Rhein-Neckar/Stuttgart, 30. März 2015. (red) Aktualisiert. Im Rahmen der Untersuchungen zum Nationalsozialistischen-Untergrund (NSU) stehen die Untersuchungsausschussmitglieder und Behörden vor einem Problem: Ihnen sterben die Zeugen weg. Einfach so. Vollkommen überraschend. Aktuell ist eine mutmaßlich frühere Freundin von Florian H. (21) verstorben, der sich selbst auf dem Weg zu einer Vernehmung in Sachen NSU zum Suizid durch Selbstverbrennung in seinem Auto entschieden haben soll. Ein anderer Zeuge „Corelli“ (39) verstarb vollkommen unerwartet an einer unerkannten Diabetes. Der NSU ist eine tödliche Angelegenheit und der Untersuchungsausschuss muss dringend aufgefordert werden, die Sicherheit von Zeugen zu garantieren – denn sonst redet keiner mehr.
Kommentar: Hardy Prothmann
Mal ehrlich? Es geht hier nicht um Falschparken oder das beliebte „Kavaliersdelikt“ Steuerhinterziehung. Es geht um systematischen, vorsätzlichen Mord und Totschlag. Um Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit. Um Willkür und den Kampf gegen unsere freiheitliche Grundordnung.
Versagt der Staat komplett und vorsätzlich?
Der NSU-Komplex ist der größte staatsgefährdende Terrorakt, den Deutschland nach Hitler je erlebt hat.
Da kommt kein Islamismus mit, dagegen sind linke Extremisten Kindergartenhosenscheißer. Der Fanatismus von Islamisten mag hoch sein, die Straftaten von Linksextremisten mögen statistisch höher sein – aber die Bedrohung durch diesen Rechtsterrorismus ist absolut gefährlich. Nicht nur wegen der vielen Todesopfer – sondern insbesondere, weil der Staat komplett versagt.
Und weil man sich die Frage stellen muss, ob es sich um ein Versagen oder um ein, von wem auch immer mindestens toleriertes, wenn nicht unterstütztes System handelt.
Es geht nicht mehr und nicht weniger um die Vertrauensfrage: Leben wir in einem Rechtsstaat, in dem es mit rechten Dingen zugeht oder eben nicht.
Reihenweise sterben Zeugen
Wenn im Zuge der „Ermittlungen“ reihenweise Zeugen sterben, muss man erhebliche Zweifel haben, ob man diesem Rechtsstaat trauen kann. Kann das wirklich sein, dass erst die Familie von Florian H. im ausgebrannten Auto eine Pistole, eine Machete und andere Dinge findet, die „die Polizei übersehen hat“?
Eine Polizei, die sich solche Anschuldigungen bieten lässt und nicht peinlichst genau feststellt, wie es zu dieser Ermittlungspanne gekommen ist, muss sich fragen lassen, ob man keine peinlichst genauen Fragen stellen will, weil der Corpsgeist das verbietet, sprich: Die Polizei ist nicht zu kritisieren.
Eine Staatsanwaltschaft, die danach wieder „Ermittlungen“ aufnimmt, muss ich fragen lassen, welchen Wert den vorhergehende Ermittlungen hatten? Keinen?
Wer ist eigentlich noch für irgendwas verantwortlich?
Ein Untersuchungsausschuss, der nicht-öffentlich eine Zeugin befragt, die sich bedroht gefühlt haben soll und die jetzt tot ist, muss sich fragen lassen, was man getan hat, um das Leben dieser Zeugin zu schützen? Und zwar peinlichst genau und nicht wischiwaschi, so, wie man das insgesamt von den „NSU-Ermittlungen“ kennt.
Und ein Untersuchungsausschussvorsitzender Wolfgang Drexler (SPD) meint angesichts der Todesnachricht, es sei „es wäre fahrlässig, nun Spekulationen zum möglichen Hintergrund des Todes zu äußern“. Absolut richtig. Aber hat Herr Drexler auch nur ansatzweise über die eigene Fahrlässigkeit nachgedacht? Über die der ermittelnden Polizei, die nicht in der Lage ist, in einem Kleinwagen eine Machete, eine Pistole und einen Schlüsselbund zu finden?
Verschwörungstheorien vs. Dilettantismus
Kein Wunder, wenn die Verschwörungstheorien ins Kraut schießen. Soviel Dilettantismus glaubt kein Mensch mehr – insbesondere, weil niemand zugibt, ein Dilettant zu sein. Das wäre doch mal eine überraschende Wendung, wenn sich Polizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsausschuss mit einer ganz, ganz ehrlichen Aussage der Öffentlichkeit präsentieren würden:
Wir dilettieren hier vor uns rum. Sorry dafür. Es ist nicht böse gemeint, sondern einfach Tatsache. Wir können das halt nicht besser.
Warten wir mal ab, welche „Erklärung“ die Behörden für die krampfende Zeugin haben, die leider, leider, im Alter von 20 Jahren gestorben ist, nachdem sie sich bedroht gefühlt haben soll. Depression ist gerade groß in Mode und die Steigerung von Liebeskummer, weswegen sich deren früherer Freund und Ex-Neonazi Florian H. im September 2013 verbrannt haben soll. Ein Zeuge, der angeblich wusste, wer die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn umgebracht hat – die Behörden behaupten, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die Komplizen der vor Gericht stehenden Beate Zschäpe. Doch ob die beiden NSU-Terroristen tatsächlich die Täter waren, ist nicht zweifelsfrei bewiesen.
Nicht-lebensmüde Zeugen wissen, was sie nicht aussagen werden
Weitere Zeugen, die nicht lebensmüde sind, werden sich angesichts der herrschenden Verhältnisse nicht finden lassen, wenn sie bei Verstand sind. Aber vielleicht ist ja genau das Sinn und Zweck dieser staatlichen Farce – die Botschaften sind angekommen.
Dazu gehört auch das Schweigen der Lämmer, insbesondere Hans-Ulrich Sckerl. Der grüne Landtagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Weinheim schwang sich einst zum vollmundigen Aufklärungsritter empor, stolperte dann aber kläglich über einen email-Skandal und seitdem hört man nichts mehr von ihm. Aufklärungsinteresse: Null.
Denn die entscheidende Frage muss lauten, ob der Untersuchungsausschuss genau Null Aufklärungsinteresse hat – und sowas fragt man nicht ein Jahr vor dem Landtagswahlkampf, wenn es um die eigene Wiederwahl geht. Jürgen Filius, Grünen-Obmann, sagte zu den von der Familie von Florian H. gefundenen Gegenständen:
Wenn die Polizei tatsächlich eine Pistole, den lange gesuchten Schlüsselbund und ein Feuerzeug im Autowrack übersehen hat, bin ich bestürzt über die Qualität der Ermittlungen.
Mal schauen, wie bestürzt er und andere sich nun zum Tod einer Zeugin äußern werden.
Aktualisierung, 30. März 2015, 11:10 Uhr
Nach Auskunft der Behörden soll die junge Frau durch eine Lungenembolie ums Leben bekommen sein. Sie habe sich vor einiger Zeit bei einem Sturz eine Knieverletzung zugezogen, sei auch auf Trombose behandelt worden und an den Folgen eines verstopften Gefäßes gestorben.