Mannheim, 29. März 2015. (red/ld) Was ist typisch jüdisch? Gibt es überhaupt „typische Juden“? Wer diese Frage mit „Ja“ beantwortet, sieht nicht genau hin. Das verdeutlicht die Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden mit „Mischpoke“ eindrücklich. Die Inszenierung von David Benjamin Brückel und Dagrun Hintze zeigt die verschiedenen Ebenen des Judentums: Die Identitäten, die Nationalität und die Spiritualität.
Von Lydia Dartsch
Wir sind ein Volk, glauben an einen Gott und haben eine Geschichte,
sagt Joshua Lautenschläger ganz am Anfang von „Mischpoke“. Der dreizehnjährige Junge sitzt auf der Kante eines riesigen Geschichtsbuchs, das als Bühnenbild fungiert. Auf dem Kopf trägt er die Kippa, eine jüdische Kopfbedeckung und liest in einem Buch. „In meiner Schule bin ich der einzige Jude“, sagt er. Gerade will er anfangen, die Geschichte des Judentums und Israels zu erzählen, als eine Gruppe von Menschen hinter dem riesigen Geschichtsbuch hervorkommt.
Die Leute fangen selbst an zu erzählen. Und so einfach, wie Joshua die Geschichte begonnen hat, ist sie nicht. Sie ist vielschichtiger: Sie erzählen von den Mizrachim, den orientalischen Juden, die im Nahen Osten und in Nordafrika lebten, von denen einige auch nach Mittel- und Südasien wanderten. Sie handelt von den Sephardim, die im 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben wurden. Von den Aschkenasim, die von Juden abstammen, die in Deutschland oder Frankreich lebten, bevor sie nach Osteuropa und zum Teil später in die USA auswanderten. Sie erzählen von den in Israel geborenen Tzabar. Und so weiter.
Je näher man schaut, desto verwirrender das Bild
Bei jeder Gruppe zeigt der in Israel geborene Ehud Roffe auf einer Karte, wo die Gruppe herkommt und wohin sie gewandert ist und wie sie sich aufgespaltet hat. Am Anfang ist er noch genau. Doch mit jeder Wanderung entstanden neue jüdische Gruppierungen, mit anderen kulturellen Hintergründen, gesellschaftlichen Strukturen und Bräuchen. Mit jeder Gruppe wird „das typisch Jüdische“ unschärfer. Es verschwimmt. Und damit wird auch Ehud Roffe immer ungenauer.
Stopp! Das versteht doch kein Mensch!,
ruft Faina Lyubarskaya in dieses Chaos hinein und schlägt vor, die Geschichte von Anfang an zu erzählen. Und schon gerät die Gruppe über die Frage in Streit, wo dieser Anfang ist: Liegt er in der Schöpfungsgeschichte? Bei Abraham und den 12 Stämmen? Bei der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948? Bei der „Stunde Null“ im Jahr 1945?
Im Laufe des Stückes stellt man als Zuschauer fest, dass im Grunde genommen jeder seine eigene jüdische Geschichte hat und dass das Judentum für jeden Juden seine eigene Funktion und Tradition hat. Das erzählen die Darsteller in den verschiedenen Szenen. Die im Jahr 1989 geborene Studentin Katja Schindler zum Beispiel berichtet von ihrer Großmutter, die ihre Mutter vor deren Deportation an der Straßenbahn verabschiedet hat mit den Worten: „Wenn ich nach Hause komme, koche ich uns was.“ Der fünf Jahre ältere Thomas Feske sagt, dass seine Mutter ihm erst als Teenager „gestanden“ hatte, dass er Jude ist. „Bitte erzähle das niemandem“, habe sie damals gesagt.
„Ihr seid doch kein Museum!“
Die Themen Ausgrenzung und Verfolgung ziehen sich wie ein roter Faden durch einige der Szenen. Die Akteure erzählen ihre eigenen Geschichten: Sie geschehen während des Dritten Reichs, in der Sowjetunion, in der DDR und in der Bundesrepublik. Das historische Bewusstsein spielt eine wesentliche Rolle dabei.
„Ihr sei doch kein Museum!“, ruft Ehud Roffe in diese Geschichten hinein. Er ist in Israel geboren und aufgewachsen und hält es für eine „schlechte Idee“, dass dort acht Millionen Juden auf engem Raum zusammen leben. Erst habe er Soldat werden wollen, erzählt er – bis er mit 14 Jahren angefangen habe, Punk zu hören. Dann habe er auch in Kauf genommen, für verrückt erklärt zu werden, um nicht zum israelischen Militärdienst eingezogen zu werden. Heute lebt er Dresden.
Ist das Judentum eine Volksbezeichnung oder eine Religion? So streitet sich Nataliya Berinberg in einer Szene mit einer Beamtin des Auswärtigen Amtes, um ihre Nationalität: Nataliya besteht auf „Jüdin“, die Beamtin auf „Ukrainerin“. Für Felix Lehle ist das Judentum vor allem ein spiritueller und religiöser Anker, den er sich bewusst gesucht hat. Mit 14 Jahren trat er aus der Kirche aus und will seitdem zum Judentum konvertieren. Dafür hat er viel gelernt und sich die Tradition wohüberlegt ausgesucht, der er angehören will. Er hat genau hingesehen.