
Hardy Prothmann vor 20 Jahren an dem Platz, wo er eigentlich den Morgen am 26. Dezember 2004 am Sandstrand liegen wollte – zufällig hatte er sich am Abend zuvor zu einer mehrtätigen Segelfahrt verabredet und bemerkte drei Meilen vor der Küste auf dem Boot nichts vom Tsunami – an der Ostküste Phukets gab es Zerstörungen, aber überschaubar. An der Westküste ereignete sich eine Apokalypse.
Mannheim/Phuket, 26. Dezember 2024. (red/pro) Es gibt wohl niemanden, den der Tsunami 2004 in Indonesien, Thailand und Sri Lanka nicht betroffen hat. Ob als Opfer, Angehörige oder Freunde von Opfern, Helfer oder einfach nur Nachrichtenkonsument. 230.000 Tote ist die offizielle Schätzung. Eine unglaubliche Naturkatastrophe mit unvorstellbaren Kräften hatte die Menschheit am 26. Dezember 2004 am Vormittag in Südostasien fast ohne Vorwarnung getroffen. Hardy Prothmann, verantwortlicher Redakteur des Rheinneckarblog.de, hat durch Zufall überlebt und im Anschluss 18 Tage lang für rund ein Dutzend Medien in Deutschland über die Katastrophe berichtet.
Update, 26. Dezember 2024. Dieser Text erschien vor zehn Jahren anlässlich der Flutkatastrophe in Südostasien 2004 und kann heute genauso erneut im Gedenken an damals erscheinen.
Von Hardy Prothmann
Es ist mein 12. Tag in Thailand auf Phuket. Weihnachten unter Palmen und Thai-Food statt gebratene Gans ist irgendwie so gar nicht weihnachtlich. Die Thais sind gut drauf und tragen rote Mützen, haben gute Laune und tun das, was sie sonst auch gerne tun – Spaß miteinander haben. Gute Laune überall. Man redet zwar über Schnee – aber es vermisst ihn hier keiner.
Es ist der 26. Dezember 2014, 08:03 Uhr. Ich wache auf und stelle fest, dass ich meinen Wecker überhört habe. Eigentlich wollte ich um 08:00 Uhr am Beach sein, um mit einem australischen Skipper drei, vier Tage zu segeln. „Sorry, had a deep sleep. Will be on the beach in ten minutes“, haste ich ins Telefon, greife meinen Beutel, springe in meine Kleidung und aufs Moped.
Eine schnelle Fahrt zum Strand. Da wartet John im Dingi auf mich. Wir schippern zum Boot. Motor an, Anker hoch. Auch ein Schwede ist mit seiner Freundin an Bord. Alle können segeln, wir reden nicht viel am Morgen. Jeder weiß, was zu tun ist.
Kein Wind – der Tag beginnt ruhig
Ich ärgere mich ein wenig. Kein Wind. Kein Bisschen. Vielleicht würde der erste Segeltag nur „motoren“ bedeuten, weil John zu einem Freund in einen anderen Hafen muss, um an dessen Boot was zu reparieren. Er hatte mir am Abend in einer Bar davon erzählt und ich meinte, ob er noch jemanden für die Crew brauche. Handschlag. So kam ich auf das Boot. Nach einer halben Stunde geht ein Kutter längsseits und jemand ruft irgendwas. Irgendwann verstehen wir: „Beware. Tsunami is arriving. Go to the bay.“
Wir hören Seefunk. Die Meldungslage ist diffus. Aber schnell erfahren wir, dass es Indonesien voll getroffen hat. Große Zerstörungen. Alle Marinas sind hinüber. Der Tsunami bewegt sich auf uns zu. Wir diskutieren, was zu tun ist. Der Schwede will in die Bucht, wie die Fischer das geraten haben. Ich will raus auf die See, da, wo es am Tiefsten ist. Schließlich fahren wir raus. Immer mehr Boote und Schiffe tun dasselbe. Irgendwann sind es hunderte, die kreuzen und warten. Die See ist fast spiegelglatt. Kein Wind. Wir sind alle nervös.
Die Welle schlägt ein
Gegen 10 Uhr sehen wir aus der Ferne einen Frachter im Hafen von Phuket. Der liegt wie ein Zigarrenstummel am Horizont. Dunkel und länglich. Mit einem Mal hebt und senkt er sich. Die Welle hat eingeschlagen. Das geht noch ein paar Mal so. Was genau an Land passiert, können wir nicht sehen, wir kreuzen rund zwei Seemeilen vor der Küste. Hier im Osten von Phuket schlägt die Welle mit zwei bis drei Meter ein. Ich denke, falls das was „Größeres“ ist, „biete“ ich das mal an. Ich erreiche Spiegel Online vom Boot aus. In Deutschland weiß man noch von nichts.
Erste Eindrücke
Gegen 15:30 Uhr wagen wir die Rückkehr. Über Funk haben wir uns vergewissert, dass der Tsunami wohl vorüber ist. Die Einfahrt in den Hafen ist gespenstig. Da, wo heute morgen noch dutzende Segelboote im Naturhafen vor Anker lagen, liegen diese nun zerborsten an Land oder die Masten luken aus dem Wasser. Die Einfahrt ist kniffelig, weil man nicht weiß, was unten im Wasser liegt. Sie gelingt.
Hier am Beach gibt es nur zwei, drei Gastronomien und die Beach-Verwaltung. Alles ist beschädigt, aber nicht zerstört. Mein Moped hat es auch erwischt. Jemand schleppt mich ab zum Verleiher. Der bekommt die Maschine in einer Stunde wieder hin. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, wie es woanders aussieht. Das Mobilfunknetz, das normale Telefonnetz, Internet – nichts funktioniert. Ich fahre in mein Ressort, um Computer, Schreibzeug und Kamera zu holen.
Ich habe kein professionelles Gerät dabei, denn eigentlich wollte ich die sechs Wochen Auszeit nutzen, um darüber nachzudenken, ob ich mich vom Journalismus verabschiede. Die Medienkrise, die aktuellen Entwicklungen habe ich damals schon kommen sehen. Zwar hatte ich eine noch gute Nische mit Reportagen, Porträts und investigativen Recherchen – aber wie lange noch? Sollte ich Bücher schreiben, ins Filmgeschäft wechseln oder was ganz anderes machen? Deswegen war ich hier – weit weg. Um Abstand zu bekommen.
Ich weiß noch nicht, dass ich die kommenden 18 Tage meiner Auszeit als Reporter verbringen werde. Ein Smartphone gibt es noch nicht. Mobiles Internet auch nicht. Ich werde meine Artikel auf dem Notebook schreiben oder in Internet-Cafés. Erste SMS von Spiegel Online treffen ein. Telefonieren geht nur manchmal und ist teuer. Thailändische Medien verstehe ich nicht – das Angebot an professionellen Nachrichten vor Ort ist desolat. Manchmal gucke ich CNN – immer wieder Wellenbilder in der Endlosschleife und „Aufsager“ von Leuten, die ich nie irgendwo vor Ort gesehen habe. Das geht so: Kamera-Teams fahren durch das Land, der Korrespondent wartet im Hotelzimmer auf das Material, sichtet und dann stellt man sich irgendwo hin, guckt wichtig und sagt, was man über die Agenturmeldungen erfahren hat.
Informationen über eine Katastrophe verdichten sich
Ich fahre die östliche Küste entlang, in die Orte hinein. Überall dasselbe Bild. Zerstörungen im küstennahen Bereich, aber überschaubar, nichts, was man in kurzer Zeit nicht wieder hin bekommt. Es gibt Verletzte, aber keine Toten. Dann erreichen mich Informationen von der Westküste. Viele Tote in Patong, Karon und den anderen touristischen Hochburgen. Große Zerstörungen. Ich treffe zufällig meinen Freund Wolfgang, der mich eingeladen hatte. Ich reise immer am liebsten dorthin, wo ich jemanden kenne. Deswegen war es spontan Thailand gewesen.
Wir überqueren Phuket und von oben sehen wir schon unten die massiven Zerstörungen. Patong ist eine einzige Schutthalde, zumindest alles, was im küstennahen Bereich bis einige hundert Meter ins Land liegt. Die höher gelegenen Viertel sind nicht betroffen. In viele Straßen kommt man nicht rein. Meterhoch liegt der Schutt aus Mauerwerk, Brettern, Bäumen, Autos, Kühlschränken und sonstigem Interieur. Die Welle hat alles kaputt geschlagen und willenlos zusammengeschoben.
Hilfe, Aufräumarbeiten und sensationelle Berichte
Erste Aufräumarbeiten beginnen. Die Menschen gucken mit fassungslosen Augen, grüßen aber freundlich. Es geht geschäftig zu. Aber anders als sonst sehr leise. Kein Lachen. Keine Musik. Keine Party. Ein ARD-Reporter wird ein paar Tage später am Strand von Patong stehen und sagen: „Hier sieht es aus, wie nach einem atomaren Angriff.“ Es wird noch viele Reporter geben, die ähnlichen Schwachsinn von sich geben und Meldungen produzieren, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.
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Es werden Augenzeugen zitiert werden, die berichten, als die Welle gegen Gebäude krachte, habe sich das angehört wie eine „Bombenexplosion“. Auch das wird gerne genommen – weil es so dramatisch ist. Dass man keine „bomgenexplosionsähnliche“ Geräusche auf den zahlreichen Videoaufnahmen hört – wen stört es?
Die FAZ veröffentlichte an diesem Dienstag (23.12.2014) aktuell einen Text des Korrespondenten Christoph Hein, der an Zynismus nicht zu überbieten ist. Darin geht es überwiegend um Leute, die die Katastrophe ausgenutzt haben, um Geschäfte zu machen. Als wenn das die wichtige Botschaft wäre.
Tatsächlich war das Ausmaß der Zerstörung in Indonesien am Furchtbarsten. Dort starben 130.000 Menschen. Und die Hilfe für die Überlebenden war eine andere als hier auf Phuket. Über Indonesien weiß ich nur, was ich aus anderen Medien kenne – ich war schon dort, aber eben nicht aktuell. Die Provinz Aceh ist Bürgerkriegsgebiet. Hier gibt es keinen Tourismus und weniger Betroffenheit in Deutschland oder anderswo. Und kaum westliche Reporter. In Thailand gibt es am wenigsten Opfer, rund 8.000 insgesamt. Aber hierüber wird in Deutschland am meisten berichtet.
Am späten Nachmittag bin ich im Vachira Hospital in Phuket-City. Hier gibt es Platz für rund 1.000 Patienten. Jetzt sind es schon nahezu 2.000, es werden zeitweise über 4.000 sein. Ständig fahren Krankenwagen, Pkw und Pick-ups vor und bringen weitere Verletzte. Die Thais sind unglaublich. Geschäftig, freundlich, alle helfen, sprechen sich ab, die Versorgung läuft reibungslos. Niemand macht sich wichtig, es entscheidet eine gleichsam natürliche Ordnung den Ablauf.
Schnittwunden, Prellungen, Brüche
Es ist bereits ein Info-Stand eingerichtet, Dolmetscher stehen bereit, es werden Anweisungen in vielen Sprachen gerufen. Die Patienten werden in Augenschein genommen und nach der Dringlichkeit der Behandlung sortiert. Niemand macht einen Aufstand, alle fügen sich ein. Schnell entsteht eine Kleiderkammer, Obst, Brot und Wasser gibt es umsonst, Telefone und Internet werden bereitgestellt. Die allermeisten Patienten haben Schnittverletzungen, Quetschungen und Prellungen, sowie Brüche. Lungenverletzungen sind selten – das deutet darauf hin, dass die meisten, die das Wasser voll erwischt hat, keine Chance hatten.
Vorbildliche Versorgung
Der Klinikdirektor ist für die Presse ansprechbar, organisiert Führungen durchs Haus. Die Zimmer sind voll, viele Patienten liegen auf Matratzen am Boden – das sind die Leichtverletzten, die aber noch zur Behandlung bleiben müssen. Ältere und schwerer Verletzte kommen in die Betten. Einzelzimmer und Chefarztvisite verlangt kein Mensch. Ebenso keinen Krankenversicherungsnachweis. Nationalitäten spielen keine Rolle. Außer, dass Thais Ausländern Platz machen und sich um diese kümmern. Diese Hilfsbereitschaft ist beeindruckend.
Gegen Mitternacht komme ich in mein Ressort. Die Welle kam bis 50 Meter heran, hier ist aber alles heil geblieben. Für den nächsten Morgen habe ich einen Fahrer engagiert, um nach Khao Lak zu fahren. Drei Stunden wird das dauern. Dort soll die Welle besonders vernichtend gewesen sein.
Die Fahrt geht durchs Innere der Insel. Vom Tsunami nirgendwo eine Spur – glaubte man Medienberichten, müsste ganz Phuket zerschlagen worden sein. Aber es ist vor allem die Westküste betroffen. Als wir die Hochstraße herunterkommen, stecken wir in zähfließendem Verkehr und kommen Meter um Meter der Bucht näher, die ein einziges Trümmerfeld ist. Ich war noch nicht hier gewesen, als Khao Lak als Paradies galt, einem der schönsten Plätze der Welt. Von oben blicke ich auf einen Küstenabschnitt, der vollkommen zerstört ist. Grundmauern erinnern an Gebäude, größere Hotels stehen geschunden dazwischen, überall türmen sich Abraumhalden. Dutzende von Pick-ups stehen überall auf dem Gelände.
Khao Lak – das zerstörte Paradies
Als ich unten ankomme, sehe ich, was hier abtransportiert wird. Auf den Ladenflächen türmen sich die Leichen. Eingepackt in Leinensäcke. Zusammengeschnürt. Überall tragen Helfer die Leichen aus den Trümmern zu Sammelplätzen. Dort werden sie gestapelt, eingepackt und dann verladen. Die Helfer sind Privatleute, die Autos sind privat. Sie sammeln die Toten und bringen sie zum Tempel Wat Yan Yao oder anderen Tempeln der Umgebung. In den nächsten Tagen wird in Takuapa eine DVI-Station erreichtet – Desaster Victims Identification. (Meine Reportage im Focus hier.)
Aus Deutschland wird ein 40-köpfiges Team aus Kriminalbeamten und Ärzten den Leichen eine Identität geben. Identifiziert anhand von eindeutigen körperlichen Merkmalen wie Größe, ungefähres Alter, Narben, Tattoos, aber am sichersten über den Abgleich des Zahnstatus. Kleidung oder Schmuck spielt kaum eine Rolle – die meisten Opfer hatten wenn, nur Bade- oder Schlafkleidung an. Wer nicht am Strand erwischt wurde, der starb beim Frühstück oder im Bett. Gut 300 Menschen erwischte es in einem Supermarkt, tiefer gelegen. Der lief komplett voll.

Hardy Prothmann (zweiter von Rechts) am Tag nach dem Tsunami in Khao Lak zwischen Pick-ups mit aufgeladenen Leichen.
Überall Leichen
Nach vier Stunden habe ich den größten Teil des Geländes inspiziert und rund 600 Leichen gezählt. Allein 400 Körper auf den Pick-ups und weitere Leichen sind an Sammelstellen gestapelt. Die anderen Toten überall auf dem Gelände verteilt. Kinder sehe ich kaum noch, die wurden zuerst geborgen, weil sie leichter zu tragen sind. Manch massigen Leib müssen die schmalen Thais zu viert oder sechst wuchten. Und immer wieder alle paar Meter ablegen. Die allermeisten haben keine Schutzkleidung und nur einfachen Atemschutz vor dem Mund.
Die Sonne brennt. Die Temperatur liegt über 30 Grad Celsius. Die Körper sind grotesk aufgebläht. Die Brüste der Frauen groß wie Medizinbälle, die Hoden der Männer wie Handbälle. Die Bäuche dick und prall. Fast alle haben dieselbe Haltung, Arme und Beine stehen abgewickelt vom Körper. Die Leichenstarre beginnt. Sie zischen, wenn Gas aus ihnen entweicht. Manche sind ganz fürchterlich zugerichtet. Die Körper vollständig blau von Hämatomen. Die allermeisten sind nicht ertrunken, sondern wurden erschlagen.
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Überall ein durchdringend süßlich-fauler Geruch in der Luft. Ich werde berichten, dass es allein hier in Khao Lak vermutlich 6.000 Tote gab. Offiziell wird zwei Wochen später von 5.800 gesprochen. Ob Thais und illegale Burmesen auch einberechnet sind? Auch auf den Inseln in der Umgebung gibt es nach dramatischen Szenen Tote.
Später kommen noch Regierungsbeamte und Militär und Polizei. Die verschaffen sich einen Überblick, halten sich aber zurück. Der Verkehr wird geregelt. Die Bergung der Leichen ist vordringlich. Dort, wo man fertig ist, schieben bereits Bagger den Schutt zusammen, beladen Lkws, transportieren ihn ab.
Desaster Victims Identification
In den Tempeln sind die Leichen aufgebahrt. Es herrscht eine friedliche Ruhe. Ab und an gellen Klageschreie auf, wenn Angehörige ein Opfer zu identifizieren glauben. Viele suchen nach einem Toten, den sie erkennen können, damit die unfassbare Katastrophe begreifbar wird. Aber viele werden sich irren, denn die Leichen sehen alle gleich aus und sind so aufgedunsen, dass kaum noch individuelle Züge erkennbar sind. In Takuapa und woanders sind mittlerweile Kühlanlagen aufgestellt, damit der Verwesungsprozess aufgehalten wird. Stoppen kann man ihn nicht, dafür müsste man die Körper einfrieren. Das geht logistisch nicht.
Die DVI-Teams arbeiten pausenlos. Eine unglaublich nervenaufreibende Arbeit. Einige müssen abbrechen, sie halten die psychische Belastung nicht aus. Vor allem die vielen Kinder und Babys machen den Experten zu schaffen. Eigentlich übersteht man das nur, wenn man nichts an sich heran lässt. Vor sich haben sie „Dead bodies“. Würde man sich jetzt Gedanken zu jedem Schicksal machen – es wäre zu fürchterlich.
Dramatisierte Berichte vs. Welle der Hilfsbereitschaft
Deutsche Medien berichten von drohenden Seuchen und sorgen sich um die medizinische Versorgung der Landsleute. Beides ist dummes Zeug. Die Infrastruktur war überhaupt nicht beschädigt, die Wasserversorgung lückenlos. Der Deutsche Dr. Gerhard Melcher absolviert gerade wegen der hervorragenden Bedingungen seine Facharztausbildung hier auf Phuket. Er wird Übermenschliches leisten. Heute betreibt er in Patong seine eigene orthopädische Praxis.
Thais und Expats organisieren Hilfen für die Opfer – ob Kleidung, Unterkunft, Geld, Kontakte. Nach dem Seebeben mit seiner zerstörerischen Welle gibt es hier eine wahrhafte Welle der Hilfsbereitschaft. Aber auch vereinzelt einen Zynismus – der einem die Sprache verschlägt. Ein RTL-Team beschwert sich über einen Fahrer, der sie „ausnehmen“ würde. 350 Dollar verlange der am Tag. Eine Unverschämtheit, regt sich der Reporter auf. Ich hatte vorher lange mit dem Fahrer gesprochen. 28 Jahre alt, ein richtig netter Kerl. Er hat seine komplette Familie verloren. 22 Menschen. Und damit auch sein soziales Gefüge und seine Altersversorgung.
Mangels eigener Reporter vor Ort melden sich immer mehr Medien bei mir, bestellen Berichte. Und immer, wenn ich in online gehen kann, erreichen mich Dutzende, teils Hunderte von email von besorgten Angehörigen. Fragen, ob ich etwas über Verwandte und Freunde weiß – ich helfe, so gut ich kann.

Hardy Prothmann im Gespräch mit Überlebenden vor der Außenstelle des deutschen Konsulats in Phuket-City. Der Rucksack war neu in Thailand gekauft – und ist bis heute im Einsatz.
Beschämende Rolle „Deutschlands“
Beschämend war die „Leistung“ der Deutschen Botschaft. Dutzende von Opfern, die zwar die Katastrophe überlebt hatten, aber ohne Papiere und Geld waren, beschwerten sich bei mir über die zähe Abwicklung. Den Generalkonsul Dirk Naumann, der sich gerade zynisch in der FAZ auslassen darf, habe ich trotz mehrerer Besuche in der Außenstelle der Botschaft nie gesehen. Die Ausreise eines Frankfurters mit seiner Ehefrau, die einen südamerikanischen Pass hat, haben Deutsche privat über Berlin organisiert – das Konsulat fühlte sich für die Frau nicht zuständig.
Und Joschka Fischer – der kam zwei Wochen nach dem Unglück, streifte sich einen Schutzanzug über und ließ sich mit wichtigem Gesicht und Fingerzeig hier und da in einem mittlerweile leeren Camp filmen. Was für ein absurder Auftritt (siehe Die Welt Fischers Kurzvisite). Viele Menschen berichten mir von ihren Erfahrungen. Und die Erzählungen der Schweden und Engländer sind anders, als die der Deutschen – andere Nationen haben sich besser um ihre Landsleute gekümmert.
Glück gehabt
Berichte über eine „chaotische Organisation“ sind arrogant – das zivile Engagement, das die Thais gezeigt haben, war vorbildhaft. Sicher gab es Profiteure der Katastrophe, die gibt es immer, überall. Die Anteilnahme der Thais war beispielhaft. Aber es gibt dort auch ein anderes Verhältnis zum Tod als in unserer Welt, das muss man berücksichtigen.
Und sicher ist auch, dass wir auf dem Segelboot eine Stunde vor Eintreffen der Welle wussten, dass da was Fürchterliches anrollt. Ein Frühwarnsystem gab es nicht – heute soll es das geben, aber ob es taugt, ist fraglich. Darüber berichtet kaum jemand.
Wäre ich damals, an diesem 26. Dezember 2004 morgens um 9 Uhr an meinen kleinen Beach in Nai Harn ganz im Süden gegangen, wie fast jeden Morgen – hätte ich überlebt? Vielleicht. Soweit ich weiß, kam niemand dort ums Leben. Aber es war auch kaum jemand da. Als das Meer sich zurückzog, hat der thailändische Betreiber der Strandbar sofort alle gewarnt und ist mit ihnen auf eine Anhöhe geflüchtet. Mein Platz war aber weiter weg von der Bar. Ich bin gerne am Strand nochmal eingeschlafen.
Als ich Tage später mal Zeit habe, bin ich an meinen Strand gefahren, der gerade mal ein paar Moped-Minuten von meinem Ressort entfernt ist. Auch hier ist alles zerstört, wo früher ein Sandstrand war, liegt alles voller Gestein und Korallen.
Alle, die diese Welle überlebt haben, hatten Glück. So wie ich. So viele Menschen hatten kein Glück. Die Katastrophe dauerte anders als man das durch die Endlosschleifen in den Medien meinen konnte, nur kurz. Eine Viertelstunde, eine halbe, eine Stunde. Dann zog sich das Wasser wieder zurück und hinterließ Tote und Zerstörung. Über Wochen und Monate spülte das Meer die Dinge irgendwo an Land, die es mit sich gerissen hatte. Viele Menschen blieben verschwunden.
Das Leben geht weiter
Damals habe ich oft „mai pen rai“ gehört – übersetzt meint das eta: Das Leben geht weiter. Dass meine Auszeit so einen Verlauf nehmen würde – darauf hätte ich gerne verzichtet. Danach wusste ich aber, dass ich mit Leib und Seele Journalist bin. Schwere Unfälle, Verletzte, Tote, Mordopfer – all das gehört ab und an zu meinem Beruf, ist manchmal notwendiger Gegenstand meiner Berichterstattung. Macht aber niemals Freude.
Der Tsunami in Thailand war der bislang härteste Einsatz meines Lebens – die Dimension der plötzlichen Katastrophe war gigantisch. Doch steckt hinter jedem Opfer eine Geschichte. Die habe ich, so gut es ging, aufgeschrieben, andere zusammengefasst. Mit der gebotenen Würde und dem notwendigen Einfühlungsvermögen.
Vom Journalismus wünsche ich mir mehr Empathie. 230.000 Tote Menschen sind keine Sensation, sondern beklagenswerte Opfer einer völlig unerwarteten und unausweichlichen Katastrophe geworden.
Journalistische Arbeit kostet Geld.