Mannheim, 29. Juni 2013. (red/ld) Reverend Billy alias Billy Talen tourt mit seinem Stop Shopping Choir durch die USA und Europa und predigt Konsumkritik. Er fordert auf, Fragen zu stellen und gibt doch hauptsächlich Antworten. Das macht das Leben bequem und die Show gefällig. Ironischerweise tut er genau das, was er kritisiert – und das Publikum macht mit. Die Ironie wird gesteigert ins Unerträgliche. Am Ende bleiben viele Fragen zurück: Ist diese Auftragsarbeit für die 17. Internationalen Schillertage wirklich ein Gottesdienst gegen Kapitalismus und globale Erwärmung? Kann man gleichzeitig Fragen stellen und zu Gott beten? Bemerkt das Publikum die Ironie? Was hat das mit Schiller zu tun?
Von Lydia Dartsch
„Was wollen die alle hier?“, frage ich mich beim Betrachten des Publikums. Es sieht aus, als legten die Leute hier Wert darauf, Geld auszugeben. Etwas, das vollkommen das Gegenteil dessen ist, was Reverend Billy und sein Chor predigen:
Hört auf, Euch berieseln zu lassen! Stellt Fragen!
Die anderen Zuschauer schätze ich auf ein Alter zwischen 20 und 30 Jahren, es gibt auch vereinzelt ältere. Ich hätte vor allem Leute aus der alternativen Szene erwartet, mit Klamotten vom Flohmarkt oder Rasta-Zöpfen. Die kommen wohl kaum ins „bürgerliche“ Theater.
Calvin Klein vs. Flohmarkt
Stattdessen bin ich umzingelt von wohl angepassten Bürgerinnen und Bürgern, die, wie ich selbst, jeden Morgen aufstehen, arbeiten gehen, und samstags die Innenstädte und Einkaufsmeilen der Region zum Shoppen bevölkern.
Die Frau links neben mir reicht ihr Calvin-Klein-Designer-Jäckchen ihrem nicht weniger adrett gekleideten Freund. Ihr iPhone liegt auf dem Schoß, bereit zum Twittern. Der Mann rechts neben mir hat seine rote Lederjacke angezogen – ich sitze mittendrin in meinen schicken Klamotten vom Flohmarkt.
„Die NSA sammelt Fragen, um Antworten zu geben“
Reverend Billy und der Stop Shopping Choir, bestehend aus Dragonfly, Gaylen Hamilton, Laura Newman und Nehemia Luckett haben hier im Studio Werkhaus also das richtige Publikum für ihren Gottesdienst. Denn das ist ihre Show: Sie predigen vom Weltuntergang, von der globalen Erwärmung, die Deutschland als letztes braten werde, wie der Reverend sagt. Sie singen Gospels von Erlösung, verdammen die Wall-Street und die Datenkrake NSA.
The NSA wants to know all the questions. So, they can give us all the answers!
sagt Reverend Billy und ich erinnere mich an den Satz, den mir mein Chefredakteur in dieser Woche gesagt hat:
Fragen setzen Prozesse in Gang. Antworten beenden sie.
Wer keine Fragen stellt, kann keine Antworten suchen, kann nichts verändern, kann sich nicht wehren, bleibt ein braver Bürger, bis ans Ende seines Lebens. Das will ich nicht sein. Vielleicht steckt in diesem Ansatz ein bisschen Friedrich Schiller.
Publikum konsumiert Konsumkritik
Also stelle ich mir Fragen. Mit jeder einzelnen wird die Aufführung unerträglicher. Denn ich beginne, den Reverend und seinen Chor zu durchschauen. Ich möchte ihnen meine Fragen auf die Bühne stellen, damit sie darüber stolpern, damit auch die anderen Zuschauer sehen, dass sie sich gerade um den Finger wickeln lassen.
Sie sollen erkennen, dass sie gerade nur konsumieren statt über Konsum nachzudenken: Sie klatschen im Takt, wenn einer der Sänger sie dazu auffordert. Ansonsten schauen sie reglos auf ihren Stühlen sitzend, dem Chor beim Gospels singen zu. Die sind groovig und stecken zumindest mich an.
Fragen an Gott?
Am unerträglichsten wird diese Messe, als plötzlich zwei junge Frauen im Publikum aufstehen und zu singen anfangen: Ode to Joy! Die wohl einzige textliche Verbindung zu Friedrich Schiller. Mit einem Mal reißt es noch mehr junge Leute, meist Frauen von ihren Stühlen: Es ist der Popchor der Melanchthonkantorei aus der Neckarstadt. Sie springen auf die Bühne und alle singen gemeinsam, freuen sich, tanzen. Das Publikum glotzt.
Ich hüpfe fröhlich mit, schüttele den Kopf vor Verwunderung und stelle Fragen: Sollte ich meine Fragen an einen Gott richten, der verspricht, alle Antworten zu kennen? Wenn ich jemanden kenne, der alle Antworten hat, warum soll ich dann noch Fragen stellen? Warum verlasse ich mich dann nicht darauf, dass es etwas oder jemanden gibt, der die Antworten hat? Weil Fragen stellen anstrengender ist, als eine Antwort zu haben? Weil man Angst hat vor der Antwort? Weil die Welt nach dem Stellen der Frage nie mehr so sein wird, wie zuvor?
Ausgefuchstes Pharisäertum?
Billy Talen und sein Stop Shopping Choir geben schon seit den 1990er Jahren vor, Fragen zu stellen. In dieser Zeit ist die Kunstfigur des Reverend Billy als Antikapitalismusprediger enstanden: Mit Elvis-Tolle, weißem Anzug und weißen Cowboystiefeln. Seitdem touren sie durch die USA und Europa, waren Bestandteil der Occupy-Wallstreet-Bewegung vor zwei Jahren.
Fill us with the light of day!,
singen sie und bewegen sich aus dem Studio in die Einfahrt des Werkhauses. Die Zuschauer gehen mit. Jetzt müssen sie mitsingen, wenigstens im Takt klatschen. Am Ende des Abends ist das Publikum bekehrt. Die Fragen, die Billy gestellt hat, sind beantwortet. Glücklich gehen die Zuschauer nach Hause oder in die Theaterlobby, um weiter zu konsumieren: Gefälligen Elektro-Pop mit „I Heart Sharks“ bei der Schill-Out-Party.
Ich bleibe zurück im Werkhaus. Ich bin wütend und belustigt zugleich: Bin ich die Einzige, die die Ironie in dieser Vorstellung verstanden hat? Habe ich die Ironie verstanden? Gibt es eine Ironie? Meinte Reverend Billy seine Predigt ernst? Wollte er seinen Zuschauern den Spiegel vorhalten? Oder ist dieser Gottesdienst am Ende ein ausgefuchstes Pharisäertum, das einen Weg gefunden hat, die Zweifler in der Gesellschaft zu bedienen; ihnen etwas zum Konsumieren zu geben, damit sie aufhören mit den Fragen? Wissen die Zuschauer, was gerade mit ihnen passiert ist? Weiß es der Reverend?