Mannheim, 28. Juli 2015. (red/ms) Dem Mannheimer Landgericht ist es nicht gelungen, den Vorfall vom 04. September 2014, bei dem einem 20 Jahre alten Mann vor der Poizeiwache H4 in der Mannheimer Innenstand sein Leben genommen wurde, eindeutig aufzuklären. Der Angeklagte Mehmet S. (22) wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. S. wurde eigentlich wegen Totschlag angeklagt – ihm konnte aber nur eine Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zweifelsfrei nachgewiesen werden.
Von Minh Schredle
Es ist ein Urteil, das vermutlich Vielen zu mild erscheinen wird: Mehmet S. wurde wegen Totschlag angeklagt. Die Staatsanwaltschaft legte dem 22-Jährigen zur Last, am 04. September vergangenen Jahres den damals 20 Jahre alten Mustafa A. vor der Polizeiwache H4 in den Mannheimer Quadraten erstochen zu haben. Diesen Tatvorwurf konnte das Mannheimer Landgericht nicht zweifelsfrei nachweisen – in dubio pro reo.
Mehmet S. hat sich nach der Tat bei der Polizei gestellt – vor Gericht machte er von seinem Schweigerecht Gebrauch. Die Staatsanwaltschaft ging in ihrer Anklage von einer Einzeltäterschaft aus.
Im laufenden Prozess fand die Kammer dabei, dass mindestens drei weitere Personen – darunter Nihad S., der Bruder des Angeklagten – an dem Tötungsdekikt beteiligt waren. Bis zum Ende blieb unklar, wer für die tödlichen Messerstiche verantwortlich gewesen ist.
Während der Urteilsverkündung schaut der Angeklagte zu Boden und regt sich kaum. Mehmet S. spricht kein Deutsch. Eine Dolmetscherin übersetzt. Nachdem die Dauer der Haftstrafe verkündet wird, scheint er kaum noch an der Begründung hinter dem Urteil interessiert zu sein – er blickt ins Leere. In seinem Gesicht liegen weder Bedauern noch Reue.
Asylrecht treibt in die Schwarzarbeit
Über die Vergangenheit von Mehmet S. habe man nur wenig in Erfahrung bringen können, sagt Dr. Urlich Meinerzhagen bei der Urteilsverkündung.
Der Kurde sei in der Türkei an der syrisch-irakischen Grenze geboren und hat ein Gymnasium besucht – bis er an einer verbotenen pro-kurdischen Demonstration teilgenommen hatte und von der Schule verwiesen wurde.
Mehmet S. ist am 30. März 2013 nach Deutschland gekommen. Am 17. April beantragte er Asyl. Eine Aufenthaltsgenehmigung wurde ihm erteilt – eine Arbeitsberechtigung nicht.
Mit Schwarzarbeit verdiente er sich 1.500 Euro im Monat auf dem Bau – bis sein Chef, Talad A. – der Vater des späteren Geschädigten – ihm sagte, er könne ihn nicht weiter bezahlen, bis nicht ein Kunde das Geld für einen Auftrag überwiesen hat.
Eine Lohnauszahlung in Höhe von 2.400 Euro stand noch aus – diese Summe ist nach Ansicht des Gerichts im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass der Konflikt eskalierte.
Eindeutige Vorgeschichte
Das Gericht rekonstruiert die Ereignisse folgendermaßen: Talad A. hat Mehmet S. über Monate hinweg vertröstet und ihm garantiert, er werde das Geld bald auszahlen. Nach einigen Monaten wendet sich Mehmet S. an seinen Bruder Nihad und gemeinsam beschließen sie „ihren Forderungen etwas mehr Nachdruck“ zu verleihen. Erst versuchen sie es mit Gesprächen – später mit Drohungen:
Wir zünden eure Geschäfte an. Und wenn ihr uns nur um einen Cent betrügt, kommt auch ihr nicht mehr ungeschoren davon.
Nach mehreren Monaten, am 04. September 2014, kontaktiert Talad A. den Angeklagten. Er teilt ihm mit, er könne ihn jetzt bezahlen. Die beiden treffen sich. Mehmet bekommt seine 2.400 Euro und unterschreibt sogar eine Quittung, den vollen Betrag erhalten zu haben – doch der Bruder gibt sich noch nicht zufrieden: Die Angelegenheit sei noch nicht abschließend geklärt.
Unklare Faktenlage
Schließlich verabreden sie sich noch am selben Abend in der Mannheimer Innenstadt, um den Konflikt zu klären. Dr. Ulrich Meinerzhagen sagt dazu in der Urteilsverkündung:
Talad A. und sein Sohn Mustafa gingen wohl von einem normalen Gespräch aus. Nihad S. hat neben seinem Bruder allerdings noch Bekannte mitgebracht, von denen er wohl gewusst haben muss, dass sie bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung hilfreich sein würden. Mindestens einer dieser vier hatte ein Messer dabei.
Bis zu diesem Zeitpunkt scheinen die Ereignisse zweifelsfrei rekonstruiert werden zu können. Im Anschluss sei es dem Gericht nicht mehr gelungen, alle Ereignisabfolgen eindeutig aufzuarbeiten, sagt Dr. Ulrich Meinerzhagen – und das trotz der vielen Augenzeugen und der insgesamt 14 Verhandlungstage.
Konflikt eskaliert
Im Konflikt, der zum Todesfall führte, sei es vermutlich gar nicht mehr um Geld gegangen, sagt Dr. Meinerzhagen und hält kurz inne. Dann schüttelt er den Kopf und fügt hinzu:
Wahrscheinlich ging es um verletzte Eitelkeit und Stolz.
Als die Gruppen in den Mannheimer Quadraten aufeinander treffen, eskaliert der Streit schnell. Mustafa und sein Vater werden von einander getrennt und jeweils von zwei Personen angegriffen. Mustafa will fliehen und versucht in die nahegelegene Polizeiwache zu gelangen – doch die Sicherheitsschleuse öffnet sich nicht rechtzeitig.
Welche Schuld trifft die Polizei?
Für viele war an dem Vorfall besonders schockierend, dass er sich direkt vor einer Polizeiwache abspielte – das Ansehen der Mannheimer Polizei hat insbesondere unter der reißerischen Berichterstattung verschiedener Medien stark gelitten.
Der Vorwurf: Die Polizei hätte das Tötungsdelikt verhindern können und müssen – aber das ist Unfug, wie sich spätestens durch die Verhandlung herausstellte.
Zum Tatzeitpunkt war nur ein einziger Beamter auf der Wache. Dr. Meinerzhagen sagt während der Urteilsverkündung mit Nachdruck, man könne der Polizei nicht die geringste Schuld an dem Vorfall geben. Im Gegenteil: Es sei ausdrücklich zu loben, mit welchem Einsatz und Engagement der Beamte eingeschritten ist.
Der Beamte habe sein Leben riskiert, um die Streitenden voneinander zu trennen. Weil er alleine nicht die Sicherheitsschleuse passieren konnte, war er aus dem Fenster gesprungen, ohne vorher eine Schutzweste anzuziehen. Als die Gruppe zu viert auf ihn losgeht und er tätlich angegangen wird, flieht der Polizist zurück in die Wache. Augenzeugen schilderten während der Verhandlung, es habe sogar Versuche gegeben, den Polizisten mit einem Messer anzugreifen. Der Beamte selbst erwähnte das allerdings nicht.
Krankenwagen kommt zu spät
In der Wache ruft der Polizist unmittelbar Verstärkung und einen Rettungswagen. Doch sie werden zu spät eintreffen: In der Zwischenzeit wurde Mustada A. bereits tödlich verwundet. Als der Beamte die Wache wieder verlässt, sind die Täter schon auf der Flucht.
Die Tat ereignete sich etwa gegen 22:45 Uhr und spielte sich in wenigen Minuten ab. Die Lichtverhältnisse waren schlecht. Das habe es laut Dr. Meinerzhagen besonders schwierig, den Vorfall aufzuklären. Kaum ein Zeuge habe konkrete Täterbeschreibungen abliefern können. Außerdem sollen sowohl Mehmet S. als auch sein Bruder schwarze Lederjacken getragen haben. Dadurch seien sie im Dunkeln offenbar schwierig voneinander zu unterscheiden gewesen.
„Man kann keinen Totschlag nachweisen“
Das Gericht war nicht in der Lage, zweifelsfrei zu klären, wer von den beiden für die tödlichen Stiche verantwortlich ist. Die Tatanteile blieben bis zum Ende ungeklärt. Laut Dr. Meinerzhagen sei es sehr wahrscheinlich, dass es Nihad war – dies habe man aber während der Verhandlung nicht eindeutig belegen können.
Man könne beim Handeln von Mehmet S. nicht mit der Sicherheit, die es für eine Verurteilung braucht, von einem Totschlag ausgehen. Somit dürfe man das Strafmaß nur von den Tatbeständen abhängig machen, die man eindeutig nachweisen kann: Und das sind Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung.
Für dieses Verbrechen hält das Gericht eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten Haft für angebracht. Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge hatte in seinem Plädoyer ein Strafmaß von sechs Jahren Haft wegen Totschlags gefordert, die Verteidigung sprach sich für eine Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung aus.