
Begrüßt wurde Dr. Rita Süssmuth von Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz, der unter anderem Mannheims Städtepartnerschaft zu Haifa hervorhob. Anwesend waren rund 140 Gäste, überwiegend im Alter zwischen 40 und 60 Jahren. Durch den Abend führte Professor Dr. Gert Weisskirchen.
Mannheim/Rhein-Neckar, 25. Februar 2013. (red/zef) Der Nahostkonflikt ist ein heikles Thema. Wie kann man die israelische Politik kritisieren, ohne sich einem Antisemitusvorwurf auszusetzen? Mit einer kenntnisreichen Analyse der scheinbar ausweglosen Situation im Nahen Osten Souverän gelang dies am 21. Februar Professor Dr. Rita Süssmuth (CDU) in der jüdischen Gemeinde Mannheims. Mit ehrlicher Kritik, aber vor allem mit sehr viel Verständnis für alle Beteiligten.
Von Ziad-Emanuel Farag
Der Nahostkonflikt hat scheinbar wenig mit Deutschland zu tun, schließlich spielt sich dieser mehrere Tausend Kilometer entfernt ab. Für Rita Süssmuth ist das ein Fehlschluss:
Der Nahostkonflikt ist eines der kompliziertesten und wichtigsten politischen Themen. Er betrifft uns in Deutschland ganz unmittelbar.
Hierbei verweist sie auf die Verpflichtung Deutschlands, für die Existenz des Staates Israel einzutreten. Was bedeutet es aber, wenn die Sicherung der Existenz Israels zur deutschen Staatsräson gehört?
Über die Staatsraison sind viele gestolpert. Ich streite mit meinem Herrgott, wie wir so viel Freiheit bekommen konnten, dass wir so viel Schlimmes angerichtet haben. Angesichts der Millionen Opfer haben wir eine andauernde Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel. Diese Verpflichtung bedeutet jedoch kein Einverständnis mit allem. 2008 erklärte die Kanzlerin auf der ersten Deutsch-Israelischen Regierungskonsultation, dass wir mit der Siedlungspolitik nicht einverstanden sind. Unsere Staatsräson besagt genauso, dass für zwei Staaten eine Existenz geschaffen werden muss.
„Die Gefährdung für Israel ist größer als je zuvor“
Doch wie soll das gelingen? Vor allem, da die Gefährdung für Israel größer ist als je zuvor? Selten stand es um Israel so schlecht wie heute. Es ist nach dem gescheiterten arabischen Frühling umringt von arabischen Staaten, in denen eine zunehmende Radikalisierung droht. Süssmuth schätzt diese Lage realistisch ein:
Wir dürfen uns jetzt nicht raushalten, so wie 2006 im Libanonkrieg. Es ist gut, dass sich nach dem arabischen Frühling in Marokko ein König gegen den Fanatismus stellt. Die Entwicklung in Tunesien hingegen ist ein Rückfall, es war früher das demokratischste Land in der Region. Die Hamas ist noch radikaler als früher, die Entfremdung hat sich vergrößert. Es gibt in den arabischen Staaten die Überlegung, Nuklearwaffen aus Nordkorea zu kaufen, wenn man sich keine vom Iran kaufen kann.
Die aktuelle Situation bietet also genügend Anlass, an einer Lösung zu zweifeln. Fundamentalistische Positionen stehen sich gegenüber – auch im Zuschauerraum. So äußert in der Diskussion ein Zuschauer, dass die Juden gemäß der Bibel das auserwählte Volk seien und es deshalb nur einen Staat geben könne. Solchem Positionen begegnet Frau Süssmuth mit ihrer eindeutigen Haltung:
Wir sind alle das Volk Gottes! Das Leid des Volkes Israels bedeutet nicht, dass für andere kein Platz ist.
„Dann wünsche ich dem Arzt viele Patienten“
In diesem „Glaubensbekenntnis“ steckt der Schlüssel zu Rita Süssmuths politischen Überzeugungen. Es geht nicht um einzelne Menschen, Völker oder Religionen. Die gesamte Menschheit ist wichtig. Daher ist für sie die äußerst schwierige Lage kein Argument, alle Hoffnung fahren zu lassen. Der Schlüssel liegt für sie darin:
Solange wir miteinander reden können, gibt es immer neue Möglichkeiten. Als ich in Israel studiert habe, wollten Abgeordnete aus der Knesset nicht mehr mit Deutschen sprechen. Als ich nochmal nachfragte, hieß es dann Jetzt habe ich keine Zeit, aber kommen sie doch heute Abend zu mir nach Hause. Helmut Schmidt hat gesagt, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Wenn das so ist, wünsche ich dem Arzt viele Patienten.
Genauso wichtig wie die Kritik sei laut Süssmuth die Konfliktvermeidung und sich in das Gegenüber hineinzuversetzen. Wenn die Palästinenser keinen eigenen Staat mehr bekommen, werde es noch mehr Hass geben. Entscheidend ist für Rita Süssmuth, dass man seinem Gegenüber die Würde lässt:
Wie vermeide ich, dass sich jemand herabgesetzt fühlt?
Als positives Beispiel führt sie Jordanien an, da die Lage dort stabil geblieben sei und König Abdullah II. für den Friedensvertrag mit Israel einsteht. Süssmuth lobt ihn explizit:
Der König von Jordanien hat während des arabischen Frühlings großen Mut bewiesen und den öffentlichen Frieden durch Zugeständnisse an die Aufständischen wieder hergestellt. Eigenverantwortung ist wichtig, aber das darf nie heißen, die Menschen dort allein zu lassen. Die Forderung nach zwei Staaten kann man historisch nicht mehr zurücknehmen. Es war doch unter Rabin und Peres 1994 schon fast soweit gekommen.
„Beim Friedensvertrag zu Israel weicht Ägyptens Präsident aus“
Im Rahmen des Osloer Friedensprozess wurde 1994 Jahr den Palästinensern erstmals seit 1967 im Gaza-Jericho-Abkommen ein selbstverwaltetes Land zugesprochen. Dafür erhielten Rabin, Peres und Yassir Arafat 1994 den Friedensnobelpreis. Der Friedenprozess ging jedoch jäh zu Ende: 1995 wurde Rabin von radikalen Juden ermordet. Peres wurde zum Ministerpräsidentin bis zur Wahl 1996. Diese verlor er jedoch knapp gegen Benjamin Netanjahu. Aufgeben war für Peres laut Süssmuth keine Option:
Er war sichtlich angegriffen von der Wahlniederlage, er konnte nicht verstehen, wieso er der die Wahl verloren hat. Doch nachdem er die Enttäuschung verarbeitet hatte, richtete er sich auf und sagte: Wir machen weiter! Peres und Rabin zeigen, dass ein Neuanfang immer möglich ist: 1957 waren Peres und Rabin als hohe Militärfunktionäre noch bei dem damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, um Waffen zu bekommen. Die 90er unter Rabin, Peres und Arafat waren eine glückliche Zeit, keine Zeit des Scheiterns. Die Annahme, unter Arafat gäbe es keinen Frieden, stimmte nicht.
Gemischtes Fazit vom arabischen Frühling
Die arabische Welt ist seit dem arabischen Frühling im Umbruch. Frau Süßmuth zieht ein gemischtes Fazit:
Der arabische Frühling hat mich zunächst gefreut, weil nach Freiheit gestrebt wurde. Mit Blick auf Ägyptens Präsident Mursi aus der Moslembruderschaft muss ich jedoch sagen, dass ich immer skeptischer werde. Zunächst sagte er, Ägypten werde den Friedensvertrag mit Israel einhalten. Mittlerweile weicht er jedoch bei solchen Fragen aus. Die Geschichte verläuft eben nicht geradlinig, es gibt immer wieder Rückschritte.
Der ehemalige Präsident Husni Mubarak war ein Diktator, aber er stellte ein Gegengewicht zu radikal islamischen Kräften dar. Er bejahte stets den seit 1982 bestehenden Friedenvertrag zwischen Israel und Ägypten. Gleichzeitig beutete er jedoch seine Bevölkerung aus, bis die Zustände unerträglich wurden. Somit hat Mubarak den Antisemitismus in Ägypten mit geschürt. Israel war in der Wahrnehmung der gemeinen, oft armen Bevölkerung der Verbündete. Der Verbündete desjenigen, der für die schlimmen sozialen Verhältnisse im Land verantwortlich ist. Umso mehr, als dass Israel Mubarak noch während der Revolution unterstützte. Hat Israel damit eine historische Chance verpasst?
Im Knesset gab es darüber eine breite Debatte, in allen Parteien von Mitte Rechts bis Links. Weil Mubarak und seine Vorgänger jedoch Stabilität garantierten, hat sich die israelische Regierung so verhalten. Wie wir jetzt gesehen haben, gehört diese Stabilität der Vergangenheit an.
Hoffnung schöpft Frau Süssmuth daraus, dass Tzipi Livni als neue Justizministerin unter Netanjahu die Verhandlungen führen soll:
Sie hat eine ganz andere Haltung als Liebermann und hat sich im Wahlkampf gegen die Rechtsextremen klar zur Zwei-Staatenlösung bekannt.

Großes Interesse – aber vor allem bei älteren. Rund 140 Gäste waren zum Vortrag in die jüdische Gemeinde gekommen.
„Mannheim ist ein Vorzeigeort“ – „Alle halten den Islam für militant. Den Koran gelesen haben sie nicht.“
Süssmuth fordert hierbei die Zuhörer auf politisch aktiv zu sein. Ein Zusammenleben mit verschiedenen Religionen und Kulturen sei noch nicht möglich, es müsse erst geschaffen werden. Hier schließt sie die Bürger und Bürgerinnen mit ein und verweist auf Mannheim:
Mannheim ist ein Vorzeigeort dafür, wie hier verschiedenen kulturelle und Gruppierungen begegnen. Oft wird ja Köln als Vorzeigebeispiel für Integration angeführt. Im Gegensatz zu Köln gab es in Mannheim keine Probleme beim Bau der Moschee. Diese befindet sich in unmittelbarer Nähe der Synagoge, das ist eine Leistung. Außerdem gibt es hier die Telefonseelsorge von Caritas, der Diakonie, Juden und Muslimen. Es gibt hier ein gemeinsames Ziel: Den Menschen zu helfen. Auch die Städtepartnerschaft zu Haifa halte ich für sehr wichtig. In der Globalisierung sind lokale, regionale Bündnisse sehr wichtig. Sie setzen ein nachhaltiges Zeichen aus der Mitte der Gesellschaft, sie zeigen Israel, dass die Bürgerinnen und Bürger hintern ihnen stehen.
Dabei verknüpft sie die Fragen nach Multikulturalität und Gleichberechtigung von Frauen:
Was tun wir für die muslimischen Frauen? Viele Frauen aus Marokko und Tunesien fühlen sich von uns allein gelassen. Muslimische Frauen treten oft viel entschiedener für ihre Recht ein als Frauen innerhalb der EU. Gerade sie zeigen, dass wir fanatischen Muslimen die Schranken setzen müssen. Bei Salafisten müssen wir energisch vorgehen.
Die Grundlage, um bei den Fragen Nahostkonflikt, Antisemistismus und Integration zu lösen ist laut Süssmuth die Frage, wie sich Menschen begegnen. Einfache Erklärungsmuster und Schwarz-Weiß-Malerei lehnt sie ab:
Finanzielle und soziale Perspektivlosigkeit kann und darf hierbei nicht die einzige Erklärung sein. Viel wichtiger ist die geistige Auseinandersetzung. Wie findet bei uns die kulturelle und religöse Begegnung statt? Alle glauben zu wissen, dass der Islam eine militante Religion ist. Den Koran gelesen haben sie nicht. Ich sage diesen Menschen immer, dass Jesus im Koran eine ganz wichtige Rolle spielt. Die Situation der Juden war früher im islamischen Teil Europas besser als im christlichen.
„Israel konnte sich immer auf die Türkei verlassen“
In der aktuellen Geschichte hebt sie im Nahostkonflikt besonders die Rolle der Türkei hervor:
Die Türkei hat nie vergessen, welche herausragende Rolle verfolgte Juden in Wissenschaft, Technik, Städtebau und Kultur geleistet haben. Heute weiß zum Beispiel kaum noch jemand, dass die Türkei der letzte Staat war, der verfolgte Juden aufnahm. Es ist zudem den meisten unkekannt, dass der Stern in der Flagge der Türkei Maria gewidmet ist.
Vor Kurzem entbrannte in Deutschland eine Antisemitismusdebatte um Jakob Augstein. Diese Debatte zeigt vor allem Dingen eines: Deutliche Kritik vergiftet schnell das Gesprächsklima, sodass die Frage nach dem Frieden keine Rolle mehr spielt. Ganz schnell geht es nur noch um die Frage ob die Äußerung israelkritisch, antiisraelisch oder gar antisemitisch ist. Hierzu sagt Süssmuth:
Es geht nicht um die Spitzfindigkeit, ob eine Aussage antiisraelisch oder antinsemtisch ist. Man darf kritisieren. Aber man darf nicht den Eindruck bei den Ländern entstehen lassen: Ihr verlasst uns.
Frau Süssmuth hat eine klare Auffassung zur Debatte um Augstein:
Ich würde mir ehrlich wünschen, diese Debatte würde eingestellt.
„Kein Konsens innerhalb der EU“ – „Deutschland soll mutig sein“
Innerhalb der EU sieht sie keinen Konsens, was die Israel-Politik betrifft:
Israel fürchtet sich mittlerweile, wenn wieder Kritik aus Frankreich kommt. Nur im Kriegsfall gäbe es hier einen gemeinsamen Konsens. Es gibt leider keine politischen Persönlichkeiten, die hier etwas bewirken können. Zu bedenken ist: Israel will keine politische Einflussnahme von Außen, hat aber wirtschaftliche Interessen. Somit wäre eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit hier aktuell der einzige Weg. Gerade weil Israel innenpolitisch zerrissen ist. Es gibt viel Armut, die Wohnungspreise sind für viele zu hoch. Die jungen arbeitenden Menschen fragen sich, ob sie für diejenigen zahlen sollen, die nicht arbeiten.
Eine Zuschauerin will wissen:
Hat Deutschland, wenn der Rest Europas sich gerade von Israel entfernt, nicht eine historische zweite Chance? Sollten wir da nicht Mut zeigen?
Die Frage zielte darauf ab, dass Deutschland sich einseitig zugunsten der israelischen Seite positionieren soll. Genau dies hele jedoch nicht den Menschen in Israel, wie Süssmuth ausführt:
Deutschland sollte unabhängig von der EU Mut zeigen, aber die Notwendigkeit einsehen, dass wir alle Seiten in der Region zusammenführen müssen.
Zur Person: Seit 1971 ist Rita Süssmuth Professorin für Erziehungswissenschaften, erst in Bochum, danach in Dortmund. 1981 trat Rita Süssmuth der CDU bei. Von 1985 bis 1988 war sie Bundesministerin für Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Bundestags. Seit 1998 ist sie Ehrendoktorin der Ben-Gurion Universität. Aktuell ist sie unter anderem Vorsitzende des Beirates der Deutschen Initiative für den Nahen Osten.