Rhein-Neckar/Straßburg/Edingburgh, 30. Mai 2016. (red) Die Entscheidung des schottischen Parlaments in Edinburgh ist eindeutig. Nach mehr als zwei Stunden Diskussion stimmten die 128 schottischen Parlamentarier am vergangenen Donnerstag (26.5.) mit nur 8 Gegenstimmen und 3 Enthaltungen für… den Verbleib Schottlands in der EU. Das bevorstehende Referendum am 23. Juni wird knapp ausgehen – die Stimmung liegt knapp vorne für einen Verbleib in der EU. Insbesondere die Schotten, Iren und Waliser sind mehrheitlich dafür – entscheidend wird sein, wie letztlich die Engländer abstimmen werden.
Von Udo Seiwert-Fauti
Aktuelle Umfragen in Schottland bestätigen die aktuelle politische Entscheidung. Danach werden zwischen 60 und 70 Prozent der Schotten beim EU-Referendum am 23. Juni, kurz: Brexit genannt, für die EU und den Verbleib Schottlands und des UK in der EU abstimmen.
Seit Februar 2016 läuft in Schottland die pro-EU Kampagne der schottischen Regierungspartei Scottish National Party. Ihre vergangenen Wahlerfolge in den Unterhauswahlen 2015 und zum schottischen Parlament am 5. Mai 2016 haben dieser sozialdemokratisch ausgerichteten Partei zum Ruf verholfen, als Vorbild für viele andere sozialdemokratische Parteien in Europa zu gelten.
Nicht zuletzt die pro-EU-Rede von Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon im Februar hat das Bekenntnis der Schotten zu Europa und zur EU deutlich gemacht. Die 46- jährige Juristin aus Glasgow ist mittlerweile auch im gesamten UK für Europa und den EU-Verbleib im Einsatz. Zuletzt hat sie in einem längeren Interview mit dem englischen/ britischen Nachrichtenkanal ITV News ihre Begeisterung für Europa und die EU zum Ausdruck gebracht.

Udo Seiwert-Fauti ist BBC-Korrespondent und arbeitet als freier Journalist für weitere Sender und Printmedien. Seit Jahren ist er auf EU-Themen spezialisiert. Foto: privat
Schottland wird eindeutig für Europa stimmen
Schottland, das bestätigen auch diejenigen Politiker, die für einen EU-Austritt sind, wird wohl am 23. Juni 2016 eindeutig und überzeugend für Europa und die EU stimmen. Immerhin kämpften die Schotten in den vergangenen Jahrhunderten zumeist an der Seite der Franzosen gegen die Engländer. Die EU und da vor allem Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien sind Schottlands wichtigste europäische Märkte. Beim Whiskykonsum sind die Franzosen EU-weit Spitze.
Die Lage in den beiden anderen keltischen Nationen ist nahezu vergleichbar mit Schottland. Nach einer aktuell veröffentlichten Umfrage werden gut 55-60 Prozent der Nordiren und rund 53–55 Prozent der Waliser für den Verbleib in der EU stimmen. Wer nicht nur die politische Orientierung der Nordiren zum EU Nachbarn, der Republik Irland, kennt, ist darüber keineswegs verwundert. Bei einem UKAustritt aus der EU würde – für Nordiren und Iren unvorstellbar – die EU-Außengrenze zwischen Nord-Irland und der Republik Irland verlaufen. Wer weiß, dass zuletzt der irisch-republikanische Außenminister massiv in den Verhandlungen involviert war, um das nord-irische (britische) Regionalparlament in Belfast wieder zum Laufen zu bekommen, kann sich leicht die EU- und Europafreundlichkeit der Nord-Iren vorstellen. Auch wenn es natürlich auch hier sehr EU-kritische Stimmen gibt.
Haltungen prallen frontal aufeinander
Wer mit diesem Hintergrundwissen in den größten Landesteil des United Kingdom of Great Britain and Northern-Ireland kommt, also nach England, betritt ein komplett anderes Land. Derzeit prallen die Pros und Contras der pro-EU und leave-EU Bewegungen/ Kampagnen frontal aufeinander. Sind die Pros für den Verbleib des UK in der EU, um die britischen Außengrenzen oder die Frauenrechte zu schützen, sind umgehend die EU Gegner per Plakat, per mail, per Twitter, Facebook und allen anderen verfügbaren Social Media zur Stelle, um das genaue Gegenteil zu fordern. Nicht nur journalistische Beobachter, vor allem aus EU-Ländern, werden mit einer nicht endend wollenden Flut von Infos bombardiert, um entweder den Austritt aus der oder den Verbleib in der EU zu rechtfertigen.
Emotionen statt Fakten
Dabei ist mehr und mehr zu beobachten, dass Fakten zur EU immer mehr in den Hintergrund treten und Emotionen klar die Überhand gewinnen. Nichts wird derzeit so heiß diskutiert wie die Rückeroberung der britischen Grenzkontrolle, die Kontrolle der EU-Migranten (die alle ins UK kommen, „um hier das englische Gesundheitssystem zu belasten oder Engländern die Wohnungen wegzunehmen…“) oder die Zurückeroberung der nationalen Kontrolle. Denn, wie könnte es anders sein, all das hat nach Ansicht der leave-Kampagnen die EU den Briten weggenommen. Jetzt wollen diese genau das zurückhaben. Ob es stimmt oder nicht.
Dazu passt natürlich auch, das jede Äußerung und Warnung vor einem Verlassen der EU zum Beispiel des Internationalen Währungsfonds, der UN, der Regierungen der USA, von Japan, von Deutschland und Frankreich von den EU-Gegnern vehement als Einmischung in innere Angelegenheiten und von den EU-Befürwortern als willkommene Wahlhilfe gefeiert werden. Nach einer solchen „Warn-Äußerung“ dauert es wirklich nur Sekunden, bis die Pro– und Contra–Schlacht immer wieder aufs Neue entflammt.
Dabei ist das alles erst der Anfang. Offiziell wird am 1. Juni die nächste Diskussions- und Infowelle anrollen. Gut drei Wochen vor einem Referendum – oder Wahltag öffnen sich üblicherweise kaum vorstellbare Info- und Diskussionsschleusen, wie die Schotten am Beispiel ihres Unabhängigkeitsreferendums im September 2014 gerne bestätigen werden. Zudem werden die Umfragen, im UK „Polls“ genannt, nahezu täglich zunehmen.
EU-Befürworter erstmals nach Umfragen vorne
Sehr aktuell weist der von der schottischen University of Stirling initiierte „Poll of Polls“, die Zusammenfassung aller bislang veröffentlichten Umfragen, einen sehr interessanten und wirklich ganz neuen Trend aus. Nach vielen Wochen eines Gleichstands von Pro und Contra, also 50 Prozent aller Briten für den Ausstieg, und 50 Prozent der Briten für den Verbleib, hat sich jetzt erstmals das Blatt PRO-EU gewendet.
Aktuell lautet der „Poll of the Polls“-, Stand 27. Mai 2016: 53 Prozent für remain /Verbleib, 47 Prozent für Leave / Ausstieg.
In EU-Kreisen und in Berliner Politikreisen wird dieser aktuelle Trend sicher mit Begeisterung aufgenommen werden. Dort ist man überzeugt, dass ein UK-Austritt aus der EU immense politische wie wirtschaftliche Konsequenzen für die EU haben wird beziehungsweise haben könnte und das UK dringend in der EU bleiben muss, wie europakritisch die Briten auch sein mögen. Schon früh hat Bundeskanzlerin Merkel (Konservativ) dem konservativen britischen Regierungschef David Cameron ihre Unterstützung zugesagt.
Er ist der britische Premierminister, der das Brexit-Referendum erst möglich gemacht hat. Nachdem die euroskeptische britische UKIP Partei mit ihrem Parteichef Nigel Farage, der als Europaparlamentsmitglied tätig ist, die Konservativen vor allem in England immer mehr politisch bedrängte – in Schottland spielt UKIP kaum eine Rolle – und eine Reaktion auf diese „Bedrohung“ her musste, entschied sich Premierminister Cameron für die Möglichkeit eines Referendums.
Neuverhandlungen sollen den Verbleib „schmackhaft“ machen
Auch um seine sehr konservativen parteiinternen Kritiker wie den „Rt Hon MP“ David Rees-Mogg mit ihren intensiven europafeindlichen Ausstiegstendenzen zu beschwichtigen. Er versprach den so genannten „backbenchers“ (Hinterbänkler) seiner Partei und dem britischem Volk, er werde mit der EU neu verhandeln und dann dieses Verhandlungsergebnis in einem Referendum durch das britische Volk bewerten lassen.
Die Neuverhandlungen mit den anderen EU-Staatschefs brachte laut Spiegel dieses Ergebnis:
- Cameron bekommt seine „Notbremse“, um die Zuwanderung aus EU-Staaten zu beschränken. Steigt die Zuwanderung auf ein „außergewöhnliches Maß“, kann die Regierung in London einen „Schutzmechanismus“ beantragen, um Sozialleistungen wie Lohnzuschüsse und den Anspruch auf Sozialwohnungen zu kürzen oder zu streichen. Die Sonderregelung darf höchstens sieben Jahre lang angewendet werden. Cameron hatte eigentlich 13 Jahre durchsetzen wollen. Für den einzelnen Arbeitnehmer dürfen die Einschränkungen nur „bis zu vier Jahre“ gelten – und auch nur, wenn er neu ins Land kommt.
- Kindergeld nach Aufenthaltsland. Die Regelung gilt etwa für Kinder, die in der Heimat der Eltern bleiben, während diese zum Arbeiten ins EU-Ausland gehen. Das Kindergeld kann niedriger ausfallen, wenn der Lebensstandard im Aufenthaltsland der Kinder niedriger ist. Bis 2020 sind nur neue Zuwanderer von der Regelung betroffen, danach alle Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern. Die Regelung können darüber hinaus alle EU-Staaten anwenden – auch Deutschland.
- Die Bankenaufsicht in der Eurozone soll keinen Beschränkungen durch die Sonderregelungen für Großbritannien unterliegen. Auch künftige Maßnahmen zur Finanzmarktregulierung sollen davon nicht betroffen sein. Wettbewerbsverzerrungen zugunsten des britischen Bankensektors sollen ausgeschlossen werden. Umgekehrt erhält Großbritannien das Recht, seine Banken und den heimischen Finanzmarkt selbst zu überwachen.
- Die von Cameron kritisierte Formulierung einer „immer engeren Union“ aus den EU-Verträgen zwingt keinen Mitgliedstaat dazu, an einer weiteren politischen Vertiefung teilzunehmen, heißt es in der Vereinbarung. Möglich seien „verschiedene Wege der Integration“. Nationale Parlamente sollen ein stärkeres Mitspracherecht haben und EU-Gesetze kassieren oder Änderungen verlangen können, wenn sie insgesamt mehr als 55 Prozent der für die Parlamente vorgesehenen Stimmen repräsentieren.
- Die EU soll ihre Anstrengungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit verstärken, um Wachstum und Jobs zu schaffen. Geplant sind „konkrete Schritte“, um bessere Gesetzgebung zu ermöglichen sowie Verwaltungslasten und Bürokratiekosten zu beseitigen. „Unnötige“ Gesetzgebung auf EU-Ebene soll zurückgenommen werden.
Über dieses Verhandlungsergebnis mit den Staatschefs der anderen 27 EU-Mitgliedsländer werden die Briten per Referendum darüber abstimmen, ob das UK auch weiterhin in der EU bleibt oder am 24. Juni die EU ein Mitgliedsland weniger haben wird.
Die eindeutige Frage heißt am 23. Juni 2016 : „Should the United Kingdom remain a member of the European Union?“ – „Yes“ or „No“.
Zur Person:
Udo Seiwert-Fauti arbeitet für mehrere deutsch- und englischsprachige Medien (ARD, BBC) sowie in Deutschland und international als Fachdozent in der Journalistenausbildung. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören das EU-Parlement und der Europarat; außerdem ist er bei der Bundespressekonferenz und dem Scottish Parliament in Edinburgh akkreditiert.
Unsere Kolumne Montagsgedanken greift Themen außerhalb des Terminkalenders auf – ob Kultur oder Politik, Wirtschaft oder Bildung, Weltweites oder Regionales, Sport oder Verkehr. Kurz gesagt: Alle Themen, die bewegen, sind erwünscht. Teils kommen die Texte aus der Redaktion – aber auch sehr gerne von Ihnen. Wenn Sie einen Vorschlag für Montagsgedanken haben, schreiben Sie bitte an redaktion (at) rheinneckarblog.de, Betreff: Montagsgedanken und umreißen uns kurz, wozu Sie einen Text in der Reihe veröffentlichen möchten. Natürlich fragen wir auch Persönlichkeiten und Experten an, ob sie nicht mal was für uns schreiben würden….