Rhein-Neckar/Berlin, 26. Juli 2012. (red/jh) Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundestag keine leichte Aufgabe gegeben. Bis Herbst 2013 muss ein neues Wahlrecht her. Die von CDU und FDP erarbeitete „Reform“ ist erneut verfassungswidrig. Was nun? Brigitte Zypries (SPD), ehemalige Bundesjustizministerin und Bundestagsabgeordnete für den hessischen Wahlkreis 186, hat unserem Netzwerkpartner Weiterstadtnetz.de ein Interview gegeben und gibt sich zuversichtlich, dass das Wahlgesetz „in Ordnung“ gebracht wird.
Interview: Julian Heck
Frau Zypries, warum ist das aktuelle Wahlrecht nicht verfassungskonform?
Brigitte Zypries: Die Überhangmandate sind verfassungswidrig, weil sie den Wählerwillen verzerren. Hat nämlich eine Partei mehr Wahlkreismandate errungen, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zustünden, verbleibt dieser „Überhang“ der Partei. Die Zahl der Sitze einer Fraktion im Bundestag vermehrt sich also um die der Überhangmandate. Diese Überhangmandate sind aber nicht Teil des verhältnismäßigen Gesamterfolges, sondern stellen ein zusätzliches Mandat dar.
Ungerecht?
Zypries: Ungleich. Denn so wird das Stimmgewicht mancher Wählerstimmen verdoppelt – und dies führt zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Bei einem knappen Wahlergebnis kann es sogar dazu kommen, dass Überhangmandate die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag umkehren.
„Ich bin zuversichtlich, dass es gelingt!“
Und was hat es mit dem sogenannten negativen Stimmgewicht auf sich?
Zypries: Aus einer Kombination aus Überhangmandaten und der Verrechnung der Stimmen zwischen den Landeslisten kann der Effekt des negativen Stimmgewichts resultieren. Das heißt, Zweitstimmen können einer Partei schaden, weil sie ein Mandat kosten – oder nicht erhaltene Zweitstimmen können dazu führen, dass eine Partei ein zusätzliches Mandat erhält. Dadurch wird gegen die Wahlrechtsgleichheit und gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstoßen. Für den Wähler ist nicht erkennbar, wie sich seine Stimme auswirkt. Auch das hat Karlsruhe kritisiert.
Die letzte Frist zur Wahlrechtsreform betrug drei Jahre und wurde verfehlt. Nun hat man gerade mal ein Jahr Zeit. Was ist, wenn es wieder nicht klappt?
Zypries: Der Bundestag wird sich jetzt auf ein neues, verfassungskonformes Wahlgesetz verständigen. Sollte dies wider Erwarten nicht rechtzeitig gelingen, so könnte das Bundesverfassungsgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, in der es die Regeln für die Wahl selbst festlegt.
Welche Erwartungen haben Sie als Opposition an das neue Wahlrecht?
Zypries: Wir wollen das negative Stimmgewicht und die Überhangmandate beseitigen. Dazu kann es entweder für Überhangmandate sogenannte Ausgleichsmandate geben, die den Überhang ausgleichen, oder aber man verständigt sich auf andere verfassungskonforme Regelungen. Ich bin zuversichtlich, dass es gelingt!
*** INFO: Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate (Erststimme) gewinnt, als ihr Mandate nach den Zweitstimmen zustehen. ***
Anm. d. Red.: Der Student Julian Heck hat zum Jahresanfang ein Praktikum bei uns absolviert und im Frühjahr nach unserem Vorbild das lokaljournalistische Blog Weiterstadtnetz.de gestartet. Er nutzt dazu wie wir die technische Dienstleistung von istlokal.de. Die Lokalredaktionen im Netzwerk von istlokal.de unterstützen sich gegenseitig beim Austausch von Informationen.