Mannheim, 31. Juli 2013. (red/ld) Der Bundestagsabgeordnete Michael Schlecht (Die Linke) fordert einen höheren Mindestlohn in Deutschland und will die Reichen stärker besteuern. Aktuell beobachtet er ein nachlassendes Interesse für politische Veranstaltungen und meint, bei den Bürger/innen habe sich eine gewisse Apathie eingeschlichen. Lydia Dartsch hat den linken Politiker für unsere Interview-Reihe mit Bundestagsabgeordneten befragt.
Interview: Lydia Dartsch
Herr Schlecht, fahren Sie diesen Sommer in Urlaub?
Michael Schlecht: Anfang August mache ich zwei Wochen Urlaub in Griechenland. Aber im Moment habe ich viele Wahlkampftermine.
Wie viele haben Sie da in der Woche?
Schlecht: Ich habe fünf oder sechs Termine jede Woche. Also fast jeden Tag einen anderen.
Worauf freuen Sie sich im Wahlkampf?
Schlecht: Auf die Podiumsdiskussionen, obwohl ich schon festgestellt habe, dass die Veranstalter dieses mal große Probleme damit haben, weil so wenige Zuschauer kommen.
Inwiefern haben die Probleme?
Schlecht: Neulich hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) eine mit allen Bundestagskandidaten organisiert, und es waren nur 30 Leute da; also sehr wenig.
Können Sie sich das erklären? Gibt es da eine Politikverdrossenheit?
Schlecht: Das ist so eine Apathie und die Leute interessieren solche Veranstaltungen meistens nicht. Obwohl ich dieser Veranstaltung auf mehr Zuschauer gehofft hatte, weil die Kandidaten ja aus allen politischen Lagern da waren. Vor vier Jahren war da eine andere Stimmung. Da kamen rund 100 bis 200 Leute zu den Diskussionen.
Könnte das nicht an den anderen Themen liegen?
Schlecht: Nein. Wenn bestimmte Personen, wie Oscar Lafontaine oder Sarah Wagenknecht angekündigt sind, kommen auch viele Menschen. Da geht es nicht um Sachthemen.
Blutspur hinter den Abgeordneten
Sie haben die Behauptung aufgestellt, Angela Merkel gefährde mit ihrer Politik Europa. Wie macht sie das?
Schlecht: Indem sie die treibende Kraft ist, die seit 2010 vor allem den südeuropäischen Ländern dramatische Sparprogramme – also Sozial- und Lohnkürzungsprogramme – aufherrscht. Die haben zur Folge, dass diese Länder ruiniert werden. Das beste Anzeichen dafür ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern. Die liegt ja nicht in der Bildung, sondern daran, dass deren Ökonomien niedergeknüppelt sind.
Durch welche Maßnahmen konkret?
Schlecht: Das fing ja schon im Mai 2010 an, als es hieß: Wir retten Griechenland. Angeblich wollte man helfen, hat das aber unter den Vorbehalt gestellt, bestimmte Kürzungsmaßnahmen durchzuführen. Damit sind diese Länder in den Abgrund getrieben worden. Ich habe das damals bezeichnet als „Rettungsring aus Blei“.
Auf der anderen Seite sollte man doch bei 200 Milliarden Euro für Griechenland erwarten, dass es dem Land zu Gute kommt?
Schlecht: Von den beschlossenen 200 Milliarden Euro sind gerade mal 20 in den griechischen Staatshaushalt geflossen. 90 Prozent der Hilfen sind in Deutschland geblieben. Das haben die deutschen Gläubiger und die Banken bekommen, um damit Schulden und Zinsen zu bezahlen.
Sie werfen den anderen Parteien vor, dass sie eine Blutspur hinter sich her ziehen. Wie meinen Sie das?
Schlecht: Diese Maßnahmen haben Menschenleben gekostet. Die Suizidraten in den südeuropäischen Ländern sind angestiegen. Im vergangenen Oktober habe ich in Athen ein Kinderkrankenhaus besucht und mit dem Leiter der psychiatrischen Station gesprochen. Der hat mir erzählt, dass vor allem die Kinder und Jugendlichen viel stärker zum Suizid neigen. Das kommt durch die Probleme der Eltern, die Zerrüttung der Verhältnisse und die ganzen Folgen aus der Krise.
Was wären denn Alternativen, mit denen man den südeuropäischen Ländern besser helfen könnte, als mit solchen Sparprogrammen?
Schlecht: Erstens sollte man die Staatsfinanzierung direkt durch die Europäische Zentralbank (EZB) organisieren. Das passiert im Moment über Dritte: Die EZB vergibt Kredite zu 0,5 Prozent Zinsen an private Investoren und Banken. Diese verleihen das Geld anschließend für bis zu sieben Prozent Zinsen weiter. Das könnte man vermeiden, indem man eine öffentliche Bank gründet, die nach politischen Prinzipien arbeitet, statt nach wirtschaftlichen. Damit könnte man den Ländern Geld leihen für 0,5 oder 0,6 Prozent. Da hätte man noch eine kleine Managementgebühr drauf, um die Angestellten zu bezahlen. Die Länder könnten sich günstig Geld leihen und es ist Druck vom Kessel genommen.
Was noch?
Schlecht: Man müsste für die südeuropäischen Länder Investitionsprogramme von 600 Milliarden Euro auflegen, eher sogar mehr.
Gegenfinanzierung von Europas Millionären
Woher kommt das Geld?
Schlecht: Das wird gegenfinanziert von den Reichen in den europäischen Staaten. Die Millionäre Europas haben ein Vermögen von ungefähr zehn Billionen Euro. Da könnte man abschöpfen mit einer Vermögensabgabe. Da sind 600 Milliarden Euro ein Klacks dagegen.
Die werden darüber aber nicht sehr erfreut sein, oder?
Schlecht: Das sind nur zwei Prozent der europäischen Bevölkerung. Die jaulen dann auf, aber man könnte vieles damit regeln.
Warum wird so eine öffentlich-rechtliche Bank nicht eingerichtet, wenn sie doch das Problem lösen könnte?
Schlecht: Weil die Politik nicht im Bundestag entschieden wird, sondern in Telefonaten. Zum Beispiel, wenn Angela Merkel früher nicht weiter wusste, hat sie nachts mit Josef Ackermann telefoniert. Und der hat ihr dann gesagt, wie sie das Problem lösen kann. Alle anderen machen mit, weil sie ihre „Angie“ nicht gefährden wollen.
Abgeordnete oder Lobbyisten?
Das ist ja fast schon Korruption, oder?
Schlecht: Die CDU und die FDP haben in den letzten Wochen zum wiederholten Male verhindert, dass Abgeordnetenkorruption unter Strafe gestellt wird. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen das nicht bestraft wird.
Welche Beispiele im Bundestag kennen Sie?
Schlecht: Das fängt schon damit an, dass die Interessenvertreter als Parlamentarier im Bundestag sitzen. Wenn man sich die Nebeneinkünfte von CDU-Abgeordneten ansieht, fragt man sich, ob die noch Abgeordnete sind, oder Wirtschaftslobbyisten. Auch die Entscheidungsfindung in den Ausschüssen ist ein Schmierentheater: Die Mehrheitsverhältnisse sind zementiert und die Formulierung der Gesetze findet in den Ministerien statt, wo die Lobyisten meistens schon als Berater eingestellt sind.
Wie steht es um Ihr Verhältnis zu Interessenvertretern?
Schlecht: Ich kenne eigentlich keinen. Die wissen, dass sie bei mir keine Chance haben.
Ihr Kollege von den Grünen, Gerhard Schick und der SPD-Abgeordnete Marco Bülow haben ja einen Ehrenkodex für Abgeordnete ausgearbeitet. Haben Sie sich dem schon angeschlossen?
Schlecht: Ich habe ihn gelesen, aber nicht weiter verfolgt.
Wieso nicht?
Schlecht: Ein, zwei Dinge fand ich seltsam, zum Beispiel die Steuererklärung zu veröffentlichen. Das ist ein Problem, wenn man verheiratet ist und deswegen mit seinem Partner eine gemeinsame Steuererklärung hat und der Partner in einem Bereich arbeitet, der eine andere Sensibilität über solche Auskünfte erfordert, die aber durchaus ehrenhaft ist.
Wie sieht es denn bei Ihnen aus?
Schlecht: Ich bekomme mein Geld vom Bundestag. Das sind knapp 100.000 Euro im Jahr. Die werden versteuert. Von dem Nettobetrag zahle ich im Jahr 12.000 Euro Mandatsträgerabgabe an meine Partei, dann noch 1.200 Euro im Monat an eine Abgeordnetenkasse, mit der wir verschiedene Projekte unterstützen, dann habe ich am Ende noch 6.000 Euro im Monat übrig. So viel habe ich in meinem vorigen Job als Bereichsleiter bei Verdi auch verdient. Damit habe ich kein Problem.
Beste Sozialreform seit Bismarck?
Menschen, die von Hartz IV leben müssen, haben da eher ein Problem. Wie würden Sie deren Situation denn beschreiben?
Schlecht: Ich finde das schon sehr bizarr. Die SPD vertritt die Position, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe die hervorragendste Sozialreform seit Bismarck sei.
Dem stimmt die Linke ja übehraupt nicht zu. Was läuft Ihrer Meinung nach falsch bei Hartz IV?
Schlecht: Die Reform stürzt die Menschen vollkommen ins Elend. Ihnen werden die Hosen ausgezogen, was die Einkommensverhältnisse angeht. Gerade Menschen im mittleren Alter, die in Hartz IV fallen und sich etwas angespart haben, müssen zuerst ihr hart Erspartes ausgeben, bevor sie Unterstützung vom Staat bekommen. Die Freibeträge, die es gibt, reichen nicht aus.
Despotie und Disziplinierung durch Hartz IV
Was stört Sie noch?
Schlecht: Die Menschen sind der Despotie der Arbeitsagenturen ausgesetzt. Sie müssen alle Jobs annehmen, auch wenn sie miserabel bezahlt sind – Hof kehren für 2,50 Euro die Stunde. Sonst gibt es Kürzungen. Wenn man den Job dann immer noch nicht annimmt, werden die Bezüge ganz gesperrt; und damit man nicht verhungert, bekommt man Essensmarken für den Supermarkt.
Das heißt, die Arbeitsagentur zwingt die Hartz IV-Empfänger dazu arbeiten zu gehen.
Schlecht: Das größte Problem ist die ungeheure Disziplinierung unter den Beschäftigten: Die wissen nicht, was da auf sie zukommt, sollten sie ihren Job verlieren. Sie ahnen nur, dass da ein tiefes, schwarzes Loch ist und das tragen sie als Gefühl immer in der Magengegend mit sich. Das führt dazu, dass sie im Betrieb immer kuschen und alles dafür tun, um nicht mit der nächsten Entlassungswelle rausgeschmissen zu werden. Deshalb ist die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften in den vergangenen zehn Jahren dramatisch zurückgegangen.
Was müsste man bei Hartz IV anders machen?
Schlecht: Man müsste das Sanktionsregime abschaffen und wieder Zumutbarkeitsregelungen einführen. Das heißt, der Job, der einem angeboten wird, müsste zur Qualifikation des Bewerbers, zu dessen bisheriger Tätigkeit und dessen bisherigem Einkommensniveau passen. Außerdem fordern wir, dass Hartz IV auf mindestens 500 Euro plus Kosten der Unterkunft. Der liegt etwa bei rund 370 Euro.
Wie stellen Sie als Ökonom sich die Finanzierung einer solchen Erhöhung vor?
Schlecht: Mit einer höheren Besteuerung für Reiche zum Beispiel. Wir sind ja für eine Vermögenssteuer – „Millionärssteuer“ nennen wir das: Wer mehr als eine Million Euro an Vermögen besitzt, soll davon fünf Prozent Steuern bezahlen.
Wie wird die Forderung aufgefasst?
Schlecht: Wenn ich bei einer Gewerkschaftsveranstaltung spreche und frage: „Wer von Euch müsste dann Steuern bezahlen?“ Dann lachen alle. Wenn ich dagegen bei einer Betriebsversammlung spreche, bekommt die Geschäftsleitung in der ersten Reihe einen roten Kopf – wenn ich im richtigen Betrieb bin.
Zumindest, wenn sie ihr Vermögen nicht auf Auslandskonten verbucht haben.
Schlecht: Da sind wir ja gerade dabei, die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft zu koppeln, so wie die USA das machen. Wer dann sein Geld in Steueroasen verschieben will, muss seine Staatsbürgerschaft aufgeben – und damit die ganzen Annehmlichkeiten, die es in Deutschland gibt.
„Subvention für geizige Arbeitgeber“
Die Linke fordert auch einen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde. SPD und Grüne wollen 8,50 Euro. Wie kommen Sie auf den Betrag?
Schlecht: Zehn Euro sind eigentlich auch nicht genug. Wir müssen mindestens auf 12 Euro kommen – schon deshalb, weil man sonst das Aufstockerproblem nicht in den Griff bekommen würde.
Aufstockerproblem? Sie meinen, dass Geringverdienende zusätzlich Hartz IV beziehen müssen?
Schlecht: Genau. Der Staat subventioniert die Chefs, die zu geizig sind, einen anständigen Lohn zu zahlen, jedes Jahr mit 11 Milliarden Euro. Das ist Aufstocken.
Sind denn nur die Chefs geizig oder nicht auch die Verbraucher, die immer das billigste Angebot haben wollen?
Schlecht: Nehmen wir mal Friseure als Beispiel: Wenn es Mindestlohn gibt, müssen alle Friseure die Preise erhöhen, und Sie als Kundin, stehen dann vor der Wahl, gar nicht mehr zum Friseur zu gehen, oder mehr zu bezahlen – vor dem Hintergrund, dass auch Sie dank Mindestlohn einigermaßen anständig bezahlt werden. Wenn wir im ganzen Land einen Mindestlohn haben, ist das Argument, dass sich die Preise erhöhen und die Kunden weglaufen, absoluter Quatsch. Weil das ja überall passiert, gibt es keine Ausweichmöglichkeiten mehr.
Wo wurde der Mindestlohn denn schon eingeführt und welche Erfahrungen hat man da gemacht?
Schlecht: In Großbritannien ist er vor zehn Jahren eingeführt worden. Da sind die Gewinne der Unternehmen ein bisschen zurückgegangen.
Zur Person:
Michael Schlecht wurde am 25. Juni 1951 in Hildesheim geboren und wuchs in Hamburg auf. Im Jahr 1966 machte er den Schulabschluss mit Mittlerer Reife und absolvierte eine Ausbildung zum Drucker. Nach seinem Zivildienst im Jahr 1973 studierte er in Berlin Druck-Ingenieurswesen und Volkswirtschaftslehre.
Nach seinem Abschluss arbeitete er ab 1980 bei der Industriegewerkschaft (IG) Druck und Papier in Stuttgart, die sich 1989 mit der IG Kunst, Kultur und Medien zur IG Medien zusammenschloss. Als diese im Jahr 2001 in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) aufging, wurde Michael Schlecht dort Chefvolkswirt.
Im Jahr 1982 trat er der SPD bei. Wenig später beteiligte er sich an dem Versuch, mit den „Demokratischen Sozialisten“ (DS) eine Partei links von der Sozialdemokratie zu gründen. Als der Versuch scheiterte, kehrte Michael Schlecht zur SPD zurück, die er im Jahr 2005 wegen deren Politik der „Agenda 2010“ verließ.
Er wechselte zur Partei „Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“ (WASG), wo er ein Jahr später in den Bundesvorstand gewählt wurde. Nach dem Zusammenschluss mit der PDS zur Partei „Die Linke“ wurde er 2007 Mitglied in ihrem Vorstand.
Bei der Bundestagswahl 2009 trat Michael Schlecht im Wahlkreis Mannheim an und wurde über die baden-württembergische Landesliste als Abgeordneter in den Deutschen Bundestag gewählt. Innerhalb seiner Fraktion hat er die Position des Chefvolkswirts inne. Er ist ordentliches Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie. Michael Schlecht lebt in Stuttgart.