Mannheim, 27. Oktober 2016. (red/hs) Die neue überparteiliche Bürgerinitiative “Befreiung der Vororte” will für die Ausgliederung der eingemeindeten Stadtteile kämpfen. Man habe sich gegründet, so einer der Sprecher, “um nicht mehr länger Opfer dieses Wahnsinns” zu sein. Mit “Wahnsinn” bezeichnet er auf Nachfrage Einsparplanungen der Stadt Mannheim. Die BI habe bereits 237 Mitglieder und plant, bei den kommenden Kommunalwahlen 2019 als Wählervereinigung anzutreten. Bis 2024 sollen die Ausgliederungen erfolgt sein. Unser Gonzo-Reporter Helle Sema hat die Sprecher getroffen.
Von Helle Sema
Keine der etablierten Parteien vertritt doch unsere Interessen wirklich und diese Stadtverwaltung schon gar nicht,
sagt Walter P. Garre. Die Familie des gebürtigen Wallstädters lebt seit 14 Generationen in Mannheim. “Nein, in Wallstadt”, korrigiert der Mann sofort, als ich das aufschreibe:
Wenn man pro Generation 20 Jahre rechnet, sind das seit der Eingemeindung vier Generationen als Zwangsmannheimer. Aber zehn Generationen als freie Wallstädter. Und dieses Recht holen wir uns zurück.
Die BI “Befreiung der Vororte” beruft sich dabei auf die “Übereinkommen” zur Eingemeindung und hat diese rechtlich prüfen lassen:
Wir wurden nach Strich und Faden belogen und betrogen. Notfalls gehen wir bis nach Karlsruhe,
kündigt Herr Garre an. Man habe bereits eine renommierte Münchner Kanzlei beauftragt. Warum keine Mannheimer? “Keinem von denen trauen wir, die stecken doch alle unter einer Decke”, sagt Herr Garre.
Schnauze voll
Auch Stencar Düsmersen, bis vor kurzem noch Mitglied der CDU, “hat die Schnauze voll”. Er bezeichnet sich als “Neckaarer Bu” und ist ebenfalls stolz auf die lange Familientradition. In der BI wird er wegen seines ungewöhnlichen Vornamens und seiner stämmigen Figur der “Wikinger von Neckarau” genannt.
Er wünscht sich den dörflichen Charakter für Neckarau zurück – wie auf alten Stichen in seinem Wohnzimmer zu sehen, die den Stadtteil im Jahr 1897 zeigen, also ein Jahr vor der Eingemeindung:
Neckarau war ein Idyll. Weil der Obersozi uns jetzt das Rathaus wegnehmen wollte, ist mir der Kragen geplatzt. Das reicht jetzt. Wir lassen uns das Rathaus nur über unsere Leichen wegnehmen.
Walter P. Garre meint, die Stadt habe die Vororte nach und nach betrogen und zitiert aus dem “Vertrag über die Vereinigung der Gemeinde Wallstadt mit der Stadt Mannheim vom 2./28. Mai 1929”. Hier ist aufgeschrieben:
§ 3
In Wallstadt wird ein Gemeindesekretariat eingerichtet. Dem Gemeindesekretariat werden übertragen:
a) Die Beglaubigung von Unterschriften und Abschriften,
b) die Führung des Standesamts,
c) die Geschäfte des Gemeinderichters und Schiedsmanns,
d) die Geschäfte einer Zahlstelle für Gemeindegefälle.
Die haben uns auch bei der Allmendnutzung überall enteignet – Diebstahl nennt man das,
knurrt Herr Düsmersen. Um sich auch eine publizistische Stimme zu verschaffen, werde man die “Badische Volks-Zeitung” wieder aufleben lassen. Abwerbegespräche mit einigen “heimattreuen” Redakteuren eines Lokalblättchens, die “für die Sache” seien, würden schon geführt.
Öko-Zucht und Ordnung
Die BI versteht sich durchaus auch als ökologische Bewegung. “Früher hatten wir hier noch “Zucht und Ordnung”, verweist Herr Düsmersen beispielsweise auf den Eingemeindungsvertrag mit Seckenheim:
Im Paragraf 10 steht dort: Die Farren-, Eber- und Ziegenbockhaltung wird im bisherigen Bestand beibehalten. Die Zuchtfarren (Anm. d. Red.: “Farren” sind Rinderbullen) werden im Benehmen mit den landwirtschaftlichen Organisationen angekauft.
Deswegen werde die BI auch die Haltung der Zuchttiere wieder aufnehmen und plant Verkaufsläden mit “Vorort-Fleisch”. Die Marke “Vorort” habe man sich schon gesichert:
Das ist vollständig öko. Keine unnötigen Tiertransporte mehr. Fleisch von glücklichen Tieren statt “Plastikwurst”. Die Mannheimer wollen ja sogar das Fleischversorgungszentrum zumachen. Hier geht doch alles den Bach runter,
sagt Herr Garre und hofft auf breite Unterstützung von ökobewussten Bürger/innen in den Vororten. Und er ist sich sicher, dass er “notwendige Mehrheiten” erreicht:
Wissen Sie was “notwendig” heißt? In der Not die Wende zu machen. Und das machen wir.
In den dann wieder selbstständigen Gemeinden, ob Wallstadt oder Waldhof, ob Seckenheim oder Sandhofen, ob Käfertal oder Kirchgartshausen werde es eigene Rathäuser, eigene Polizei, eigene Ärzte, eigene Feuerwehr und eigene Schulen geben: “Alles, was der Bürger braucht. Nah und vor Ort.”
Dann blitzen seine Augen, denn mit diesem Thema glaubt er sehr viele Bürger/innen hinter sich zu bringen, um das Ziel der Abspaltung zu erreichen:
Wissen Sie, was in der Vereinbarung mit Neckarau unter Paragraf 6 steht? Ich zitiere: “Eine bessere Organisierung der Straßenreinigung vorzunehmen. Das war 1898 – darauf warten wir noch heute!
Erste Rückmeldungen der Parteien auf unsere Anfrage, wie man diese Bürgerinitiative einschätzt, sind eindeutig. Man nimmt sie ernst. Insbesondere Grüne und SPD wollen sich darauf konzentrieren, die Stadtteile südlich des Neckars zu sichern und den separatistischen Tendenzen etwas entgegenzusetzen. Es gibt auch Stadtteile, die sich nicht ausgemeinden lassen können, weil sie nie eingemeindet worden sind. Neuhermsheim beispielsweise ist ein sehr junger Stadtteil und Neuostheim war ein “Teraint” von Feudenheim. Deswegen hofft man, den Süden halten zu können.
Ein Stadtrat, der nicht näher genannt werden will, sagt:
Der Norden ist eh an die AfD verloren, da kann sich der CDU-Kandidat mit rumschlagen. Da können ja sogar Eppelheimer Landtagsmandate gewinnen. Aus Sicht von Mannheim wäre der Norden kein Verlust. Keine Probleme mit der Neckarstadt mehr oder den Flüchtlingen in Käfertal. Gehörte eh nie zum historischen Mannheim. Das Problem mit der Buga wären wir auch los, ebenso die lokale Postille und dieses Klinikum sowie die renitenten Kleingärtner. Wir hätten den Luisenpark, das Fußballstadion, die SAP-Arena, die Innenstadt, die Feuerwehr und den City Airport – also beste Infrastruktur.
Ausgemeindungen sind relativ selten, kommen aber immer mal wieder vor. Beispiel (Quelle: Wikipedia):
“Oberwesel und Urbar: Von 1974 bis 1999 dauerte die Verbindung zwischen den beiden Ortschaften. Doch der Zusammenschluss war von Anfang an nicht besonders freundschaftlich geprägt. Bereits seit Ende der 1980er Jahre wurden daher fortwährend Bestrebungen zur Lösung von der Stadt Oberwesel unternommen.
Mit der „Verfügung über die Rückneugliederung des Ortsteiles Urbar aus der Stadt Oberwesel und Bildung der Ortsgemeinde Urbar mit Wirkung vom 13. Juni 1999“ durch die Kreisverwaltung des Rhein-Hunsrück-Kreises wurde für Urbar festgelegt, dass die Ausgliederung aus Gründen des Gemeinwohls erfolgt und die Ortsgemeinde Urbar als Rechtsnachfolger der ausgegliederten Teile gebildet wird. Bei der Ausgemeindung hatte die nun wieder selbstständige Gemeinde Urbar eine Schuldenquote von etwa 850.000 DM anteilig von der Stadt Oberwesel zu übernehmen.”
Die BI “Befreiung der Vororte” hat bereits Mitglieder in Weinheim, Edingen-Neckarhausen und Hirschberg an der Bergstraße. Auch dort soll demnächst dafür gekämpft werden, dass die Ortsteile wieder selbständig sein können.
Nach unseren Recherchen behaupten böse Zungen, dass einige Mitglieder der BI darauf hoffen, dann in den ausgemeindeten Gemeinden mindestens Ortsvorsteher, wenn nicht Bürgermeister werden zu wollen. Merke: Am Ende geht es immer um Macht und Posten.
Anm. d. Red.: Bitte beachten Sie unsere weitere Berichterstattung zu Bürgerdiensten in den Stadtteilen/Vororten. Das wird sicher spannend.
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