Mannheim/Rhein-Neckar, 29. Dezember 2014. (red/pro) “Pegida” – “Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands” in Dresden hat sich innerhalb von zehn Wochen zu einer enormen Massenbewegung entwickelt. Kein Tag vergeht, an dem nicht darüber berichtet wird, was dieses “Phänomen” sein soll, wie man es einordnet und damit umgeht. In Mannheim zeichnet sich eine Kundgebung ab, die Pegida das Wasser abgraben könnte – mit einem klaren Bekenntnis für “Willkommene Flüchtlinge” und “gegen Hass und Angst”. Doch so einfach, wie das klingt, ist das nicht.
Von Hardy Prothmann
Die Stadt Mannheim nimmt Flüchtlinge auf. Sie hat sich sogar sehr darum bemüht, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie ankommen. Deswegen will und wird Mannheim “LEA-Außenstelle”. Das bedeutet, dass die Stadt Mannheim Flüchtlinge in erheblich höherem Maße aufnimmt als andere Gemeinden. Eben als Außenstelle. Als LandesErstAufnahmeeinrichtung.
Im Gegenzug muss Mannheim keine “Anschlussunterbringung” leisten. Das bedeutet: Wer seinen Asylantrag gestellt hat, wird nach vier bis zwölf Wochen anderen Stadt- und Landkreisen zugewiesen, die dann ein bis zwei Jahre für diese Flüchtlinge zuständig sind – bis deren Verfahren abgeschlossen ist.
LEA heißt Ja zu Flüchtlingen und Nein zur Anschlussunterbringung
“Ja zu Flüchtlingen” bedeutet in Mannheim: “Ja zu denen, die ankommen”, aber “nein zu denen, die ins Verfahren kommen.”
Das hat einen Grund. Mannheim ist eine von rund einem Dutzend Städten in Deutschland, die ganz überproportional vom Zuzug von Südosteuropäern betroffen ist. Sind es 8 oder 10 oder gar schon 12.000 Menschen, die überwiegend aus Rumänien und Bulgarien nach Mannheim emigriert sind? Fest steht – das ist ein stadtgesellschaftliches Problem. Denn die sozialen Spannungen sind hoch – Patentrezepte fehlen. Die Stadt engagiert sich enorm bei dieser Herausforderung, die man nicht in ein paar Monaten lösen kann.
Zusätzlich weitere Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, könnte zu noch größeren Spannungen führen, als sie eh schon in Teilen der Stadt vorhanden sind.
Wenn die Initiatoren der Kundgebung sich darüber im Klaren sind, dann muss offen und ehrlich argumentiert werden. Für Flüchtlinge, für eine verantwortungsvolle Politik, für eine glaubwürdige Medienberichterstattung und gegen die Diffamierung durch fremdenfeindliche “Pegida”-Apologeten, die überall nur Lügen und Verschwörungen anklagen.
Zuwanderung ist eine Herausforderung
Mannheim – und das muss diese Demonstration ehrlich sagen – ist eine Erstaufnahmeeinrichtung. Mit allen Pflichten, Flüchtlinge so gut als möglich in Deutschland zu begrüßen und zu behandeln. Mehr muss Mannheim als LEA nicht tun.
Aber niemand hindert Mannheim daran, sich freiwillig zu engagieren und Plätze zu schaffen, die die Stadt nicht schaffen muss, aber kann, wenn sie “Ja zu Flüchtlingen” sagt. Die Glaubwürdigkeit dieser Demonstration wird sich an dem Verhalten der Stadtgesellschaft messen lassen müssen.
Die Initiatoren sind vergleichsweise breit aufgestellt: Grünen-Stadtrat Gerhard Fontagnier hat die Aktion am 23. Dezember angestoßen. Dr. Angela Wendt ist Mitglied des Kreisvorstands der Grünen in Mannheim. Von der SPD kommen Marianne Bade und Petar Drakul. Die CDU-Stadträtin Rebekka Schmitt-Illert engagiert sich ebenfalls.
Angesichts der fragilen politischen Stimmung im Land, in der sich selbst ein Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mit einem klaren Bekenntnis zur Einwanderung geäußert hat, braucht eine stabile Basis gegen Rechtsextremisten, Fremdenfeindlichkeit und eine Vorurteilsgesellschaft. Und die Mannheimer Stadtgesellschaft ist aufgerufen, diese Chance zu nutzen. Ebenso die Fraktionen im Gemeinderat. Die demokratischen Parteien. Die Vereine. Die kulturellen Einrichtungen wie Nationaltheater oder REM oder oder.
Auch Intellektuelle müssen ihren Hintern bewegen
Es reicht nicht, sich intellektuell Pegideppen überlegen zu fühlen und zu denken: “Mit diesen Idioten beschäftige ich mich nicht. Und Dresden ist weit weg.” Diese Bewegung, mitinitiiert vom vorbestraften Lutz Bachmann, beschäftigt seit Wochen alle seriösen Medien, die politischen Menschen und die Politik. Die große Angst ist, dass es nicht nur 17.500 “verpeilte” Menschen in Dresden sind, die auf die Straße gehen, sondern eine Vorhut von sehr viel mehr Menschen, die mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland nicht nur nicht zufrieden sind, sondern aktiv dagegen vorgehen.
Wenn eine CDU-Funktionärin wie Julia Klöckner in dieser Situation ein “Burka-Verbot” fordert, ist das nicht nur leichtsinnig, sondern hochgradig infam. Das billige Bemühen, den “rechten Rand” abzufischen ist beschämend – insbesondere für die CDU, weil aus der CDU zu wenige eindeutige Stimmen der Empörung laut gegen diesen Blödsinn protestieren.
Es ist an der Zeit, dass Intellektuelle, egal ob “Freidenker” oder “konservativ” ihren Hintern bewegen und den Verstand benutzen.
Das Problem der Ressentiments löst sich nicht, indem man Ressentiments bestätigt. Die Politik muss ehrlicher werden und aus ihren Fehlern lernen. Ebenso viele der Medien, die oft genug der Politik nur nachplappern, anstatt “vierte Gewalt” zu sein, kritisch, konfrontativ. Wenn dem nicht so ist und alles nur noch als “Absprache” wahrgenommen wird, dann ergibt sich ein echtes Problem. Und zwar für alle – inklusive der Opportunisten.
Verantwortung -jetzt!
“Flüchtlinge willkommen” ist deshalb auch in Mannheim nicht einfach zu beantworten. Sie kommen hier an und werden weitergeschickt. Das ist die Wahrheit. Es kommen aber auch sehr viele Südosteuropäer hier an, die bleiben. Auch das ist die Wahrheit.
Mannheims Wahrheit wäre großartig, wenn die Stadt und die in ihr Verantwortlichen damit verantwortlich umgehen. Menschenwürdige Bedingungen sind ein Muss. Eine freiwillige Aufnahme ist ein Kann – aber eines, dessen sich Mannheim würdig erweisen sollte. Gerade vor der sonst allseits immer gelobten Einwanderungsgeschichte.
Mannheim hat immer noch das Image einer “Arbeiterstadt” – dabei ist Mannheim in der Tradition von Schiller und anderen schon seit Jahrhunderten eine Stadt der Weltgeschichte mit einer der besten Universitäten weltweit, ist gerade Unesco-Stadt der Musik geworden, hat historisch eine der deutschlandweit größten Konversion-Aufgaben in der Folge des 2. Weltkriegs und der Besatzung zu lösen. Mannheim rules.
Historische Chance
Mannheim hat am 17. Januar 2015 die Chance zu zeigen, was die Stadt drauf hat. Statt Pegideppen könnten sich mehrere tausend Menschen versammeln, die Geist, Kultur, Kunst, Wirtschaft, Politik und vor allem Menschlichkeit auf die Straße tragen. Als “Masse”, die sich ansprechen lässt, in der Einzelne nicht einer “Lügenpresse” das Gespräch verweigern, sondern mit ihrer Individualität dafür einstehen, warum sie auf die Straße gehen, auch, wenn sie das noch nie getan haben.
Über 3.500 Menschen haben auf Facebook bereits die Teilnahme zugesagt. Ob so viele kommen? Als Journalist zweifle ich daran, weil ein “Teilnahme-Klick” wenig Zeit und Mühe kostet. 500 Teilnehmer wären “O.K.”, 1.000 deutlich, mehr ein Erfolg und noch mehr?
Darf man träumen? Ich wäre zu Tränen des Stolzes gerührt, wenn diese 3.500 oder 5.000 oder gar 10.000 oder sogar 20.000 oder sogar 30.000 Menschen oder mehr kommen würden, um klar zu machen: “Für Vielfalt”. Und noch klarer: “Gegen Hass und Angst”.
Subjektiver Journalismus ist vor allem eins: Ehrlich
Wir sind bekannt für unseren subjektiven Journalismus. Und deswegen: Liebe Mannheimer/innen, kommt so zahlreich, wie es nur möglich ist. Es gibt diese eine historische Chance. Nutzt sie. Zeigt Deutschland und der Welt, was für eine geile Stadt Mannheim ist. Zeigt, dass ihr zu den rund 25 Prozent Mitbürgern muslimischen Glaubens steht. Und liebe Mannheimer Muslime: Zeigt auch ihr, dass ihr für demokratische und friedliche Werte steht und mitmarschiert. Gegen Pegida und gegen Islamisten.
Zeigt, dass Mannheim nicht Berlin oder Hamburg oder Köln oder München und schon gar nicht Dresden ist – Mannheim ist krass anders. Ich weiß, wovon ich rede. Denn ich bin Pfälzer und seit 1989 Mannheimer, auch, wenn ich nicht immer hier gelebt habe. Aber das ist meine Stadt – ich habe in Paris und Neapel lange gelebt. Das war toll, aber ich bin immer nach Mannheim zurückgekommen, weil hier meine Heimat ist.
Mein Großvater und meine Mutter sind aus Dresden und ich schäme mich zutiefst für “Pegida”. Mein Vater ist aus Rostock. Na und? Danach hat mich in Mannheim noch nie jemand gefragt. Ich bin in der Pfalz aufgewachsen, die bleibt immer die Heimat meiner Jugend – aber Mannheim hat mir die Welt geöffnet. Durch all die Vielfalt, die die Stadt zu bieten hat.
Deswegen freue ich mich, wenn sehr viele Menschen diesen Text teilen und am 17. Januar dabei sind. Für Mannheim. Für die Welt. Für Offenheit. Für eine gemeinsame Zukunft.
A propos: Der Xavier Naidoo, der am Tag der Deutschen Einheit vor “Reichsbürgern” und Rechtsradikalen aufgetreten ist, um für sich und sein krudes Weltbild Werbung zu machen, ist herzlich eingeladen, für Flüchtlinge einzutreten. Nicht auf der Bühne, sondern als “Mannheimer Sohn” – mitten in der Menge. Die Fotografen werden ihn entdecken, allein schon wegen der Hautfarbe und seiner Mütze. Sprechen muss er diesmal nicht. Es würde reichen, wenn er ein Zeichen gegen seine seit langen Jahren gehegten Irrtümer setzt.
Wie immer: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich werde alle meine FB-Freunde, alle meine Kontakte einladen, dabei zu sein. Ob Oberbürgermeister, Theaterintendant, Schauspieler, Kfz-Mechaniker oder Vertreter von politischen Parteien, von Vereinen und anderen Organisationen oder nur Bürger. Wenn alle kommen, werden es richtig viele.
Ich bin kein Veranstalter, unsere Redaktion wird wie gewohnt kritisch-distanziert berichten. Auch wenn es eine Herzensangelegenheit ist – oder gerade deswegen.
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