Rhein-Neckar/Berlin, 30. Dezember 2016. (red/pro) Nach dem Terroranschlag von Berlin verhaftete die Polizei zunächst einen Pakistani als Tatverdächtigen – dieser wird wieder auf freien Fuß gesetzt, als sich der Verdacht nicht erhärten lässt. Jetzt erhebt der Mann schwere Vorwürfe gegen die Polizei und die Medien skandalisieren das Thema – bei vorsätzlicher Unterlassung der journalistischen Sorgfaltspflicht. Deutsche Qualitätsmedien frisieren sich die Übernahme der Story so hin, dass sie passt.
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Von Hardy Prothmann
“Als ich mich wehrte, fingen sie an, mich zu schlagen” (Zeit online, 29.12.2016, 20:59 Uhr), “Jetzt spricht der Mann, den die Polizei falsch verdächtigte” (Focus online, 29.12.2016, 23:00 Uhr, wenn Sie diesen Link aufrufen, achten Sie mal auf die URL…), “Sie begannen, mich zu schlagen” (Spiegel online, 29.12.2016, 23:50 Uhr, achten Sie hier auch auf die URL), “Die Polizisten fingen an, mich zu ohrfeigen” (30.12.2016, 02:05 Uhr),
Das sind nur einige Berichte, die allesamt Abschriebe eines Artikels aus dem britischen Guardian “Man wrongly arrested over Berlin attack says he fears for his life” (Mann, der wegen der Berlin-Attacke zu Unrecht verhaftet war, fürchtet um sein Leben) darstellen und weitgehend ohne eigene Recherche geschweige den Fact-Checking auskommen. Da reibt man sich die Augen.
Offenbar wenig Ahnung von polizeilichen Maßnahmen
Offenbar weiß niemand in diesen Redaktionen so recht, wie eine Verhaftung ablaufen kann und ist auch nicht ansatzweise willens das zu tun, was Journalisten immer tun sollten: Angaben in Zweifel zu ziehen und sie zu prüfen.
So darf der empörte Pakistani berichten, er habe die Hände hinter dem Rücken gefesselt bekommen und bei der Fahrt sei sein Kopf mit festem Griff in den Nacken nach unten gedrückt worden und zwei Beamten hätten ihre Stiefelabsätze in seine Füße gedrückt. Übersetzt heißt das – der Mann ist fixiert worden. Weil er sich möglicherweise gewehrt hat oder die Polizisten eine Gegenwehr verhindern wollten – zum Selbstschutz und zum Schutz des Tatverdächtigen.
Dann sei er geohrfeigt worden, als er sich auf der Wache zur Wehr setzte. Bei verschiedenen Medien wird aus den Ohrfeigen “sie schlugen mich”. Übersetzt heißt das: Der Tatverdächtige hat Anordnungen nicht Folge geleistet und die Polizei hat unmittelbaren Zwang ausgeübt. Weiter sei er ausgezogen und fotografiert worden. Das klingt nicht nach einem üblichen Verfahren, wenn jemand festgenommen wird, der über den Durst getrunken hat und randaliert. Wir erinnern uns: Es war ein Terroranschlag verübt worden, 12 Tote, 48 zum Teil Schwerverletzte. Da überprüft man Tatverdächtige auch auf Körpermerkmale, die die Ermittlungen weiterbringen können.
Erstaunliche Angaben
Ganz empört zeigt sich der Mann, weil er doch nur über eine befahrene Straße gerannt sei, um seine U-Bahn zu erwischen. Offensichtlich ganz normal für viele Journalisten, die vergessen haben, dass man in Deutschland nicht mal eben so über befahrene Straßen rennt, um seine U-Bahn zu erwischen, die in Berlin sowieso in hoher Taktfrequenz fahren.
Weiter heißt es im Original, er sei zwei Tage und eine Nacht in Arrest gewesen – wenigstens das wurde nicht übernommen. Es waren 20 Stunden.
Weiter moniert der Mann, es habe kein Übersetzer für Belutschi zur Verfügung gestanden. Der Übersetzer habe nur Punjabi und Urdu gesprochen, was er nur wenig verstehen und kaum sprechen könne. Seltsamerweise konnte er dem Guardian umfangreich Auskunft geben – die hatten anscheinend einen des Belutschi mächtigen Dolmetscher. Nur seltsam, dass der Mann sehr detailliert schildern kann, was er in der Vernehmung gefragt worden ist – also genau das erzählt, was er angeblich nicht verstanden hat.
Auch die Unterbringung bemängelt der Mann – er habe nur ungenießbare Kekse und kalten Tee bekommen. Die Pritsche habe keine Matratze gehabt und er sei gefesselt geblieben. Klingt fast wie eine pakistanische Knasthölle – fehlen nur noch die Ratten und Kakerlaken. Eine Gegenrecherche vom Guardian oder den abschreibenden Medien gibt es ausweislich der Texte keine.
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Die Nummer wird noch härter. Weil er jetzt öffentlich dargestellt worden sei, müsse er um sein Leben fürchten und das seiner Familie in der Provinz Baluschistan im fernen Pakistan. Er sei dort in einer “säkulären Separatistenorganisation” tätig gewesen und deswegen politisch verfolgt. Gleichzeitig berichtet er, dass er fünf Mal am Tag als Muslim betet. Ein säkularer Strenggläubiger also. Interessant. Mal ist er 23, mal 24 Jahre alt. Egal, ist ja nur ein Detail.
Was heißt “politisch verfolgt”?
Da man in der Heimat nun wisse, dass er nach Deutschland geflohen sei, sei seine Familie in Gefahr, die er nicht beschützen könne. Deswegen habe er sich in Absprache mit der Familie entschlossen, über seinen Fall zu reden und ihn öffentlich zu machen. Und der Guardian zeigt dazu ein ordentliches Porträtfoto, auf dem man ihn klar erkennen kann. Im Text wird ziemlich genau beschrieben, woher er stammt und der Mann meint, in seiner Umgebung seien viele abgeholt, gefoltert und getötet worden. Er behauptet:
Before the attack for which I was arrested, no one in Balochistan knew I had disappeared.
“Politisch verfolgt” kann nur sein, wer politisch verfolgt wird und das werden üblicherweise ganz konkrete Menschen. Und die Leute, die ihn politisch verfolgt haben, hätten über ein Jahr nach seiner Abreise nicht bemerkt, dass er “verschwunden” sei? Wow – man lernt nie aus. Was die Tatsache, dass er in Deutschland ist, an der angeblichen Bedrohungslage ändert, erklärt er nicht. Dafür interessiert sich die Zeitung auch nicht. Wenn er ein kleines Licht ist, interessiert das im fernen Pakistan niemanden – außer, er ist mehr als er zu sein vorgibt. Dann könnte man ihm folgen – doch dazu gibt es keine Informationen.
Während die Behörden den Mann aus der Unterkunft herausgeholt haben, weil es dort möglicherweise durch nationalistische Pakistani oder Rechtsextreme zu gefährlich sein könnte, geht der Mann also an die Öffentlichkeit, weil er meint, dass dies Gefahren mindern könnte, was offenbar auch die Zeitung so sieht, denn sonst hätte man ihm ja nicht das öffentliche Forum geboten. Ein ganz erstaunliches Verhalten für einen eingeschüchterten Ziegenhirten aus den kargen Bergen Belutschistans.
“Wenn ich das getan hätte, sollte man mich in Stücke schneiden”
Belutschistan ist seit Jahren ein von Kämpfen zwischen der pakistanischen Armee und Separatisten sowie Terroristen heimgesuchtes Gebiet. Wie so oft geht es neben vordergründig politischen und religiösen Kämpfen vor allem um Rohstoffe, die es dort reichlich gibt, während die Bevölkerung arm, ungebildet und arbeitslos ist. Tatsächlich verschwanden in den vergangenen Jahren tausende von Menschen. Polizeiliche Aufklärung gibt es keine. Die “Separatisten” sind aber keine Demokraten, sondern in aller Regel auch Gewalttäter, die ebenfalls Menschen verschwinden lassen.
Der “politisch-separatistische” Pakistani zeigt sich entsetzt, dass er des Terrors verdächtigt worden sei und gibt zu Protokoll:
You in Germany are providing us with food, medicine and safety. You are like my mother. If you find I was doing these things to your country, you should not give me an easy death, you should cut me up slowly.
Der Mann floh also vor Gewalt nach Germany und fühlt sich hier wie bei Mama:
Wenn ich sowas eurem Land angetan hätte, solltet ihr mir keinen einfachen Tod gewähren, sondern mich langsam in Stücke schneiden.
Das ist eine interessante Vorstellung von “gerechter Strafe” für jemanden, der vor Krieg, Gewalt und Tod geflohen zu sein vorgibt. Der Flüchtling lebt seit gut einem Jahr in Deutschland. Er hofft hier auf Arbeit. Offenbar hat er in einem Jahr auch nicht ansatzweise Deutsch gelernt. Seine Reise nach Deutschland habe er angezahlt, die Familie stottere diese nun bei einem “Agenten” ab. Der hätte entschieden, ihn nach Deutschland zu schicken. Kosten: 5,724 Dollar, wie der Guardian schreibt. Bei einem mittleren Pro-Kopf-Einkommen von unter 1.000 Dollar im Jahr müsste die Familie also über mehrere Jahre alles, was sie zum Leben braucht, an den Schlepper bezahlen. Kann das so sein? Natürlich nicht, weil sie verhungern würden. Also muss das Geld aus weiteren Quellen kommen.
Auch interessant, was im Artikel des Guardian steht, aber nicht in den Übernahmen deutscher Medien auftaucht:
He has already been accused of sexual assault, a charge he vehemently denies.
“Er wurde bereits wegen eines Sexualdelikts beschuldigt, was er vehement bestreitet.”
Man darf gespannt sein, ob der Mann, der nach früheren Berichten mindestens zwei Alias-Namen benutzt haben soll, in Zukunft weiter in Erscheinung tritt.
Anm. d. Red.: Wir haben nur einzelne Punkte aufgegriffen – der Artikel zu “Merkwürdigkeiten” in diesen Berichten hätte auch länger sein können. Natürlich könnte es sein, dass die Polizei sich nicht korrekt verhalten hat. Dann muss man dies aber prüfen und nicht einfach einer Behauptung Glauben schenken und diese verbreiten. Wieso tun deutsche Medien dies? Ganz einfach: Sie beziehen sich auf eine ausländische Quelle und stehlen sich damit aus der Verantwortung. Da auch konkret kein Verantwortlicher genannt ist, muss man auch keine Sorge haben, dass diese sich gegen Falschbehauptungen wehren. Im vorliegenden Fall macht der krasse Kontrast die Geschichte interessiert: Hier der arme, unschuldige, verfolgte Flüchtling – dort der kalte, gewalttätige, übermächtige Staat. Und schon ist die Skandalisierung perfekt.
Wir haben frühzeitig auf erhebliche Versäumnisse der Behörden hingewiesen – aber immer belegt am Fall und nicht pauschal und schon gar nicht auf Angaben einer Person hin.
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