden konnte, um eine Inszenierung. Konkret angegriffen wurde die Polizei – gemeint waren Staat und Gesellschaft.
Was haben diese Ereignisse gemein? Eine Gewaltbereitschaft, die Angst macht. Eine Respektlosigkeit, die ratlos macht. Auch das geht quer durch die Gesellschaft, ob Menschen mit Migrationshintergrund oder Leute „aus gutem Hause“. Ob aus „bildungsfernen Schichten“ oder hervorragend ausgebildet. Die Bereitschaft zum Hass, zur Eskalation – die Ablehnung friedlicher, zivilisierter Mittel ist besorgniserregend. Daher braucht es mehr Besinnung auf gemeinsame Werte, immerwährendes Beratschlagen und Zuversicht statt Angst.
Umgekehrt gibt die gute Organisation der Behörden, insbesondere unserer Polizei, doch Sicherheit. Niemals eine einhundertprozentige, aber eine, die weltweit ebenfalls einmalig ist. Dieser Rechtsstaat funktioniert – gerade die Bewältigung der enormen Herausforderungen gibt Hoffnung und auch Sicherheit, dass es mit unserem Land gut weitergehen wird. Auch wenn Einbrüche und andere Straftaten das subjektive Sicherheitsgefühl bedrohen – die Polizei strengt sich an, verzeichnet gute Erfolge und insgesamt leben wir in einem der sichersten Länder dieser Welt.
Terror vs. Solidarität
Dagegen steht der Terror, der uns Angst machen will. Paris wird vom 07.-09 Januar von Anschlägen erschüttert, auf die Redaktion von Charlie Hebdo, einen jüdischen Supermarkt und eine Polizistin. 20 Menschen starben, darunter die drei Terroristen, die sich vor ihrem Tod zu Al-Quaida und zum „Islamischen Staat“ bekannt hatten.
Am 17. Januar versammelten sich rund 12.000 Menschen auf einer der größten Kundgebungen im süddeutschen Raum, um gegen den Hass und gegen den Terror gemeinsam und friedlich zu demonstrieren. Darunter sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund. „Je suis Charlie“ stand auf vielen Transparenten. Die Mienen waren ernst, aber die Gesichter offen.
Am 13. November töten sieben Terroristen 130 Menschen. 352 werden verletzt, 97 davon schwer. Die Attentäter schlagen an mehreren Stellen in der Stadt zu. Die Ziele sind ein Fußballstadion, öffentliche Cafes und ein Musikclub – Orte des Zusammenkommens von freien Menschen in einer freien Gesellschaft. Die Mörder werden erschossen. Auch sie brachten Tod und Leid im Auftrag des „Islamischen Staats“ (Daesch, früher IS oder ISIS) über die Toten und ihre Familien.
Frankreich schwor Rache und geht verstärkt gegen Daesch in Syrien und im Nordirak vor. Deutschland unterstützt den Partner und ist damit kriegsbeteiligt. In Syrien tobt ein Vielfrontenkrieg mit zahlreichen Kriegsparteien. Von den 20 Millionen Syrern sind 12 Millionen auf der Flucht, vier Millionen davon im Ausland und einige hunderttausende Menschen sind nun bei uns.
Die arabischen Staaten,viele Länder in Afrika, die Länder im Nahen Osten und die im Kaukasus sind Krisen- oder Kriegsgebiete. So schrecklich die Anschläge von Paris sind – in diesen Ländern gehört der Tod durch Terror und Gewalt zum Alltag. Das einzige Land, dem der arabische Frühling einigermaßen Aufbruch in eine neue Stabilität gebracht hat, ist Tunesien. Auch dort gab es dieses Jahr bereits drei Terrorangriffe mit vielen Toten. Auch hier sind es islamistische Mörder gewesen.
Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind die Boten dieser Krisengebiete aus denen sie fliehen. Die allermeisten suchen Sicherheit, aber mit manchen kommen auch die Konflikte zu uns. Insbesondere Syrer und Afghanen stehen sich feindlich gegenüber. Warum? Das fängt bei „kulturellen“ Unterschieden an und reicht bis zum Hass, weil viele Afghanen in Syrien kämpfen. Auf Seiten des Diktators Assad, aber auch für Daesch. Weiter sind Muslime nicht gleich Muslime – es gibt viele unterschiedliche Glaubensrichtungen und man verträgt sich manchmal gar nicht gut miteinander. Hier macht vor allem der Konflikt zwischen Türken und Kurden Sorge – vermutlich bald auch hier vor Ort.
Die Entwicklungen in diesen Ländern, aber auch die Spannungen zwischen der Türkei und Russland geben Anlass zu erheblichen Sorgen. Diese Themen scheinen weit weg und betreffen uns doch auch hier vor Ort. Die Welt ist kleiner geworden.
Demokratisch vs. extremistisch
Insbesondere gegenüber den Syrern, der größten Gruppe der Flüchtlinge, gibt es ein positives Bild. Das ist gut so, wird aber belastet werden. Denn viele Syrer sind klar israelfeindlich eingestellt, so wie die meisten Araber. Und Konflikte werden oft emotional ausgetragen – ein Vertrauen in Behörden und den Rechtsstaat kennt man nicht, weil es dies in den Herkunftsländern nicht gibt. Dort herrschen häufig Chaos, Korruption und Selbstjustiz. Es gibt Experten, die halten Syrien für eine arabische DDR – mit allen Folgen für die Lebenseinstellung dieser Menschen.
Hier die Ordnung aufrecht zu erhalten und diese Menschen schnell und nachdrücklich in das deutsche Gesellschaftssystem zu integrieren und die Spielregeln deutlich zu machen, ist die große Langzeitherausforderung, die nochmals eine unglaubliche Kraftanstrengung sein wird.
Gleichzeitig wird Deutschland nach „rechts“ rücken. Das steht fest. Dafür braucht es weder AfD noch ALFA. Wer CSU-, CDU-, SPD- und auch manchen Grünen-Politikern zuhört, weiß das längst. Nicht nur rechte Parteien „popularisieren“, die etablierten machen dies auch. Der strategische Fehler, der hier begangen wird: Man setzt auf die Angst und die Unsicherheit und stellt sich selbst als einzig kompetente Kraft dar, die mit „Stärke“ die Ordnung durchsetzt. Doch das ist die schwächste aller Haltungen.
Extreme Positionen, Konfrontation, Hass und Gewalt zeigen weltweit, wohin das führt, wenn man sich davon lenken lässt: Ins Chaos.
Gemäßigte Haltungen und solidarisches Handeln sind die Grundlage für eine lebenswerte gemeinschaftliche Gesellschaft. Vor einem Jahr forderte der Mannheimer Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz „Respekt und Anstand“ – damit liegt er auch für das kommende Jahr richtig.
Wir = gemeinsam
Struktur und Ordnung geben hingegen die Kräfte, die um Ausgleich bemüht sind, die sich für andere einsetzen und damit auch für sich selbst.
Man kann und muss die Kanzlerin für „Wir schaffen das“ und die Folgen kritisieren – durfte sie das? Wie ordnet man ausgesetzte rechtliche Regelungen neu? Wer muss für was verantwortlich gemacht werden? Deutschland ist und bleibt ein Rechtsstaat und wird das regeln – teils zäh, mit Mühe und viel Zeit. Aber so ist das in einer Demokratie.
Wichtig ist das „Wir“ – das meint uns alle in diesem Land. Jeden einzelnen. „Schaffen“ steht nicht nur für „bewältigen“, sondern auch für auf- und ausbauen. „Das“ sind die vielen Herausforderungen. Eine ist noch nicht so richtig wahrgenommen worden, aber erstaunlich: Die Registrierung der Flüchtlinge krankt an 16 verschiedenen EDV-Systemen, die nicht „miteinander reden“ können. Was für eine Verschwendung von Ressourcen. Das soll sich nun ändern – mit Sicherheit gibt es vergleichbare Probleme auch bei anderen EDV-Anwendungen. Und das 2015! Willkommen im Neuland.
Der Rückblick auf 2015 hat noch sehr viele weitere Facetten – es sind zu viele, um sie alle aufzuzählen. Nutzen Sie unser frei zugängliches Archiv (über die Suche, die Schlagwörter, das Menü oder rechts unten in der Seitenleiste das Monatsarchiv). Wir haben als kleines Team, so gut wir das konnten, für Sie darüber berichtet. Und ja: Die vergangenen vier Monate haben auch uns ob bis an die Grenze der Erschöpfung gebracht. Wir wollten noch eine Reihe von „Rückblicken“ bringen, nutzen aber die Tage „zwischen den Jahren“, um Kraft für die kommenden Herausforderungen zu schöpfen. Das wird Ihnen und anderen ähnlich gehen.
Wir sagen DANKE
Stellvertretend für meine Mitarbeiter möchte ich mich explizit bei allen bedanken, die gut und konstruktiv, wenn auch manchmal kontrovers mit uns zusammengearbeitet haben. Ob politische Vertreter, Behörden, Institutionen, Firmen oder Vereine. Es gibt sehr viele wunderbare und engagierte Menschen in unserem Berichtsgebiet, denen wir auch für das kommende Jahr ein gutes Gelingen wünschen.
Und wir möchten uns besonders herzlich bei Ihnen bedanken, liebe Leserinnen und Leser – für Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Kritik, Ihre Empfehlung und auch Ihre Unterstützung. Ohne Sie wären viele Themen nicht entstanden oder weiter entwickelt worden.
Sehr herzlich bedanken wir uns bei unseren Werbekunden. Für die sehr gute Zusammenarbeit und das Vertrauen, dass wir Ihnen eine sehr gute Gegenleistung für das von Ihnen eingesetzte Geld bieten. Unsere Werbekunden erhalten von uns eine Dienstleistung – Aufmerksamkeit – und finanzieren zu einem erheblichen Teil unsere redaktionelle Arbeit.
Und wir danken einer Gruppe von Menschen ebenfalls sehr herzlich für eine finanzielle Unterstützung, die nicht selbstverständlich ist, sondern freiwillig erfolgt: Die Mitglieder im Förderkreis und die Einzelspender. Wir brauchen Sie auch in Zukunft und freuen uns sehr, wenn Sie uns weiter unterstützen und uns weiter empfehlen.
Jubiläum und Ausblick
Im Januar wird das Rheinneckarblog fünf Jahre alt. Die gute Botschaft: 2015 konnten wir erstmalig eine schwarze Null schreiben. Unsere Zugriffszahlen sind stetig gestiegen, der Dezember war der „beste“ Monat von allen. Mittlerweile lesen uns rund 30.000 Menschen in der Woche, knapp 20.000 Menschen sind Stammleser. Das ist eine Leistung in Zeiten der Medienkrise, auf die wir stolz sind. Insgesamt sind „wir“ aktuell zehn Personen. Weitere Informationen folgen im Januar.
Für 2016 haben wir uns viel vorgenommen. Wir bleiben ehrlich, meinungsstark und transparent. Wir bleiben kritisch und arbeiten dran, gelassener zu sein. Wir haben Fehler gemacht, die wir nicht wiederholen wollen. Wir wollen noch hintergründiger und analytischer werden, weil das unsere Exklusivität ausmacht. Natürlich bleiben wir investigativ und bearbeiten nicht nur die „Sensationen“, sondern bleiben langfristig an Themen dran. Wir haben einige neue Service-Angebote in Arbeit und entwickeln neue Angebote – dabei zählen wir auf konstruktive Kritik unserer Kontakte, unserer Kunden und unserer Leserschaft.
Wir verstehen das „Wir“ als Gemeinsamkeit. Unser Rheinneckarblog ist für uns Menschen hier vor Ort da. Um uns gut zu unterrichten und uns mit unseren Perspektiven auszutauschen. Wir sind alle, die daran mitwirken. Wir haben nicht alles geschafft, was wir uns vorgenommen haben, manche Themen blieben liegen, oft müssen wir einen „Mut zur Lücke“ haben – mit Ihnen gemeinsam können wir mehr.
In diesem Sinne: Auf ein gutes Neues.
Guten Rutsch
Ihr
Ich persönlich danke meinen Mitarbeitern und meinen Freunden. Meiner Familie für viele Entbehrungen meiner Person. Und sehr herzlich meinem Freund Thilo Nagler, der mir in diesem wichtigen Jahr mit kritischem Rat zur Seite gestanden hat und ohne den wir vielleicht nicht durchgekommen wären.
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