Mannheim/Rhein-Neckar, 26. Februar 2016. (red/ms) Es ist ein gewaltiger Aufwand für wenig sichtbare Erfolge – gelohnt hat es sich trotzdem: Mit einem Großaufgebot kontrollierte die Polizei gestern Abend drei Gaststätten in der Neckarstadt-West. 150 Beamte sind im Einsatz. Dabei wurden keine Schwerkriminellen aus dem Verkehr gezogen. Das war aber auch nicht das Ziel – denn im Vordergrund wollte die Polizei Informationen über „die Szene“ gewinnen. Der Einsatz ist Teil einer langfristigen Strategie, parallele Strukturen in der Neckarstadt-West zu bekämpfen.
Von Minh Schredle
Mittelstraße, 20:49 Uhr. Zwei Linienbusse der rnv fahren vor. Aufschrift „Sonderfahrt“. Die Busse machen Halt – dann dauert es nur Sekunden. Mehrere Dutzend Polizisten strömen heraus. Haargenau koordiniert. In wenigen Augenblicken dringen sie in drei Gaststätten ein.
Passanten geraten in Aufruhr. Zwei Mal blinzeln – dann sind alle Fluchtwege dicht: Die Kreuzung Mittelstraße-Zehntstraße wird von mehreren Fahrzeugen blockiert. Hier kommt niemand raus. Eine Zufahrt wird von einem unscheinbaren, weißen Laster versperrt. Der gehört natürlich auch zum Aufgebot der Polizei.
Unsere Tarnung ist entscheidend,
erklärt Peter Albrecht. Er ist Leiter des Reviers Neckarstadt-West. Der Einsatz ist bis ins Detail geplant. Insgesamt sind an diesem Abend laut Polizei fast 150 Kräfte im Einsatz – und jeder weiß genau, was er zu tun hat. Es geht rasend schnell. Reibungslos. Und es bleibt ruhig.
„Die Szene ist vernetzt“
Im Fokus der Ermittler stehen an diesem Abend drei „problematische“ Gaststätten. Immer wieder habe es Beschwerden aus der Bevölkerung gegeben, erklärt Herr Albrecht. Angefangen bei der Ruhestörung, bis hin zu schwereren Delikten wie illegaler Prostitution, Drogenhandel und Körperverletzungen.
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In der Vorbereitung auf den Großeinsatz haben mehrere Personenkontrollen vor Ort stattgefunden – je Gaststätte seien 50 bis 90 Prozent der Überprüften bereits polizeilich bekannt gewesen, erklärt Polizeisprecher Markus Winter. Fast alle hätten Kontakte zu „der Szene“.
Parallele Strukturen
Ein heikles Thema – denn es geht um die Schattenseiten des Zuzugs aus Südosteuropa, insbesondere Bulgarien und Rumänien. Um „parallele Strukturen“, wie es Einsatzleiter Albrecht bezeichnet. Er stellt klar:
Die allermeisten von ihnen sind eher Opfer als Täter. Die Schwerstkriminalität beschränkt sich auf ein paar Wenige. Aber die Szene ist vernetzt untereinander.
Deswegen braucht es auch eine gute Tarnung und einen schlagartigen Zugriff: In den Strukturen haben sich Frühwarnsysteme entwickelt. „Wenn ein paar Streifenwagen vorfahren oder etwas eine Razzia andeutet, gibt man sich per WhatsApp bescheid,“ sagt Herr Albrecht: „Das macht die Ermittlungen in diesem Umfeld noch schwieriger.“
Enormes Aufgebot
Beim Einsatz gestern Abend entkommt dagegen niemand. Die Polizei fährt mit einem massiven Großaufgebot vor. Etwa 40 Beamte des Reviers Neckarstadt-West werden tatkräftig unterstützt von Kräften der Kripo Heidelberg, der Verkehrs- und Bereitschaftspolizei und der Hundestaffel. Außerdem sind zwei Beamte der Gaststättenabteilung der Stadt Mannheim und zwei Dolmetscher vor Ort.
Auch technisch wird groß aufgefahren: Ein riesiger Lichtmastkraftwagen leuchtet das Geschehen aus; die gesamte Zehntstraße in Richtung Neuer Messplatz ist voll mit sogenannten Bearbeitungsmodulen. Polizeisprecher Winter nennt diese „mobile Reviere“ – hier werden Identitäten festgestellt. Beamte überprüfen Ausweise auf ihre Echtheit, übers Internet können Fingerabdrücke mit internationalen Datenbanken abgeglichen werden.
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Informationen gewinnen
Wofür aber dieser gewaltige Aufwand?
Unser Ziel ist es heute nicht, eine bestimmte Person aus dem Verkehr zu ziehen,
sagt Peter Albrecht:
Wir wollen mehr Informationen über die Szene. Wie sind die Verhältnisse untereinander?
An diesem Abend werden also insgesamt 45 Personen registriert. Alle Identitäten werden erfasst.
Reibungsloser Ablauf
Zu Problemen kommt es nicht. Der Überraschungseffekt ist auf der Seite der Polizei. Die 150 Beamten sind eine überwältigende Übermacht: Niemand leistet Widerstand. Gewaltsame Zugriffe sind nicht zu sehen.
Die Lage ist statisch,
geben Beamte bereits wenige Minuten nach Beginn des Einsatzes an Herrn Albrecht durch. Das heißt: Drinnen ist alles ruhig.
Trostlose Atmosphäre
In einer der drei Gaststätten sitzt ein gutes Dutzend Besucher. Das Mobiliar wirkt recht willkürlich zusammengewürfelt. Aber es ist sauber. Ein paar Glücksspielautomaten stehen an der Wand, über dem Tresen hängt eine türkische Flagge. Ein paar bunte Ballons sind im Raum verteilt, ein paar glitzernde Lettern bilden den Schriftzug:
Herzlichen Glückwunsch
Die Besucher gucken verdrießlich. Überwiegend sind es Männer zwischen 30 und 50 Jahren. Sie haben die Hände auf den Tischen und bewegen sich kaum. Zollbeamte fragen sie: „Wie finanzieren Sie sich Ihren Lebensunterhalt? Wo wohnen Sie?“ Oft bekommen sie keine Antworten.
Nach Schätzungen der Polizei leben etwa 12.000 Bulgaren und Rumänen in der Neckarstadt-West. Wie viele es wirklich sind, ist nur schwer abzuschätzen. Viele sind nicht gemeldet. Die allermeisten leben in ärmlichen, trostlosen Verhältnissen.
Viele verlassen die Heimat in der Hoffnung auf ein besseres Leben hier. Das wird leider ausgenutzt,
sagt Herr Albrecht. Die Neckarstadt-West sei, ähnlich wie der Jungbusch, eine „Arrival Area“ für Südosteuropäer. Im Hintergrund stünde nur eine Handvoll „Strippenzieher“. Die würden Leute aus prekären Verhältnissen nach Deutschland locken und ihnen falsche Versprechungen vom schnellen Geld machen.
Die Ausbeutung hat System: Die Unwissenheit der Opfer wird ausgenutzt. Zu Wucherpreisen kommen sie in winzigen Zimmern unter. „Oft gibt es nur eine Matratze auf dem Boden, aber die Betroffenen zahlen 500 Euro und mehr im Monat“, sagt Herr Albrecht. Viele verschulden sich auf Dauer – und rutschen in die Kriminalität ab, um irgendwie an Geld zu kommen.
Schrittweise Verbesserung
Wie groß die Probleme in diesen parallelen Strukturen wirklich sind, lässt sich nur schwer abschätzen. „Die allermeisten sind eher Opfer als Täter,“ wiederholt Herr Albrecht mit Nachdruck. „Das meiste spielt sich im Rahmen der niederschwelligen Kriminalität ab. Daneben gibt es aber auch ganz klar massive Probleme“
Ein großes Problem ist die Meldebereitschaft aus dem betroffenen Umfeld: Oft erhält die Polizei keine Hinweise von den Opfern. „Glücklicherweise verbessert sich das langsam ein bisschen,“ sagt Peter Albrecht. „Mit jedem Großeinsatz melden sich mehr Betroffene bei uns“. Langsam würden die Zugewanderten mitbekommen, dass man der Polizei hier vertrauen kann.
Einsatz mit Signalwirkung
Auch der Einsatz von gestern Abend hat eine klare Signalwirkung. Dabei soll nicht nur „die Szene“ verunsichert werden. Es ist gleichzeitig eine Botschaft an die Bewohner der Neckarstadt-West. Die Stadt Mannheim und die Polizei sind aktiv – aber die Ermittlungen finden oft „unter der Oberfläche“ statt.
Nur wenig ist sichtbar und das hat seinen Grund: Schließlich sollen Zugriffe nicht durch Informationen, die nach außen dringen, gefährdet werden. Ein Großeinsatz vor etwa einem Monat wurde etwa 1,5 Jahre vorbereitet. Ob weitere Aktionen dieser Art folgen werden? Herr Albrecht hält sich bedeckt – trotzdem ist die Aussage eindeutig:
Wir haben einige Verdächtige im Blick und der Einsatz wird sicher nicht der letzte in den kommenden Monaten gewesen sein.
Klar muss sein: Parallele Strukturen wie in der Neckarstadt-West lassen sich nicht vom einen auf den anderen Tag beseitigen. Das wird Jahre dauern. Und es muss von Grund auf geschehen. Es nutzt nichts, ein paar Symptome an der Oberfläche anzugehen. Es erfordert intensive Ermittlungen im Untergrund, um den Strippenziehern das Handwerk zu legen.
Wichtige Erkenntnisse
Daher lohne sich auch Einsätze wie gestern Abend, sagt Markus Winter – und das, obwohl nur bei einer der 45 kontrollierten Personen strafrechtlich relevantes Verhalten festgestellt werden konnte:
Wir haben wichtige Erkenntnisse gewonnen.
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