Weinheim/Rhein-Neckar, 27. September 2012 (red/ld) In der Geschäftsstelle der Weinheimer Arbeiterwohlfahrt (AWO) referierte die Politikwissenschaftlerin Ellen Esen über den modernen Rechtextremismus, sein Auftreten und seine Strategien. Es werde immer schwieriger, rechtsextreme Gruppierungen zu identifizieren. Sie sind zersplittert, kopieren Jugendkultur oder kommen aus der Mitte wie der NPD-Kreisvorsitzende Jan Jaeschke aus Weinheim.
Von Lydia Dartsch
Mit Zahlen will Ellen Esen ihre Einschätzung über die Aktivitäten im Rhein-Neckar-Raum nur ungern belegen. Denn allein mit Wahlergebnissen oder Mitgliederzahlen der rechtsextremistischen Partei NPD ließe sich das Bild der modernen Rechtsextremen kaum zeichnen, auch nicht im Rhein-Neckar-Raum. Dort hat die NPD in der letzten Bundestagswahl nur rund 1 Prozent in Wahlkreisen bekommen – in Weinheim waren es 1,3 Prozent (261 Stimmen). Das reicht immerhin für die Wahlkampfkostenerstattung des Bundes und spült damit Geld in die Kassen der Rechtsextremen.
Die NPD ist aber nur die Spitze des Eisbergs,
hat Esen herausgefunden. In Wahrheit sei die Szene weit versplittert und zerfranst, will mit Parteienarbeit überhaupt nichts zu tun haben. Sie verbreiten daher ihre Gedanken auf anderen Wegen, in der Gemeinschaft. Sie sind aktiv, wenn Interessenten zu ihnen kommen und werden von der Masse der Gesellschaft kaum erkannt.
Denn das Aussehen ihrer Anhänger entspräche längst nicht mehr dem Klischee von Springerstiefeln, Bomberjacke und kahl rasiertem Schädel.
Wer sich in der Szene lächerlich machen will, läuft so rum.
Die neuen Nazis sind “cool”: Sie tragen sportliche Hoodies oder T-Shirts mit subtilen Motiven, wie dem bei Liebhabern des Mittelalters beliebten “Thors Hammer” oder die “schwarze Sonne”. Beide Symbole sind nicht verboten. Zudem kopieren sie das Aussehen der linken Szene und treten eher als Punk auf – mit bunt gefärbten Haaren oder dem in der linken Szene verbreiteten Palästinensertuch als Schmuck.
Für die Polizei wird es so bei Demonstrationen besonders schwer, rechte und linke Gruppierungen voneinander zu unterscheiden und voneinander trennen zu können.
Doch auch in Anzug, Hemd und Krawatte kommen die neuen Nazis daher, wie der Weinheimer Kreisvorsitzende der NPD, Jan Jaeschke. Der Friseurmeisterin Nelly Rühle aus Schwäbisch-Hall, der Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel oder Edda Schmidt ist ihre politische Einstellung nicht anzusehen.
Sie nutzen Nischen in der Gesellschaft. Sie ließen sich zum Beispiel gerne als Elternbeiräte wählen:
Sind wir nicht alle froh, wenn es beim Elternabend jemanden gibt, der die Aufgabe des Elternbeirats übernehmen möchte?
fragt Esen in die Runde. Eine “ihrer Aussteigerinnen” habe ihr erzählt, es gäbe detaillierte Anweisungen, wie man am geschicktesten in dieses Amt gewählt wird. Berührungsängste seitens der Eltern gebe es kaum, so Esen. Einer Frau aus der Szene habe ihr erzählt, dass sie die Eltern gerade wegen ihrer politischen Einstellung nach ihrer Meinung fragten.
In einem anderen Fall berichtet Esen vom ehemaligen Polizeibeamten Jürgen Schützinger aus Sinsheim, der 1982 wegen seiner Aktivitäten in der NPD aus dem Staatsdienst entlassen wurde:
Als in Sinsheim das Schwimmbad geschlossen wurde, gründete er sofort einen Verein für die Wiedereröffnung des Bades. So kommt man mit den Leuten ins Gespräch und durchbricht die Isolation.
Dazu spielt rechtsextremen Gruppen die Tabuisierung in die Hände: Wo junge Skinheads bekannt dafür seien, viel Alkohol zu konsumieren und eine deftig sexistische Sprache zu pflegen, erzählt Esen auch von Gruppierungen, die sich vegetarisch ernähren und keinen Alkohol trinken. Diese Gruppierungen, so Esen, bezögen sich direkt auf ihr Vorbild Adolf Hitler, der ebenfalls Vegetarier und Antialkoholiker war. Andere pflegen die Kameradschaft und unternehmen Freizeitaktivitäten:
Der moderne Rechtsextremismus hat viele Gesichter. Die lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren,
führt Esen aus. Tatsächlich lässt sich die Szene in verschiedene Strömungen unterteilen: Die Nationalsozialisten, die ein viertes Reich herbeisehnen, die Nationaldemokraten, die eine neue Republik herbeiführen wollen, und die Nationalrevolutionäre.
Diese Strömungen sind sich uneins – zum Glück.
Nur die Feindbilder haben sie gemeinsam: Ausländer, Menschen mit Migrationshintergrund – in rechtsextremen Kreisen auch abwertend als “Plastedeutsche” bezeichnet – Homosexuelle, Vertreter von Religionsgemeinschaften, behinderte Menschen, Beamte, Karrierefrauen und andere Jugendbewegungen.
Doch wie kommt jemand dazu, sich solchen Gruppierungen anzuschließen? Vor allem Jugendliche sind Ziel der Ansprache durch rechtsextreme Gruppierungen, wie die Jungen Nationaldemokraten (JN), der Ring Nationaler Frauen oder die Freien Nationalisten Kraichgau. So seien diese Gruppierungen sehr aktiv beim Werben neuer Mitglieder:
Einen Kontakt zur Szene zu bekommen, ist heute so einfach wie nie und auch so unkontrollierbar wie nie, gerade mit den neuen Medien.
Über Facebook und Twitter ist es sehr leicht, einen ersten Kontakt herzustellen. Wenn das gepredigte Tabu auf diesen Gruppierungen nicht zutrifft, läge die Schlussfolgerung nahe, dass es doch gar nicht so schlimm sei. Zudem sei es dort oftmals sehr einfach, aufzusteigen. Eine der Aussteigerinnen, die Esen betreut, sei kurz nach ihrem Kontakt zur NPD in die Parteizentrale nach Berlin eingeladen worden:
Überlegen Sie mal: Ein junges Mädchen wird einfach so eine Reise nach Berlin spendiert. Was glauben Sie, welche Wirkung das auf sie hatte?
Wenn Lehrern eine extreme Tendenz bei ihren Schülern auffällt, sind sie meist ratlos, obwohl gerade sie pädagogisch noch etwas bei ihnen ausrichten könnten, so Esen. Doch statt mit Feingefühl und in einem vertraulichen Gespräch mit dem Schüler das Problem anzusprechen, manövrierten viele ihre Schüler in eine Position, die zum Outing vor der Klasse führe. So könnte es auch mit Jan Jaeschke geschehen sein, der mit seinen 22 Jahren als eine ernst zu nehmende Persönlichkeit der rechten Szene gilt und derzeit Kreisvorsitzender der NPD ist: So dankt der in Weinheim und Leimen aufgewachsene Jaeschke in einem offenen Brief seinen Lehrern in Leimen dafür, ihn zur NPD gebracht zu haben:
Er spricht wie die NPD,
haben seine Leimener Lehrer gesagt, berichtet er in dem Brief. Dabei sei er vorher nie auf die Idee gekommen, sich einer Partei anzuschließen. Die Ablehnung der Lehrer und der Hinweis, wie er spricht, hatten ihm wohl die “Richtung” gezeigt.
Esen hat die Entwicklungen in der rechten Szene im Blick: Das Buch von Thilo Sarrazin und die darauffolgende Mediendebatte sei für sie ein Alarmzeichen gewesen. Denn das kam aus der Mitte der Gesellschaft. Besorgniserregend finde sie auch, dass sich die Szene die Rote Armee Fraktion (RAF) für ihre Aktivitäten nehmen. Die Ereignisse um die Zwickauer Terrorzelle haben sie aber doch erstaunt:
Eine Frau, mit der ich in Kontakt stehe, sagte mir: ‘Wenn wir etwas geplant hätten, dann wäre es groß gewesen.’
Im Augenblick ist Esen eher besorgt: Zwar gäbe es immer irgendwo eine latente Ruhe vor dem Sturm, doch:
Ich habe das Gefühl, da braut sich was zusammen.
sagt sie und spricht von Personen in der Szene, von denen sie sich vorstellen kann, Anweisungen zu geben oder von Kamikazeleuten, die die Ideologie verinnerlicht, und nichts zu verlieren haben.
Es gibt nichts gefährlicheres als Menschen, die nichts zu verlieren haben.
Dagegen helfe, so Esen, nur Aufklärung und eine Sensibilisierung der Gesellschaft. Lehrer und Schüler müssten sensibilisiert werden, wie sie richtig damit umgehen, wenn sie rechtsextreme Tendenzen bei MitschülerInnen wahrnehmen, ohne sie in die rechte Ecke zu drängen.
Hilfreich seien auch Beratungsstellen und Aussteigerprogramme wie
- Exit-Deutschland (www.exit-deutschland.de, Telefon: 0177 / 240 4592),
- (R)auswege (Telefon: 0800/45 46 000),
- Aktion Neustart (Telefon: 0172 / 444 4300) oder das
- Bundesamt für Verfassungsschutz (E-Mail: aussteiger@bfv.bund.de).