Mannheim/Rhein-Neckar, 25. Juni 2013. (red/ms) Das Stück polarisiert. Während die Zeitschrift „Theater heute“ einen der Darsteller – Jens Harzer in der Rolle des Posa – für seine Leistungen zum Spieler des Jahres 2011 kürte, waren einige Besucher offenbar unzufrieden. Die Aufführung des „Don Karlos“ im Rahmen der 17. Internationalen Schillertage des Ensembles des Thalia Theaters „Don Carlos“ hatte am Samstag Premiere.
Von Minh Schredle
Gerade einmal eine halbe Stunde läuft die Vorstellung und schon verlassen die ersten Gäste den Saal. In der Pause nach etwa zwei Stunden Spielzeit sind einige am Murren. Im Vorbeilaufen höre ich einen sagen:
Mir gefällt die Inszenierung überhaupt nicht. Dieser moderne Unfug nimmt dem Stück seinen nötigen Ernst.
Ich kann das nicht nachvollziehen. Es stimmt, wirklich ernst ist die Aufführung nicht. Zumindest nicht so ernst, dass gar kein Platz mehr für Humor bleibt: Immer wieder werden finstere Szenen durch kleinere Witzeleien etwas aufgelockert.
Mir gefällt das und ich fühle mich gut unterhalten – vielleicht bin ich aber auch einfach kein geeigneter Kritiker. Ich habe in meiner Schulzeit Homers Epen, Ovids Metamorphosen, Ciceros Reden und Herodots Historien allesamt im Original gelesen. Während ich also altsprachlich gut allgemeingebildet wurde, wurden manche großen deutschen Autoren vollkommen vernachlässigt: So habe ich zum Beispiel weder von Thomas Mann, noch von Stefan Zweig, noch von Friedrich Schiller auch nur ein einziges Werk im Deutschunterricht gelesen.
Schockierende Lücken
Unser Chefredakteur Hardy Prothmann hat erst vor Kurzem Jochen Hörisch interviewt. Der Medien- und Literaturwissenschaftler nannte es bedauerlich, dass viele der jüngeren Generation, Zitate wie „Geben sie Gedankenfreiheit“ nicht mehr ohne weiteres zuordnen könnten. Ich fühle mich betroffen.
Es gibt also dringenden Bedarf bei mir, einige Lücken zu schließen – die Schillertage bieten die Gelegenheit, bislang Versäumtes nachzuholen. Und warum nicht gleich in die Vollen gehen?
Don Karlos hat einen Ringelpulli an. Irgendwie erinnert das an einen Matrosenanzug. Die fransigen Haare hängen ihm ins Gesicht. Er schaut betröppelt auf den Boden, während er ein Schild in die Luft hebt. „Die schnöden Tage in Aranjuez sind nun zu Ende“.
Nachdem er so ein paar Minuten herumsitzt, ohne weiter etwas zu tun oder zu reden, öffnet sich hinter ihm eine Tür. Domingo, der Beichvater des Königs, will den seit Tagen schweigenden Kronprinzen wieder zum Reden bewegen. Er legt sich mächtig ins Zeug. Läuft um den schmollenden Prinzen herum, kommt ihm ganz nahe und wiederholt in etlichen Sprachen, was er zuvor gesagt hat. Spätestens als er in Pseudochinesisch spricht und dabei wild mit den Armen herumfuchtelt, fangen Viele an zu lachen. Ich finde das auch sehr komisch – andere weniger und gucken mit ausdruckslosen Mienen.
Was hier schon in den ersten Minuten der Aufführung beginnt, zieht sich konsequent durch das ganze Stück. Etwas eigentlich Ernstes wird ein bisschen albern dargestellt. Hauptfigur Karl fragt beispielsweise mehrmals nach, wenn er eine heutzutage etwas altbackene Formulierung aus dem Originaltext nicht sofort versteht. Dann wird es noch einmal wiederholt, oft auch in einer vereinfachten Version.
Schiller selbst hat sein Stück wohl etwas ernster gedacht: Vor der Kulisse Spaniens im sechtzehnten Jahrhundert, schuf er eine Bühne, um das absolutistische Deutschland zu kritisieren und für die Freiheit der Gedanken eintreten zu können.
Zentral ist der Konflikt ziwschen dem regierenden König Philipp, der Spanien zum Höhepunkt seiner Blüte leitet und seinem Sohn Karl, der Freidenker und Idealist ist. Die beiden sind Stellvertreter für zwei grundverschiedene Modelle: Den Absolutismus und die Aufklärung. Verschärft wird ihr Konflikt durch Elizabeth von Valois. Die schöne Königin war eigentlich Karl versprochen, wurde nun jedoch mit dessen Vater verheiratet. Immer noch verliebt und todünglücklich ist Karl der letzten Lebensfreude beraubt – bis er auf seinen alten Jugendfreund Posa trifft.
Dreidimensionale Darsteller
Die beiden vertreten ähnliche Ansichten und Ideale und wollen sich gemeinsam für ihre Ziele einsetzen. Mirco Kreibich (als Karl) und Jens Harzer (als Posa) liefern dabei jeweils grandiose schauspielerische Leistungen. Nicht umsonst wurde Harzer von der Zeitschrift „Theater heute“ zum Schauspieler des Jahres 2011 gewählt.
Die große Stärke der Inszenierung liegt darin, die auftretenden Gestalten dreidimensional zu zeichnen: Keiner der Charaktere wirkt flach, alle sind extrem wandelsam und wechseln mit bemerkenswerter Leichtigkeit zwischen ernst und scherzend, heiter und niedergeschlagen und selbst die letzten Dichotomien lösen sich auf: Die Figuren sind nicht einfach entweder gut oder böse.
Der zunächst kaltherzig wirkende Herrscher Philipp (Hans Kremer) zeigt auch seine menschliche Seite und kann mitfühlen. Obwohl er ansonsten sehr lethargisch wirkt, wird er, wenn er in Zorn gerät, ungeheuer emotional. Ähnlich gut wechselt das gesamte Ensemble scheinbar mühelos zwischen den dargestellten Gefühlen.
Jens Harzer fasziniert und verabscheut
Besonders gut gelingt das Jens Harzer. Mal sympathisiert man mit ihm, mal verabscheut man ihn: Zu Beginn kann man kaum anders als ihn zu mögen. Unbeschwert gelingt es ihm, andere Menschen für sich zu gewinnen. Doch als er am Hof des Königs ein Angebot annimmt, beginnen sich gewaltige Abgründe aufzutun und allmählich korrumpiert ihn die Macht, bis er sogar seinen Freund Karl verrät.
Der Wandel bis dorthin verläuft schrittweise. Die lockeren Sprüche Posas werden zunehmend zynischer, bis sie irgendwann schlichtweg menschenverachtend sind. Allgemein beginnen die amüsanten Szenen zum Ende hin immer seltener aufzutreten. Das Stück wird düsterer. Am Ende lacht keiner mehr.
Vielleicht wären die dramatischen Ereignisse, die sich zum Schluss des Stückes abspielen, noch etwas überwältigender, beklemmender, mitreißender gewesen, wenn man auf jeglichen Humor verzichtet hätte. Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.
Dagegen kann man mit Sicherheit sagen, dass es nicht an der Unfähigkeit des Ensembles lag, ernst zu bleiben, wenn es zu Humor kam. In den finsteren, bedrückenden Szenen wird klar, wie gut sie auch das können. Warum hat man sich also für diesen Weg entschieden?
Erstaunlich, wie gut sich Schiller auf heute übertragen lässt
Schillers Figuren leiden vor allem an ihrer eingeschränkten Gedankenfreiheit, dem Konflikt zwischen jung und alt und Gefühlen, die den Verstand ausschalten können. Die letzten beiden Punkte sind zeitlose Themen, die bis heute als vertraut gelten dürften. Um die Gedankenfreiheit sieht es dagegen heutzutage vermeintlich besser aus.
In einer fast vierstündigen Vorstellung also nur den Absolutismus zu kritisieren, wäre in meinen Augen ziemlich sinnfrei und eine ganz außerordentliche Zeitverschwendung. Da hätte ich mich was geärgert. Was sich dagegen an Themen in unsere Zeit übertragen lässt, findet seinen Platz, wird größtenteils gelungen umgesetzt und oft mit ordentlich Humor versehen.
Und damit erzielen die Hamburger vermutlich eine ganz ähnliche Wirkung wie Schiller seinerzeit selbst. Sie unterhalten und vereinen. Damals gab es kein Internet, kein Fernsehen, kein Kino. Jugendliche rannten reihenweise ins Theater, es war – auch für sie – eine der spannensten Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen.
Statt Fußball gibt’s demnächst Schiller
Als die Aufführung vorbei ist und sich wieder Leute unterhalten, sind die meisten zufriedener als noch zur Pause. Vielleicht hat ihnen der zweite, ernstere Teil besser gefallen. Vielleicht hatte ich einfach Pech und habe nur die Nörgelnden herausgehört.
Ich sehe mich noch einmal um. Mit meinen achtzehn Jahren gehöre ich hier definitiv zu den Jüngsten. Es sind kaum Gäste in meinem oder vergleichbarem Alter hier. Schade eigentlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Vorführung vielen meiner Freunde nicht gefallen hätte. Eine gute Gelegenheit, Differenzen zwischen zwei Generationen zu beseitigen, wäre so ein gemeinsamer Theaterbesuch bestimmt. Das nächste Mal bringe ich die Kumpels mit – ob sie wollen oder nicht.