Südwesten, 25. Juli 2016. (red/pro) Sicherheit ist seit über einem Jahr das Top-Thema in Deutschland – wegen steigender Kriminalität und der Angst vor Anschlägen, wie sie aktuell in Bayern verübt worden sind. Große Teile der Bevölkerung fordern eine schnellere Verurteilung und härtere Strafen – mal abgesehen davon, dass diese Forderungen häufig übertrieben sind: In Baden-Württemberg sind die Haftanstalten am Rande der Kapazitätsgrenze. Es kommen zwar neue Haftplätze hinzu – fraglich ist allerdings, ob diese ausreichen werden, wenn der Anstieg von verurteilten Straftätern hoch bleibt.
Von Hardy Prothmann
Aktuell wurde auf unserer Facebook-Seite so massiv gegen Flüchtlinge kommentiert, dass wir zahlreiche Kommentare löschen und Nutzer blockieren mussten. Der Grund: Unser Bericht zu einer sexuellen Belästigung einer Minderjährigen in einem Schwimmbad der Region durch einen afghanischen Asylbewerber.
Die Nutzer fordern schnellere Verfahren und härtere Strafen. Ob die Verfahren bei überlasteten Staatsanwaltschaften und Gerichten absehbar schneller werden, ist zweifelhaft. Noch zweifelhafter, ob die Haftanstalten des Landes einen weiteren Anstieg von zur Haft verurteilten Straftätern bewältigen können.
Im Juni 2016 waren durchschnittlich 6.948 der 7.161 Haftplätze im offenen und geschlossenen Justizvollzug der 17 Justizvollzugsanstalten, der Sozialtherapeutischen Anstalt und des Justizvollzugskrankenhauses des Landes Baden-Württemberg belegt,
teilt uns das Justizministerium auf Anfrage mit.
6,170 Strafgefangene auf 6.087 Haftplätzen im geschlossenen Vollzug
Aufgeschlüsselt verteilten sich hiervon 6.170 Gefangene auf die 6.087 Haftplätze des geschlossenen Vollzugs und 778 Gefangene auf die 1.074 Haftplätze des offenen Vollzugs. Im geschlossenen Vollzug ist die Höchstkapazität also bereits überschritten.
Zur Ermittlung des Haftplatzbedarfs werden regelmäßig die monatliche Entwicklung der Gefangenenzahlen ebenso wie langjährige Trends beobachtet und statistisch aufgearbeitet, heißt es aus dem Justizministerium: Die hieraus gewonnenen Erfahrungswerte fließen Haftplatzentwicklungsprogramm ein. Dies sei seit Jahren etabliert. 2007 gab es in Baden-Württemberg unter dem CDU-Ministerpräsidenten Günther Oettinger noch 8.250 Haftplätze – also über 1.000 mehr.
Sprunghafter Anstieg bei Untersuchungshäftlingen
Doch seit August 2015 ist die Anzahl der Untersuchungsgefangenen im baden-württembergischen Justizvollzug sprunghaft um knapp 30 Prozent angestiegen,
teilt das Justizminsterium uns mit. Diese Entwicklung sei absolut “gegenläufig” zu dem Trend aus den vergangenen Jahren, der bereits durch die demografische Entwicklung beeinflusst sei: Ältere Menschen begehen eine ganze Reihe von Straftaten, beispielsweise aus dem Gewaltbereich eher nicht mehr.
Aus Sicht des Justizministerium, die auch wissenschaftlich geteilt werde, sei eine genaue Prognose des Haftplatzbedarfs nicht möglich. Hinzu kommt – die Verschärfung des Sexualstrafrechts wird möglicherweise für mehr Verurteilungen zu Haftstrafen führen.
“Noch” reichen die Plätze
Das hilft wenig angesichts der Lage:
Die aktuelle Belegungssituation im geschlossenen Vollzug des Landes Baden-Württemberg ist angespannt. Eine in Zukunft eintretende Überlastung kann bei entsprechend starkem Anstieg der Gefangenenzahlen nicht vollständig ausgeschlossen werden.
Entlastung erhofft sich das Justizministerium durch die Fertigstellung von drei derzeit laufenden Baumaßnahmen – in den Justizvollzugsanstalten Mannheim, Heilbronn und Stuttgart.
Bis voraussichtlich Mitte des Jahres 2017 werden zusätzlich rund 250 Haftplätze zur Verfügung stehen. Zudem befinde sich der Neubau der Justizvollzugsanstalt Rottweil in Planung. Trotz der zeitgleichen Schließung weiterer kleiner personalineffizienter Justizvollzugseinrichtungen kämen dann bei Fertigstellung in Summe weitere 240 Haftplätze hinzu:
Derzeit kann noch davon ausgegangen werden, dass die hiesigen vollzuglichen Kapazitäten – wenn auch ggf. mit Maximalbelegung – ausreichen werden.
Schärfere Gesetze würden das Haftsystem sprengen
Könnten Strafgefangene auch in anderen Bundesländern inhaftiert werden? Dazu heißt es “behördlich”:
Die örtliche Zuständigkeit einer Justizvollzugseinrichtung im Bundesgebiet richtet sich nach den bundesrechtlichen Regelungen der Strafvollstreckungsordnung. Danach ist der Ort der Verurteilung kein Anknüpfungspunkt, sondern im Wesentlichen der Wohn- oder Aufenthaltsort bzw. bei Personen, die sich bereits in behördlicher Verwahrung befinden, zum Teil auch der Ort der Verwahrung. Ein regelhafter nummerischer Ausgleich zwischen den Bundesländern findet nicht statt.
Härtere Strafen, ein härteres Durchgreifen, wie sich das viele wünschen, würde das derzeitige System mit Sicherheit sprengen – man könnte verurteilte Straftäter nicht mehr wegsperren. Oder man müsste schnell neue Haftanstalten bauen, was erhebliche Kosten mit sich bringt.
“Große Herausforderungen” durch zunehmende Zahl von Gefangenen aus den Maghreb-Staaten
Große Probleme bereiten den Haftanstalten insbesondere Straftäter aus den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien:
Die zunehmende Zahl Gefangener aus den so genannten Maghreb-Staaten stellt den Justizvollzug auch in Baden-Württemberg aktuell vor große Herausforderungen. So ist schon die Verständigung mit diesen Gefangenen aufgrund sprachlicher Barrieren meist sehr schwierig bzw. ohne die – sehr aufwändige – Hinzuziehung von Dolmetschern nicht möglich. Darüber hinaus weisen Gefangene aus diesen Staaten des Öfteren psychische Auffälligkeiten auf. Schließlich kommt es bei dieser Gefangenengruppe häufig auch deshalb zu Spannungen, weil sie – insbesondere während der Dauer der Untersuchungshaft und der damit oft verbundenen fehlenden Beschäftigungsmöglichkeit – über keine finanziellen Mittel verfügen, um sich über den Gefangeneneinkauf mit Genussmitteln – insbesondere mit Kaffee und Zigaretten – zu versorgen.
Auch ohne schärfere Gesetze kommt der Staat also bereits jetzt an Kapazitätsgrenzen. Wie Justizminister Guido Wolf (CDU) den drohenden Engpass bewältigen will, ist nicht bekannt.
Zur Erinnerung: Die Grünen wehren sich vehement gegen die Einordnung der Maghreb-Staaten als “sichere Drittländer”, um schneller abschieben zu können. Auch Landesvater Winfried Kretschmann (Grüne) zeigt sich bislang unentschlossen, obwohl der Koalitionspartner CDU mit dem Innenminister Thomas Strobl massiv darauf dringt, dass Baden-Württemberg im Bundesrat zustimmt. Eigentlich sollte im Juni die Entscheidung fallen, Herr Kretschmann verhandelte eine Verlängerung heraus – eigentlich sollte im Juli entschieden werden.
Problemfall “UMA”
Gerüchten zufolge werden seit geraumer Zeit insbesondere “UMAs”, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (überwiegend männlich) , von einigen Staatsanwaltschaften eher bevorzugt behandelt, “damit man denen nicht ihr Leben schwerer macht, als es ist.”
Die alte grün-rote Landesregierung hatte noch im Februar als Erfolg vermeldet, dass die Jugendkriminalität sinke und auf einem seit Jahren niedrigen Stand sei.
In Mannheim beschäftige eine solche Gruppe minderjährige Straftäter aus den Maghreb-Staaten die Polizei derart, dass die letzte Wahl der Mittel ein erheblicher Verfolgungsdruck war. Übersetzt: Insbesondere die Neckarstadt und Innenstadt wurde erheblich stärker bestreift und der behördliche Druck nahm zu. Auf dem Kerbholz hatte die Bande alles vom räuberischen Diebstahl, Drogen, Einbruch bis hin zu sexueller Nötigung. Nach unseren Informationen gingen die Halbstarken sogar das weibliche Betreuungspersonal massiv an. Verurteilt wurde nach unserer Kenntnis keiner.
Im Ergebnis löste sich das Problem, als diese Gruppe von heute auf morgen verschwunden war. Wie wir gehört haben, sollen sich die jugendlichen Intensivstraftäter nach Frankreich abgesetzt haben. Nun haben die Behörden hier ein Problem weniger, was die Behörden dort umtreiben wird.
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