Mannheim/Heidelbeg/Rhein-Neckar, 28. November 2015. (red/pro) Nach uns vorliegenden Informationen läuft die Flüchtlingsunterbringung alles andere als „optimal“. Insbesondere das Patrick Henry Village ist heillos überbelegt. Statt der „Zielgröße“ 4.000 Menschen sind dort aktuell über 5.800 Flüchtlinge untergebracht. Auf Benjamin Franklin Village ist die „Zielgröße“ 3.400 Menschen – dort sollen es aber fast 5.500 Flüchtlinge sein – von denen plötzlich 1.000 „verschwunden“ sein sollen.
Von Hardy Prothmann
Die Zahlen ändern sich ständig – aber nicht zum Guten. So gibt die Lenkungsgruppe der Landesregierung aktuell die Zahl der Flüchtlinge in Landesersteinrichtungen im Land mit 44.000 an. Nach uns vorliegenden Informationen gibt es nur rund 42.000 Plätze, die aber mit 48.000 Menschen belegt sind. Das bedeutet: Viele sind in „Notlagern“ untergebracht – 6.000 davon anscheinend in „Not-Notlagern“.
Zielgrößen werden weit verfehlt – nach oben
Die „Zielgröße“ der Belegung auf Patrick Henry Village ist mit 150 Prozent überbelegt: Statt „bis zu“ 4.000 Menschen sind dort rund 5.800 Flüchtlinge untergebracht. Auf Spinelli in Mannheim sind es nicht 2.000, wie von verschiedenen Seiten behauptet, sondern hier ist die „Zielgröße“ 3.000 Menschen, aktuell sollen hier 3.300 Flüchtlinge untergebracht sein.
Ebenso dramatisch ist die Lage auf Benjamin Franklin Village (Columbus). Nach unseren Informationen ist die Kaserne für 3.400 Menschen ausgelegt, tatsächlich sollen es am 22. November knapp 5.500 gewesen sein. Oder auch nicht – denn anscheinend sind „über Nacht“ rund 1.000 Flüchtlinge verschwunden. Nach unseren Quellen stellte man das fest, da plötzlich um die 1.000 Essensrationen nicht abgeholt worden seien, auch konnten Auszahlungen nicht stattfinden, da die Personen nicht erschienen sind. Doch wo sind diese? Und warum verschwinden die Menschen?
Ein gewichtiger Grund dürfte sein, dass Flüchtlinge Angst vor Abschiebung haben und sich dem Dublin-Verfahren entziehen wollen. Andere reisen dorthin, wo sie familiäre Kontakte haben oder Freunde. Wie viele Flüchtlinge sich illegal im Land bewegen, kann nur geschätzt werden. Hier wird ein Anteil von zehn bis 20 Prozent vermutet.
Aus anderer Quelle wird uns berichtet, dass die nicht abgeholten Essensrationen in dieser Höhe nicht zutreffend sind. Wohl aber erkennbar häufig viele Menschen nicht zur Auszahlung des Taschengelds erscheinen. Nach ganz aktuellen Informationen befinden sich 3.800 Personen auf Benjamin Franklin Village (Columbus) – der Grund ist, dass das Lager „entlastet“ wurde, um Häuser zu ertüchtigen, also die Wasserversorgung herzustellen. Ab der zweiten Dezemberwoche soll diese Plätze wieder gefüllt werden. Voraussichtlich ist dann um Weihnachten die Vollbelegung mit rund 5.500 Menschen wieder erreicht.
Wachsender Druck auf Kreise und Kommunen
Im Regierungsbezirk Karlsruhe stehen offiziell 22.600 Plätze zur Verfügung. Damit werden hier weit mehr als die Hälfte der Erstaufnahmen in Baden-Württemberg geleistet, mit nochmals deutlicher Konzentration auf Nordbaden. Nach unseren Informationen sind aber offiziell 27.400 Personen untergebracht. Das heißt, 4.800 Personen beträgt die Zahl der „Überfüllung“. Diese wird weiter wachsen, da die Zahl der Flüchtlinge nicht abreißt – täglich kommen weit über 1.000 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg.
Erste Anzeichen eines wachsenden Drucks auf die „unteren Behörden“ sind aktuell erkennbar. Wir haben schon lange vorausgesagt, dass dieser Druck erheblich werden wird. Denn nach der Erstregistrierung werden die Flüchtlinge an die Kreise weitergereicht – das Land „entledigt“ sich also seiner Aufgabe. Aus Sicht des Landes ist das Zentrale Registrierungszentrum in Heidelberg, wo täglich bis zu 600 Menschen registriert werden sollen, eine gute Sache. Je schneller und mehr Menschen hier verwaltet werden, umso schneller ist das Land die Verantwortung für diese Menschen los. Doch dann trifft es die Kreise und später die Kommunen.
Mit Aufenthaltstatus oder nach zwei Jahren in vorläufiger Unterbringung werden die Flüchtlinge dann den Gemeinden überstellt. Das bedeutet: Da die Zahl der Flüchtlinge seit Sommer extrem in die Höhe geschnellt ist, kommen diese spätestens in eineinhalb Jahren bei den Kommunen an. Doch die sind überhaupt nicht darauf vorbereitet. Wird die Zeit von eineinhalb bis zwei Jahren reichen, um die Unterbringungsprobleme zu lösen? Daran gibt es erhebliche Zweifel.
Wie haben mehrfach über aktuelle „Vorbereitungen“ der Kommunen berichtet. Hier und dort werden Plätze geschaffen, mal für 20, 50, 80 Flüchtlinge. In Summe sind das aber erst einige wenige hunderte Unterbringungsmöglichkeiten. Nach unserer Schätzung werden aber allein in diesem Jahr rund 200.000 Flüchtlinge in Baden-Württemberg angekommen sein – und im kommenden Jahr wird die Zahl möglicherweise nochmals steigen.
Weit über eine Million Flüchtlinge 2015 – wie viele werden es 2016?
Aus der Vergangenheit weiß man, dass insbesondere in den Wintermonaten vermehrt Menschen vom Balkan kamen. Dies scheint durch schnellere Verfahren und den „Drittländerstatus“ zurückzugehen. Dafür kommen immer mehr Menschen aus Syrien und den vollständig überfüllten Lagern in der Türkei und Libanon sowie aus dem nördlichen und mittleren Afrika. Insbesondere in Syrien verschärfen sich die kriegerischen Konflikte. Die Folgen werden weitere Flüchtlingsbewegungen sein.
Laut Pro Asyl gab es 2014 eine „Gesamtschutzquote“ von 48,5 Prozent – bezogen auf die Verfahren. Insgesamt wurden bundesweit 173.000 Asylerstanträge gestellt, davon kamen allerdings nur 130.000 zur Entscheidung, rund 45.000 wurden „formell erledigt“, was aber nicht heißt, dass diese Menschen einfach verschwinden. Wie viele in den illegalen Aufenthalt abtauchen? Niemand weiß das.
Für 2015 geht man von mindestens einer Million neuen Flüchtlingen aus, das entspricht fast einer Versechsfachung gegenüber dem Vorjahr und weit mehr als doppelt soviel Anfang der 90-iger Jahre, als Flüchtlinge infolge des Jugoslawienkriegs nach Deutschland kamen.
Es gibt bereits Prognosen, die deutlich über 1,3 Millionen Menschen erwarten. Aktuell sind es nach „bestätigten“ Zahlen Mitte November bundesweit rund 830.000 Flüchtlinge. Rechnet man bis Jahresende täglich 10.000 Menschen hinzu, werden weitere 4.-500.000 Menschen ins Land kommen.
Gleichzeitig kann man sich auf die Zahlen zu Asylerstanträgen überhaupt nicht verlassen. Denn rund 270.000 Anträge waren vor dem enormen Anstieg im Sommer schon nicht bearbeitet. Trotz Personalaufstockungen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss man davon ausgehen, dass sich die Zahl der unerledigten Anträge ebenfalls enorm steigert.
Klar ist andererseits, dass gewisse Gruppen von Flüchtlingen schnell Asyl erhalten. Insbesondere die Syrer. Hier sind bis Oktober 2015 insgesamt 104.000 Anträge gestellt worden. Geht man jetzt aber davon aus, dass es oft mehrere Monate dauert, bis die Anträge überhaupt gestellt werden können und der Flüchtlingsanstieg erst im August/September zu verzeichnen war, dürfte die echte Zahl bei einem Vielfachen liegen, unserer Schätzung nach sind das 300.-400.000 Menschen.
Landtagswahl: Wachsender Druck auf Landesregierung
In der Konsequenz wird der Druck auf die Landesregierung weiter steigen – und vor allem das Begehren, vorhandene Flächen zu nutzen. Sprich: Kasernen. Die Erfahrung der vergangenen Monate hat gezeigt, dass die Landesregierung keine einzige Zusage von „Höchstzahlen“ eingehalten hat. Zur Erinnerung: In Heidelberg sollte diese Höchstzahl 1.000 Personen sein. Jetzt sind es 5.800. Das entspricht der oben genannten „Versechsfachung“. Dasselbe gilt für Mannheim. Hier wurden zunächst mit LEA und BEA-Flüchtlingen zunächst 2.000 genannt, tatsächlich wurden es 12.000 und diese Zahl ist bereits deutlich überschritten.
Für Mannheim ist uns die „theoretische“ Zahl von bis zu 50.000 Menschen bereits hinter vorgehaltener Hand genannt worden. Laut Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz (SPD) geht dieser aber dringend von der Zusage des Landes aus, dass es bei der „Zielgröße“ 12.000 Flüchtlinge bleibt – auch wenn diese vermutlich regelmäßig um bis zu 25 Prozent überschritten werde. Für Heidelberg werden 20.-30.000 Zahlen in „Insiderkreisen“ genannt.
Diese „Rechenspiele“ erscheinen utopisch, weil man sicher davon ausgeht, dass der „soziale Frieden“ in diesen Städten dann extrem gefährdet ist. Wer die wachsende Zahl der Flüchtlinge verantwortlich betrachtet, muss allerdings zur Kenntnis nehmen, dass die Menschen kommen werden und untergebracht werden müssen.
Da im Gebiet des Regierungspräsidiums Karlsruhe (2,7 Millionen Einwohner, 22.600 Plätze) bereits aktuell weit mehr als die Hälfte der ankommenden Flüchtlinge untergebracht werden, sind die Landtagsabgeordneten in der Pflicht, Druck auf die Landesregierung auszuüben, damit die drei anderen Regierungspräsidien Stuttgart (4 Millionen Einwohner, 6.650 Plätze), Freiburg (2,2 Millionen Einwohner, 7.500 Plätze) und Tübingen (1,8 Millionen Einwohner, 5.180 Plätze) endlich ihrer Verantwortung nachkommen und Plätze in großer Zahl schaffen.
Und das wird nicht reichen – auch andere „Infrastruktur“ wie Polizei und Hilfsdienste sind am Rande der Belastungsfähigkeit und brauchen Unterstützung.
Doch die Landesregierung zögert angesichts der Landtagswahl im März, den „ländlichen Raum“ zu belasten. Offenbar ist die Angst zu groß, die Bevölkerung hier „zu belasten“ und damit Stimmen an die CDU und die AfD zu verlieren.
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