Mannheim, 28. April 2015. (red/ms) Am 04. September 2014 war in der Nacht nur ein einziger Beamter in der H4-Wache in der Mannheimer Innenstadt. Gegen 22:41 Uhr hörte der Polizist die ersten Schreie. Um 22:47 Uhr treffen die Rettungskräfte am Tatort ein. Aber es ist zu spät. Das 20-jährige Opfer ist bereits verstorben. Noch in derselben Nacht stellte sich der 22-jährige Mehmet S., gegen den nun ein Verfahren wegen Totschlags läuft. Heute sagten ein Polizist, zwei Sanitäter und eine Notärztin vor Gericht aus – und sie schilderten Szenen, die man sich kaum ausmalen mag. Die Rettungskräfte hatten wegen Morddrohungen Angst um Leib und Leben und haben damals die Leiche abtransportiert, um nicht Opfer eines wütenden Mobs zu werden.
Von Minh Schredle
Mehmet S. ist 22 Jahre alt. Er muss sich vor dem Mannheimer Landgericht wegen Totschlags verantworten. Am 04. September 2014 soll er einen 20-jährigen vor der H4-Wache in der Mannheimer Innenstadt erstochen haben. Der Angeklagte schweigt zu den Vorwürfen.
Der Fall ist dramatisch. Unter anderem deswegen, weil insbesondere durch eine reißerische Berichterstattung verschiedener Medien das Sicherheitsgefühl der Mannheimer massiv beschädigt worden ist. Gegen die Polizei wurden schwerwiegende Vorwürfe erhoben: Ist sie nicht in der Lage, uns zu schützen? Hätte sie das Leben retten können?
Normalerweise sollten pro Schicht zwölf Beamte für die H4-Wache im Einsatz sein. Manchmal wird diese Sollzahl wegen Krankheitsfällen oder Urlaub nicht erreicht. Sieben Personen sind die zulässige Mindestgrenze gewesen. Das war am 04. September gewährleistet. Nach den Ereignissen wurde die Mindestbesetzung auf 8 Beamte erhöht.
Eine Streife mit zwei Personen war schon eine Weile im Einsatz gewesen, schildert ein Polizist vor Gericht. In einer Wohnung hat es einen Toten gegeben – kein Fremdverschulden. Dann erreicht die Polizeiwache eine Meldung: Eine Schlägerei im Jungbusch. Der Dienstleiter überlegt kurz und schickt zwei Streifen los. Er bleibt alleine in der Wache zurück.
“Normalerweise ist es sicher”
“Da ging die Sicherheit meiner Kollegen vor,” erklärt er:
Bei einer Schlägerei ist es immer schwierig, vorher abzuschätzen, wie aggressiv es da werden kann. Besser zwei Beamte zu viel als zwei zu wenig. Und in einer Polizeiwache ist es normalerweise sicherer als im Straßeneinsatz.
Gegen 22:41 Uhr hört der Polizist Schreie auf der Straße. “Das ist an sich noch nichts Ungewöhnliches in dieser Gegend”. Trotzdem geht er zum Fenster und schaut nach: Draußen prügelt sich eine Gruppe von sechs bis sieben Männern – Kurden, wie sich später herausstellt. Eine Person liegt bereits am Boden, während eine andere über sie gebeugt ist und ihr mit der Faust ins Gesicht schlägt.
Beamter begab sich in Gefahr
Die Polizeiwache lässt sich nur durch eine Sicherheitsschleuse betreten und auch verlassen. Diese muss von einer anderen Person bedient werden. Alleine kommt man weder rein noch raus. Der 25-jährige Beamte ist alleine. Der Polizist springt impulsiv aus dem Fenster. Mit einem Schlagstock attackiert er drei Mal den “Hauptaggressor”. Dann greift ein anderer Schläger aus dem Pulk ein und stößt den Polizisten weg.
Der Beamte stolpert ein paar Meter rückwärts. Er ist nicht verletzt. Aber er trägt keine Schutzweste:
Erst in diesem Moment ist mir wirklich bewusst geworden, in welche Gefahr ich mich begeben habe,
sagt er im Zeugenstand. Glücklicherweise sei das offene Fenster in der Nähe gewesen: “Darüber bin ich wieder rein geklettert.”
Er ruft sofort Verstärkung. Und einen Krankenwagen. Er legt sich eine Schutzweste an – dann sieht er auf einer Überwachungskamera, wie eine Person vor der Wache zusammensackt. Sie blutet stark.
Morddrohungen gegen Rettungskräfte
“Wir kamen gerade von einem Einsatz zurück und waren schon auf dem Weg in den Feierabend”, sagt eine Sanitäterin gegenüber dem Gericht. “Dann erreichte uns der Notruf.”
Sie kommen in den Quadraten an. Es ist inzwischen 22:47 Uhr. Der Weg zum Tatort wird von einer gewaltigen Menschenmenge blockiert – “bis zu 250 Schaulustige” sollen es nach den Angaben einer Sanitäterin gewesen sein. Sie rütteln am Rettungswagen und versuchen die Türen aufzureißen. Die Sanitäter bekommen Morddrohungen zu hören:
Jetzt tut endlich was – oder wir bringen euch um!
Mittlerweile sind die Streifenbesatzungen zurück – andere werden hinzugezogen. Eine Gruppe von Polizisten hat Mühe, die Menschenmenge zurück zu drängen. Aber es gelingt. Gaffende holen ihre Handys heraus und beginnen die Szenerie zu filmen.
Direkt vor der Polizeiwache liegt ein regungsloser Körper in einer Blutlache. “Der Mann war schon ganz bleich”, sagt eine Notärztin dem Gericht und stockt kurz. Dann fügt sie hinzu: “Völlig ausgeblutet.”
Ein Mann kniet über dem Körper und schreit:
Schnell! Tut etwas! Er lebt noch.
Es ist der Vater des Opfers. Doch sein 20-jähriger Sohn atmet nicht mehr. Er hat keinen Puls. “Er war schon tot, als wir ihn in den Rettungswagen verfrachtet haben,” sagt eine Sanitäterin:
Aber wir konnten ihn nicht einfach liegen lassen. Die Situation wäre komplett eskaliert.
Später werden Medien berichten, dem Mann sei von hinten die Kehle aufgeschlitzt worden. Tatsächlich war nach unseren Informationen die tödliche Wunde ein Stich in die Lunge. Auch der Vater des Getöteten wurde durch zahlreiche Messerstiche verletzt.
Tatverdächtiger stellt sich – aber schweigt vor Gericht
Im Rettungswagen entkleideten die Sanitäter das Opfer und sahen sich die Verletzungen an. Vier tiefe Schnitte und Stiche. “Mit dem Leben nicht vereinbar,” wie eine Sanitäterin sagte. Man habe sofort gewusst, dass hier nichts mehr zu retten ist. Reanimationsversuche hat es deswegen nicht gegeben.
Obwohl das Transportieren von Leichen in Rettungswägen für gewöhnlich nicht erlaubt ist, fahren die Sanitäter los. “Reiner Selbstschutz”, erklärt eine von ihnen:
Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn wir den Toten wieder ausgeladen hätten.
Noch in der gleichen Nacht stellt sich der 22-jährige Tatverdächtige Mehmet S. bei der Polizeiwache. Vor Gericht schweigt er zu den Vorwürfen. Die Tatwaffe wurde trotz umfangreicher Suchaktionen, auch mit Spürhunden, bis heute nicht gefunden. Bei dem Streit mit tödlichem Ende soll es um Geld gegangen sein – nicht gezahlte “Löhne”.
Es ist möglich, dass es neben dem Angeklagten Mittäter gab, die die tödlichen Verletzungen verursacht haben. Die Verhandlung wird morgen ab 09:00 Uhr fortgesetzt. Die Urteilsverkündung ist auf den 21. Mai angesetzt.
Anm. d. Red.: Inbesondere unser Text “Die Polizei, dein Freund und Helfer oder Dein Feind?” fasst die damalige Situation nach unseren Recherchen zusammen und ist über 30.000 Mal gelesen worden. Sehr viele Polizisten hatten sich neben anderen Lesern im Anschluss bei uns gemeldet, um sich für unsere Recherchen und die Darstellung zu bedanken. Wir hatten auch Hinweise erhalten, dass der Tatverdächtige, ein Asylbewerber, möglicherweise nicht “der” Täter ist oder Mittäter hat – der Staatsanwaltschaft lagen auf Anfrage keine Hinweise vor. Die Strategie der Verteidigung baut darauf, dem Angeklagten zweifelsfrei nachzuweisen, dass er als Einzeltäter zugestochen hat. Sollte dies nicht gelingen, könnte der Mann nicht verurteilt werden – auch, wenn Zweifel daran bestehen, ob er tatsächlich der Täter ist und nicht jemanden aus seiner Familie “schützen” will.