Mannheim, 26. April 2016. (red/ms) Die Dummheit ist allgegenwärtig – aktuell scheint sie aber ganz besonders präsent. Vielleicht täuscht der Eindruck auch und eigentlich ist nichts außergewöhnlich. Doch wie viel Humbug bisweilen als “Nachricht” verkauft werden soll, überschreitet ganz klar die Grenzen des Zumutbaren. Der beleidigte Verstand sollte sich endlich empören – anstatt sich damit abzufinden, dass das “ja schon immer so war”.
Von Minh Schredle
Eine Warnung vorweg: Dieser Text ist in mehrfacher Hinsicht eine Zumutung. Er ist lang und abstrakt und anstrengend – also nur für Rheinneckarblog-Leser/innen geeignet, die in der Lage sind, komplexe Texte zu verstehen.
Fall 1: Ein unliebsames Staatsoberhaupt hat es nicht so mit Presse- und Meinungsfreiheit. Also bezeichnet ihn ein charismatischer Komiker mit gelegentlich politischen Inhalten und Hang zur dreisten Übertreibung als “Ziegenficker” – und ganz Mediendeutschland diskutiert aufgebracht, ob man das eventuell als Beleidigung auslegen könnte; oder ob es dafür nicht zu meta sei.
Fall 2: Eine Gruppe extremistischer Autonomer ruft seit geraumer Zeit regelmäßig dazu auf, politische Feinde unter Druck zu setzen und die Veranstaltungen rechtsstaatlich zugelassener Parteien zu verhindern. Von vielen anerkannten Politikern wird das stillschweigend geduldet. Schließlich kritisiert es doch ein Ministerpräsident und das mit sehr deutlichen Worten. Wie reagieren nun die Medien?
In Fall 2: Ganz überwiegend empört – schließlich hat ein Staatsmann “schmutzige Worte” gebraucht. Er hat sich angemaßt, “beschissen” zu sagen, außerdem “kotze” ihn etwas an. Das ist natürlich ein Skandal, denn so ein fürchterlicher Sprachgebrauch gehört sich nun wirklich nicht. Der Inhalt ist vor diesem Hintergrund selbstverständlich vollkommen gleichgültig – einzig auf die Form des Ausdrucks kommt es an. Und die ist entschieden zurückzuweisen! Ob das Objekt der Schmähung berechtigte Kritik verdient haben könnte, spielt demnach gar keine Rolle.
In Fall 1 ist die Form des Ausdrucks hingegen völlig gleichgültig – denn diesmal kommt es ja ausschließlich auf die Sache an. Im Grunde ein sehr simples Denkmuster: Das Objekt der Schmähung, also die beleidigte Person, hat berechtigte Kritik verdient. Daher ist jede nur erdenkliche Form der Schmähung gerechtfertigt; zumal der Vortrag ebendieser Schmähung sogar mit einer ironischen Moderation angekündigt wurde – und dadurch eben alles ein bisschen zu meta wird, um es noch ernsthaft beleidigend zu finden.
Intellektuell erhabene Sphären
Vielleicht ist genau das der entscheidende Punkt: Sollte jemand ganz plötzlich, überraschend und ohne jede Vorwarnung böse Worte benutzen, ist das selbstverständlich ein Skandal. Erst wenn jemand explizit darauf hinweist, dass seine offensichtlich beleidigenden und ehrverletzenden Äußerungen auch tatsächlich beleidigend und ehrverletzend gemeint sind, ist es in Ordnung, dass er sich offensichtlich beleidigend und ehrverletzend äußert.
Wer hier nicht mehr mitkommt, scheitert an den intellektuellen Hürden. Oder ist das ironisch gemeint? Die gleichen Medien, die die Grenzen der Meinungsfreiheit so inbrünstig gegen die Beleidigung verteidigt haben, echauffieren sich nun ganz empört über eine vermeintlich unangemessene Wortwahl, deren Bestandteile schon längst Teil der gelebten Sprachkultur sind?
Mal im Ernst: Was soll der Blödsinn?
Wenn das Urteil erst feststeht
Es gäbe genügend andere Beispiele, an denen man diese Kritik festmachen könnte – doch diese Fälle drängen sich als Sinnbilder geradezu auf, um dreiste Doppelmoral und unsägliche Ahnungslosigkeit in weiten Teilen der öffentlichen Debatte zu verdeutlichen.
Mit voller Überzeugung werden so viele haarsträubend hanebüchene Positionen vertreten, dass sich verständige Menschen zunehmend beleidigt fühlen müssen. Überall lauern Philosophaster und Hobbyjuristen. Sie spekulieren wie verrückt – und das so lange, bis sie auch noch ernsthaft glauben, zu verstehen, wovon sie reden.
Es gibt zwar noch kein Urteil und es ist auch noch gar nicht Anklage erhoben worden und obwohl eine Gefängnisstrafe auch unter den widrigsten aller Umstände denkbar unwahrscheinlich ist, formen sich die ersten von ihnen zusammen und fordern in vorauseilender Fürsorge: Free Böhmi!
Selbsterklärte Experten
Erschreckend viele Journalisten und Medienkonsumenten meinen regelmäßig, Angelegenheiten augenblicklich mit den beschränkten Informationen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, besser beurteilen zu können, als beispielsweise hohe Gerichte, die einen Sachverhalt über Monate hinweg prüfen und das auf Basis fundierter Kenntnisse auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie und aufbauend auf der intensiven Ermittlungsarbeit dutzender Beteiligter.
Viele Medien befördern dieses Denken auch noch, indem sie selbst andauernd so tun, als hätten sie “die Wahrheit” zu verkaufen. Tatsächlich liefern sie immer nur eine Perspektive – und oft ist das diejenige, die für eine bestimmte Zielgruppe als gefällig gewähnt wird. Dann treffen Selbstgefälligkeit und Solidarität aufeinander; für viele ist das ohnehin schon das Gleiche.
Informationsbulimie
Vielleicht geht es den meisten aber auch gar nicht darum, etwas wirklich zu verstehen. Vielleicht sind die tatsächlichen Inhalte ja doch zweitrangig. Vielleicht wollen die meisten nur ein bisschen Lärm machen, um das gähnende Dröhnen der sie quälenden inneren Langweile zu übertönen.
Wie sonst ist zu erklären, dass der Gegenstand der Debatte nach nur wenigen Wochen intensiven Tumults jede Bedeutung verloren hat, ja so ausgelutscht ist, dass er dringend durch den nächstbesten, hoffentlich noch größeren Aufreger ersetzt werden muss? Um die Sache kann es ja offensichtlich nicht gehen.
Hatte Fukushima jetzt eigentlich Konsequenzen? Ist in der Ukraine wieder Frieden eingekehrt? Und wurde Griechenland zuletzt klammheimlich gerettet? Warum empört sich aktuell niemand über 400 ertrunkene Menschen, während das Foto eines ertrunkenen kleinen Jungen um die Welt ging?
Natürlich gibt es darauf Antworten – aber die bekommt man nicht mehr unter die Nase gehalten, denn für die meisten Medien hat es offenkundig Priorität uns mit weitaus wichtigeren Angelegenheiten zu konfrontieren.
Relevanz und Interesse
Ein Paradebeispiel unter vielen ist die Arbeit von Focus Online: So wurde etwa ein Artikel, der beschreibt, wie man mit etwas Alufolie und einem Küchensieb einen Surfstick bastelt, mit dem man angeblich “nie wieder schlechten Internet-Empfang” habe, innerhalb der vergangenen zehn Monate, gleich mehrere Dutzende Male gepostet.
Man könnte sich vielleicht fragen, inwiefern sich diese Art des “Journalismus” noch von Entertainment unterscheidet. Doch diese Frage stellt sich nicht – denn der Erfolg gibt Focus Online recht. All die mühselige Arbeit macht sich bezahlt. In eigener Sache vermeldet das Medium:
Durch die 24 Facebook-Kanäle von FOCUS Online erhalten täglich mehr als zwei Millionen Fans aktuelle News und nachhaltigen Service direkt in ihren Newsfeed.
Das verleitet zur Überschrift: “FOCUS Online ist Nummer eins in den sozialen Netzwerken”. Offenbar ist es gelungen, genau die Art von Informationen zu identifizieren, der ein Großteil der Konsumenten seine Aufmerksamkeit zu widmen bereit ist.
Menschenleben und Symbole
Wie die taz aktuell berichtet, habe die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen eine Journalistengruppe eingeleitet, die an der Aufdeckung illegaler Waffenexporte in Krisengebiete beteiligt war. Die Journalisten sollen nämlich im Rahmen ihrer Recherche “vertrauliche Dokumente” publiziert haben.
Wo eigentlich der Aufschrei? Ist das kein Skandal? Passt das etwa zum Selbstbild Deutschlands als Hochburg der Pressefreiheit – einem Land, im dem gefühlt jedes Medium die “diktatorischen” Ermittlungen gegen Journalisten in der Türkei anprangert? Wie viel man wohl in den nächsten Tagen dazu lesen wird? Vermutlich wird die Zahl der Berichte überschaubar bleiben, denn hier geht es ja nur um reale Dinge – nicht um eine “Kunstfigur” wie einen Jan Böhmermann, zu dem ganz sicher noch ein gutes Dutzend belangloser Berichte folgen wird.
Was ist Ihnen Journalismus wert?
Es gibt ja durchaus auch hintergründige und sorgfältig durchdachte Beiträge in der Medienwelt – nur werden die eben nicht ansatzweise so sehr nachgefragt, wie “Nachrichten” über tennisspielende Katzenbabys oder Skateboard-fahrende Sex-Aliens.
Vielleicht ist die Zumutung, Lesern anstrengende Texte vorzusetzen, die ihnen ein bisschen Denken abverlangen, ja schlichtweg doch zu groß. Neu ist dieser Gedanke nicht. Tucholsky (Sie wissen schon, der mit “Satire darf alles”) fragte schon 1931:
Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte…Sag mal, verehrtes Publikum:
Bist du wirklich so dumm?Ja dann…
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmässigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Griesbrei-Fresser-?
Ja, dann…
Ja, dann verdienst du es nicht besser
Kaum jemand hat Bedenken, sich auf dem Weihnachtsmarkt eine Bratwurst zu kaufen. Kaum jemanden bringt der Kaffee auf den Weg zur Arbeit in existenzielle Not. Und kaum jemand ist bereit, lächerliche fünf Euro pro Monat in fundierten Journalismus zu investieren – auch wenn damit die Arbeit rechtschaffener Redaktionen ungemein unterstützt werden könnte. (Zum Beispiel unsere.)
Wer will denn überhaupt, dass die Wächter überwacht werden?
Journalisten hätten in einer Demokratie die Chance, die Wächter zu bewachen. Sie könnten so viel Verantwortung übernehmen. Sie könnten im Sinne der Aufklärung anspruchsvolle und relevante Informationen zusammentragen, die dem mündigen Individuum zur eigenständigen Meinungsbildung dienen und ansonsten unzugänglich blieben.
Doch darauf wird weitgehend verzichtet, denn weder Angebot noch Nachfrage lassen gesteigertes Interesse daran erkennen. Hin und wieder zeigen sich Konsumenten zwar enttäuscht von dem Gedanken-Griesbrei, den sie vorgesetzt bekommen – sie ziehen daraus aber nur selten Konsequenzen und bleiben trotzdem treue Kunden von Clickbaiting und Weichkost.
So gibt es eben weiterhin überwiegend fünftklassige Unterhaltung und verstandbefreiten Stumpfsinn. So müssen Medien eben weiterhin Belanglosigkeiten mit ihrer Blasebalg-Berichterstattung aufpumpen, bis Mücken zu Elefanten und gelassene Äußerungen zum Ausraster werden. Aber anscheinend ist ja genau das, wonach verlangt wird. Zumindest wird vor allem Krach durch große Aufmerksamkeit entlohnt.
Aber ist das wirklich, was Sie wollen? Wenn Sie Medien nur noch wegen ihres kurzweiligen Unterhaltungswerts konsumieren und Relevanz für Sie jeglichen Wert verloren hat, ist das selbstverständlich Ihre Entscheidung als freier Bürger. Aber bilden Sie sich dann bitte nicht ein, bei irgendetwas ernsthaft mitreden zu können – halten Sie in diesem Fall am besten die Schnauze. Das gilt auch für viele Journalisten.