Viernheim/Rhein-Neckar, 28. Januar 2016. (nh) Blumen für Menschlichkeit und Freiheit. Von Flüchtlingen an Frauen. Eine kleine unaufgeregte Aktion in Viernheim. Wir treffen Mitglieder der Gruppe „Helping Hands“ – allesamt Flüchtlinge. Sie arbeiten eigenverantwortlich mit lokalen Institutionen und ehrenamtlichen Bürgern zusammen. Das Projekt ist einmalig in Deutschland und ausgesprochen erfolgreich.

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Von Naemi Hencke
Wir waren zutiefst traurig und wütend, als wir das gesehen haben.
Der Satz beschreibt das Gefühl, was viele seit Silvester nachempfinden können. Ohmacht und Hilflosigkeit. Ein Satz, der meinen Kollegen und mich heute besonders berührt hat. Besonders, weil in diesem Satz zwei Flüchtlinge von ihren ersten Gedanken sprechen, die sie hatten, als sie die Bilder von den gewaltigen Übergriffen in Köln erreichten.
„Helping Hands“
Es ist ein warmer Wintertag. Die Sonne scheint. Als wir in Viernheim an der St. Michael-Kirche ankommen, werden wir bereits von Kibreab Habtemichael erwartet. Ein galanter Mann. Groß, schlank, dunkle Haut. Gepflegt. Stilvoll gekleidet. Der Eriträer begrüßt uns herzlich mit einem festen Händedruck und einem strahlend-fröhlichen Lächeln:
Hallo, alle nennen mich Kebi. Es freut mich, dass Sie Zeit haben zu kommen. Ich stelle Ihnen gleich die anderen vor. Kommen Sie herein.
Kebi ist Leiter der Gruppe „Helping Hands“, die seit etwa eineinhalb Jahren erfolgreich Integrationsarbeit in Viernheim leistet. Das Besondere ist: Die Leitung übernimmt keine kommunale oder kirchliche Stelle. Alle neun Gruppenmitglieder sind Flüchtlinge ohne gesicherten Asylstatus.
Hilfe zur Selbsthilfe
Das Projekt ist eingebunden in das Netzwerk der Flüchtlingsarbeit, in den Asylkreis und die Projektgruppe “Ich bin ein Viernheimer”. Und sie ist in dieser Form einmalig in Deutschland. Das Ziel, das sie sich gesetzt haben, ist klar:
Wir stellen eine Brücke dar. Das Prinzip ist eigentlich ganz einfach – Flüchtlinge helfen Flüchtlingen. Integration ist ein langer Prozess, aber Hand in Hand funktioniert das reibungslos,
erklärt uns Kebi auf deutsch. Dann nimmt er sich zurück, weil er sich nicht in den Vordergrund der aktuellen Aktion spielen will.
Die Gruppenmitglieder sind auf vier Flüchtlingsunterkünfte in Viernheim verteilt, wohnen dort und sind jederzeit Ansprechpartner für die anderen Bewohner. Die Anliegen der Flüchtlinge werden von ihnen gehört, aufgenommen und dem Viernheimer Asylkreis vorgetragen. Diesem Kreis gehören beispielsweise Kirchen, die Stadt und ehrenamtlich engagierte BürgerInnen an.
Dann überlegen wir gemeinsam mit dem Gremium, wie wir die wichtigen Anliegen lösen können. Hilfe zur Selbsthilfe ist ein sehr wichtiger und unerlässlicher Pfeiler in der Integrationsarbeit. Denn die Flüchtlinge wollen etwas tun. Nicht nur nehmen, sondern auch zurückgeben.
Wir lernen Abdul Alamir, 20 und seinen Onkel Amir Alamir, 53, kennen. Beide sind seit dem 24. Juli 2015 in Deutschland. Amir war Englischlehrer in Syrien. Beide sind noch nicht lange in Deutschland und bereits Gruppenmitglieder bei „Helping Hands“.
Entschuldigen – es gibt keine kollektive Schuld
Sein Neffe und er hatten anlässlich der erschreckenden Ereignisse in Köln und andernorts das Gefühl eine Entschuldigung aussprechen zu wollen. Symbolisch wurden Rosen an Viernheimer Frauen überreicht, die stellvertretend für die Opfer der Silvesternacht stehen.
Doch warum entschuldigen sich Menschen für andere Menschen, obwohl sie nicht verantwortlich für deren Taten sind? Warum entschuldigen sich Flüchtlinge für andere Flüchtlinge, obwohl sie gar nichts mit den unglaublichen Vorkommnissen in Köln, Hamburg oder Stuttgart zu tun haben?
Plötzlich geht die Tür auf und der Pfarrer der Kirchengemeinde St. Hildegard-St. Michael, Angelo Stipinovich, kommt herein und setzt sich zu uns.
Ich bin etwas zu spät, entschuldigen Sie. Ich wollte aber unbedingt bei diesem Gespräch dabei sein.
Er weiss direkt, worum es geht und scheint davon betroffen und bewegt zu sein.
Ich verstehe beide Seiten. Deutschlands Haltung ist seit 40 Jahren geprägt von Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur, aber auch von Schuldgefühlen. Wir müssen endlich aufhören uns schuldig zu fühlen. Aber genau das ist doch der Punkt: Gerade die Deutschen müssten doch aufgrund ihrer Geschichte das diffuse und dennoch bestimmende Schuldgefühl nachvollziehen können, das jetzt viele Flüchtlinge nach den Geschehnissen in Köln fühlen.
Bereits Generationen mussten dieses Gefühl haben, für etwas schuldig gemacht zu werden. Für das sie nicht verantwortlich sind. Das sei das Erbe des zweiten Weltkriegs. Gerade das Christentum predige doch das Verzeihen:
Ich kann nur sagen: Hört endlich auf, euch schuldig zu fühlen.
Abdul und Amir Alamir verstehen gut, warum uns die Frage beschäftigt. Dennoch geht es ihnen nicht darum, fremde Schuld auf sich zu nehmen. Es geht ihnen vielmehr darum, zu entschuldigen – ein Zeichen zu geben, dass es eben keine kollektive Schuld gibt. Dass nicht alle Flüchtlinge „so drauf sind“ wie die in der Silvesternacht.
I feel very sorry what happend in Cologne. We felt deeply sad and angry when we saw this. And we felt very bad because we’re moved by the perpetrators as refugees in a bad light. Not all refugees are like that. There is no collective guilt – we just feel a strong solidarity with the victims of the New Year’s Eve.
[Es tut mir leid, dass das in Köln passiert ist. Wir waren zutiefst traurig und wütend, als wir das gesehen haben und haben uns sehr schlecht gefühlt, weil wir von den Tätern als Flüchtlinge in ein schlechtes Licht gerückt werden. Nicht alle Flüchtlinge sind so drauf wie die. Es gibt keine kollektive Schuld, wir empfinden eine große Solidarität mit den Opfern der Sylvesternacht.]
Dankbarkeit für Hilfbereitschaft – Hilfbereitschaft als Dank
Beide erzählen von ihrer Ankunft in Deutschland und in ihren Worten spürt man eine große Dankbarkeit.
Sie hätten von Anfang an viel Liebe und Hilfe erfahren. Amir erzählt von einem Arzt, der seinen Fuß so fürsorglich und vorsichtig behandelt hat, dass er von einem Engel sprechen müsse. Aus seiner Heimat kenne er so etwas nicht.
Viernheim sei sehr ähnlich wie die Stadt, aus der sie kommen. Die Atmosphäre, die Menschen. Sie würden sich hier sehr wohl fühlen und gerne etwas zurück geben. Das sei auch ein Grund, warum sie sich gerne in dem Projekt „Helping Hands“ engagieren. Es gibt viel zu tun.
We love Germany. For us it means a second home. We’re so grateful for the great helpfulness of the german people and we want to be there for you as well. Of course, we also see much fear and an uncertain future. [Wir lieben Deutschland – es ist uns ein zweites Zuhause. Wir sind dankbar für die große Hilfsbereitschaft und wir möchten für euch da sein. Natürlich sehen auch wir viel Angst und eine ungewisse Zukunft.]

Amir Alamir war Englischlehrer in Syrien und erklärt, warum eine Entschuldigung wichtig für ihn und seinen Neffen Abdul war.
Amir spricht von sich und für seine Bekannten, Freunde und Verwandten:
Why we’re appologize with own people? Because it’s about humanity and freedom. Not about Christians or Muslims. [Warum entschuldigen wir uns für die eigenen Leute? Weil es um Menschlichkeit und Freiheit geht. Nicht um Christen oder Muslime.]
Verunsicherung, Verwirrung und Unmut
Die Grundstimmung ist seit den Übergriffen in Köln umgeschlagen – es zieht eine Unsicherheit in der Bevölkerung auf. Das merken auch Abdul und Amir. Wie sicher sind wir noch?
Man fühlt sich hilflos und ohnmächtig angesichts der Flut an Geschehnissen, Meinungen und undurchschaubaren Ressentiments. Wohin führt das alles? Wie ein Schwamm versucht man alle relevanten Informationen aufzusaugen. Doch die Informationen richtig zu verstehen und einzuordnen ist gar nicht so leicht. Was ist richtig? Was ist falsch? Was darf man sagen? Was lieber nicht? Sagt man lieber einfach gar nichts?
Besinnung auf grundlegende Werte
Abdul und Amir sprechen von Menschlichkeit und Freiheit. Zwei große Worte. Zwei unumstößlich wichtige Werte. Menschen wünschen, brauchen und suchen Menschlichkeit und Freiheit im Leben. Nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt.
Wenn der kleinste gemeinsame Nenner Menschlichkeit und Freiheit wären, wäre eine Einigung auf die Ablehnung jeglicher Form von Gewalt nicht einfach? Egal von und gegen wen sie gerichtet wird?
„Helping Hands“ schafft Verbindung. Und die schafft Vertrauen. Und das gibt Sicherheit. Wer sicher ist, hat es einfacher, menschlich zu sein. Und nur da wo es Menschlichkeit gibt, kann die Basis des gesellschftlichen Zusammenlebens Freiheit sein.
In diesem Sinne war das heutige Gespräch ein wirklich schönes und lehrreiches.
It’s about the way of thinking [Es geht um die Art des Denkens],
sagt Amir zum Abschied.
Und natürlich geht es darum, miteinander zu reden, statt übereinander. Das ist vermutlich die Erfolgsformel von „Helping Hands“.
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