Mannheim/Rhein-Neckar, 29. November 2012. (red/ae) Ich habe ein neues Haustier. Sein Name ist Dante. Dante hat eine lange Nase, große, schwarze Knopfaugen und einen langen, kahlen Schwanz. Nicht jeder mag Tiere wie Dante: Denn Dante ist eine Farbratte. „Ratten sind dreckig, stinken und übertragen Krankheiten“, höre ich oft, wenn ich von meinen Tieren spreche. Doch ist die Angst vor Ratten begründet, die Vorurteile gerechtfertigt? Warum ekeln sich viele Menschen vor Ratten?
Von Alina Eisenhardt

Foto: Nicola Buchmann
Meist sind “Bäh!” und Igitt! ”, die ersten Reaktionen, wenn ich von meiner Ratte Dante erzähle. Auch “Die stinken doch total!” höre ich sehr häufig. Die Vorurteile gegen Ratten gehen bis ins Absurde. Einmal bot ich meinem Opa an, meine Ratte zu halten. Darauf bekam ich die Antwort:”Um Gottes Willen! Die Schwänze von denen sind doch giftig!” Ironischerweise schlang sich Dantes Schwanz gerade kunstvoll um meinen Arm, und – oh Wunder – ich lebe noch und fühle mich nach täglichem Kontakt immer noch quietschfidel.
Wenn man von Ratten spricht, denken die meisten an dreckige, graubraune Tiere aus dem Keller, die Krankheiten übertragen und alles kaputt nagen. Die wenigsten Menschen denken an die Farbratte (rattus norvegicus forma domestica), die man sich als Haustier hält. Die Farbratte hat nicht viel mit ihrem undomestizierten Verwandten gemeinsam. Trotzdem hegen die Menschen viele Vorurteile gegen sie. So sagt man auch ihnen nach, den schwarzen Tod – die Pest – zu übertragen.
Der Schwarze Tod
Im 14. Jahrhundert brach in Europa eine dunkle Zeit an. In den Jahren zwischen 1347 und 1352 starb rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung an der Pest. Die Zahl der Toten wird auf 25 – 40 Millionen geschätzt. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts forderte der Schwarze Tod noch viele Opfer. Erst 1894 entdeckte der Schweizer Arzt Alexandre Yersin, dass sich der Pesterreger durch Ratten verbreitet. Deswegen verbinden heute noch viele Menschen die Ratte mit Krankheit und Tod. Yersin nahm an, die kleinen Nagetiere seien mit den Handelsschiffen aus Indien nach Europa gekommen, die sie seit dem 13. Jahrhundert als blinde Passagiere nach Europa brachten. Yersin war der Lösung dicht auf den Versen. Gefunden hatte er sie allerdings nicht. Denn nicht die Hausratte infizierte die Menschen mit der Pest, sondern der Rattenfloh.

Foto: Nicola Buchmann
Beim Menschen fand der Rattenfloh einen Wirt. Nachdem sich auch Ratten massenhaft durch den Biss des Flohs mit der Pest infizierten und daran starben, fehlte ihm der Wirt. Daher befiel der Floh die Menschen. Da die Menschen dachten, die Pest käme aus dem Wasser und sich die sanitären Einrichtungen noch in der Steinzeit steckten, war ihre Körperhygiene damals sehr schlecht. Die Menschen boten somit den perfekten Tummelplatz für den Floh und damit für die Pest. Hätten sie sich öfter gewaschen, wäre die Zahl der Todesopfer bei weitem nicht so drastisch.
Ratten in den Wohnungen waren üblich. Das pesterregende Bakterium Yersinia pestis konnte sich auch durch die Wohnsituation sehr einfach verbreiten. Ratten waren in den Häusern keine unbekannten Gäste. Der Floh wechselte auf Menschen und auf andere Nagetiere und die Pestepidemie griff um sich. Also sind Ratten nicht direkt schuld an der Pest. Krankheiten übertragen sie in dem gleichen Maße, wie andere Tierarten.
Die Kanal- oder Wanderratte
Der nächste Verwandte meiner Farbratte Dante kam erst lange nach den Pestepidemien nach Europa: Die Wanderratte. Ursprünglich kommen Wanderratten, rattus norvegicus, aus Ostasien. Dort lebten sie in Wäldern und im Busch. Als blinde Passagiere reisten sie auf Schiffen vor rund 200 Jahren erstmals nach Europa und auf den amerikanischen Kontinent. Vor allem in dicht besiedelten Gebieten fanden sie genug essbare Abfälle auf Straßen und in der Kanalisation. Im Volksmund brachte ihnen das den Namen „Kanalratte“ ein.

Foto: Sarah Plage
Die Intelligenz der Ratte
Heute gelten Ratten allgemein als sehr intelligent. Das stellt beispielsweise Schädlingsbekämpfer vor Herausforderungen: Er muss in seinen Ködern ein Gift verwenden, das erst nach mehreren Stunden oder gar Tagen zum Tod führt. Denn wenn Ratten sehen, dass ihr Rudelmitglied nach dem Verzehr des Köders stirbt, fressen sie ihn nicht. Sie schicken einen Vorkoster, um das vermeintliche Futter auf Gift zu untersuchen. Stirbt dieser, wird der Köder von den anderen nicht angerührt.
Studien von Anne Churchland ergaben, dass Ratten Reize verarbeiten und Informationen auswerten können. Sie treffen dabei die bestmögliche Entscheidung. Damit wurde zum ersten Mal bewiesen, dass eine optimale Auswertung und Kombination von Reizen neben dem Menschen auch bei Tieren auftreten kann. Gerade kommt mir mein Dante mit seinem Kumpel Mr. Rupert entgegen gelaufen. Ich bin mir totsicher, dass ich die Käfigtür geschlossen habe. Ich sammle die beiden ein und bringe sie wieder zurück, setze mich vor den Käfig und warte… und muss lachen: Meine Ratten haben gelernt, die Käfigtür zu öffnen. Halb amüsiert, halb verärgert verschließe ich die Tür wieder – diesmal mit einem zusätzlichen Draht.
Tierische Minensucher
In ehemaligen Kriegsgebieten leisten Ratten gute Dienste. Auf Minenfeldern in Tansania suchen sie nach Sprengstoff. Durch ihren feinen Geruchssinn sind sie die Meister unter den Minensuchern. Selbst 0,00000000000001 Gramm TNT pro Liter Luft können die possierliche Nagetiere noch wahrnehmen. Die Ratten von APOPO sind darauf trainiert, auf dem Boden zu kratzen, wenn sie den Geruch von TNT aufnehmen. Wo sie kratzt, ist eine Mine vergraben.
Mit ihren Eigenschaften stechen sie Spürhunde mühelos aus. Die Haltungskosten für Ratten sind viel niedriger und die Nachzucht verläuft schneller. Der besondere Vorteil an Ratten: Sie sind zu leicht, um Sprengsätze auszulösen. 2009 konnten so 169 Minen, 181 Bomben- und Granatenblindgänger und ca. 4000 Waffen aufgespürt werden.
Segen der Forschung
Heute werden Ratten vor allem in der Forschung eingesetzt. Für Biologen tragen Ratten dazu bei, Krankheiten zu heilen. Durch kaum ein anderes Tier gewinnen sie so viele Erkenntnisse über den Aufbau des Säugetierkörpers. Zum Beispiel als Versuchstiere: Erst kürzlich gelang es schweizer Forschern, gelähmte Ratten wieder laufen zu lassen. Den Tieren wurde zuerst das Rückenmark durchtrennt. Die Ratten waren gelähmt. Durch Verabreichung eines Medikamentencocktails und elektrische Stimulation konnten die Forscher “schlafende” Nervenzellen wieder aktivieren.
In Tansania retten Ratten leben. Mit ihrer feinen Nase erschnüffeln sie Tuberkuloseerreger in menschlichen Speichelproben. Das geht viel schneller als mit einem Labortest. Dieses Talent erkannte die Firma APOPO. Laut Bart Weetjens, dem Gründer von APOPO, kann eine Ratte 120 – 150 Speichelproben in einer halben Stunde untersuchen. Ein Mensch schafft nur 20 Proben – am Tag. Krankheiten wie Tuberkulose können so rechtzeitig erkannt und behandelt werden.

Foto: Nicola Buchmann
Die Farbratte als Haustier – neugierig, intelligent, verschmust
Aber wieder zurück zu meiner Ratte Dante. Ich hatte seit meiner Kindheit immer Tiere. Am meisten haben mich aber meine Ratten begeistert. Besonders toll finde ich ihr Wesen. Jede Ratte ist anders. Manche sind ruhig, manche sind frech und aufgedreht und wieder andere sind verschmust. Die possierlichen Nagetiere eignen sich besonders für Berufstätige sehr gut als Haustiere, da sie nachtaktiv sind. Sie verschlafen also den ganzen Tag und drehen erst dann auf, wenn man von der Arbeit kommt: Kaum hören sie, wie sich die Tür öffnet, macht es “Boing!” und die Tiere warten aufgeregt am Käfiggitter um „Hallo“ zu sagen.
Das ABC der Haltung
Ratten wie Dante wollen sich bewegen und anders als Kaninchen oder Meerschweinchen sind sie exzellente Kletterer. Deswegen hat Dante einen hohen Käfig. Ein Rattenkäfig kann eigentlich nicht zu groß sein. Für bis zu zwei Tiere sollte er mindestens einen Meter lang, einen halben breit und etwa 80 Zentimeter hoch sein.
Auch Ratten sind nicht gern allein. Wer an einer Ratte als Haustier interessiert ist, muss wissen: Ratten sind Rudeltiere. Eine allein gehaltene Ratte fühlt sich wie ein Mensch, nämlich einsam. Es müssen also mindestens zwei, besser drei Ratten sein, damit sich der Bann der Ratte vollends um einen legen kann. Aus persönlicher Erfahrung rate ich davon ab, die Tiere im Zoofachhandel zu kaufen. Die Tiere dort kommen oft von Massenzüchtern, bei denen weniger auf die Qualität der Zucht geachtet wird: Das Ergebnis sind kränkliche, verstörte Tiere. Dagegen empfehle ich Tierheime und seriöse Privatzüchter.
Flüsterratten
Ratten sind sehr leise Tiere. Sie kommunizieren für uns Menschen nicht hörbar im Hochfrequenzbereich. So informieren sie ihr Rudel über neue Nahrungsquellen und ihr Wohlbefinden. Diese Art der Kommunikation bietet einen besonderen Schutz vor Fressfeinden. Doof nur, dass diese mittlerweile auf der gleichen Frequenz mithören. In mein Schlafzimmer würde ich meine Lieblinge trotzdem nicht stellen, denn sie sind immer noch Nagetiere und das Nagen kann sehr laut werden.
Einmal am Tag lasse ich meine Ratten aus dem Käfig. Dann wird alles erkundet, beschnüffelt und -sofern möglich- beklettert. Ihren langen Schwanz benutzen sie zum Balanceausgleich. Auch hier muss ich mit einem Vorurteil aufräumen: Der Schwanz einer Ratte ist gar nicht nackt. Es befinden sich viele kleine Härchen darauf, die als Antennen bei der Orientierung fungieren. Durch eine Mischung aus Akrobatik, Neugier, Waghalsigkeit und zu großer Selbstüberschätzung schaffen die Tierchen es immer wieder aufs neue zu überraschen und zu amüsieren.
Ratten und unsauber passt nicht zusammen
Es lässt sich nicht abstreiten, dass (gerade männliche) Ratten, genau wie Hunde und Katzen, einen Eigengeruch besitzen, der als unangenehm empfunden werden kann. Doch durch regelmäßiges Reinigen lässt sich dieser Geruch kontrollieren. Mein lieber Dante wäre allerdings äußerst pikiert, wenn er wüsste, was wir Menschen von ihm und seinen Artgenossen halten. Dieser Geruch entsteht nämlich nicht, weil Ratten unsaubere Tiere sind. Im Gegenteil: Sie putzen sich mehrmals täglich; aus hygienischen Gründen und als Kommunikationsmittel im Rudel. Putzt eine Ratte die andere, so könnte die Übersetzung von Rattisch ins Deutsche in etwa so lauten: “Wir gehören zusammen. Deswegen mache ich Dich sauber.” Das Putzen ist auch ein Zeichen der Dominanz: Nachdem die Rangordnung zwischen zwei Rudelmitgliedern ausgefochten wurde, putzt der “Chef” den Unterworfenen ziemlich grob. Dieses Putzen kann dann auch mal von einem wehleidigen Quietschen des Unterworfenen begleitet sein. Putzen kann absolutes Wohlbefinden symbolisieren. Ratten wie Dante sagen mir mit sich Putzen aber auch “Hey, jetzt bin ich verwirrt!”, oder “Diese Situation verunsichert mich“ .

Foto: Nicola Buchmann
Ratten sind auch nur Menschen
Ratten pflegen wie Menschen ein ausgeprägtes Sozialverhalten. Um das zu erforschen, brachte man an der University of Chicago einer Ratte bei, eine Röhre zu öffnen. Nun sperrte das Forschungsteam der Neurobiologin Peggy Mason eine Ratte des gleichen Rudels in eine solche. In einer anderen, baugleichen, Röhre steckten sie ein Stück Schokolade. Die trainierte Ratte musste die Röhren öffnen um ihren Freund zu befreien und an die Schokolade zu kommen. Unerwartet für die Forscher: Die Ratte befreite zuerst seinen Freund und teilte sich dann die Schokolade mit ihm – das muss eine Art Zuneigung sein.
So kenne ich das auch von meinen: Als damals mein Balou krank geworden ist, waren seine Freunde nicht mehr von ihm wegzukriegen: Sie brachten ihm Essen, putzten sein Fell und kuschelten mit ihm. Sie kümmerten sich wie in einer Familie.
Ratten lachen sogar. Allerdings ist das für uns Menschen nicht zu hören. Muss man sich wirklich vor einem Tier ekeln, das lachen kann? Ich jedenfalls erfreue mich an Dantes spitz zulaufender Nase, seinen großen, schwarzen Knopfaugen, seinem langen Schwanz und seinen vier Pfötchen, die mir gerade wieder entgegen gelaufen kommen. Wie um alles in der Welt hat er den Käfig jetzt schon wieder aufgemacht?