Mannheim, 25. Juni 2013. (red/ld) Wer kennt sie nicht – die Arschkriecher, die Schleimbeutel, die Intrigenschmieder, die Karrieristen, die Abstauber, die Einseifer, die Fälscher, die Betrüger? Ein absolutes Prachtexemplar ist Monsieur Selicour. Was für ein Widerling. Und ganz großartig gespielt von Ahmad Mesgarha. Er ist der Antiheld des Abends. Er ist der Parasit. Das Stück eröffnet die 17. Internationalen Schillertage in Mannheim.
Von Lydia Dartsch
Boah, ich wünsche diesem Ekel echt die Krätze an den Hals,
denke ich, während ich diese unglaublichen Machenschaften dieses Selicour verfolge. Er tänzelt sich federleicht durch die viergliedrigen Drehtüren, die andere nur sehr schwer bewegen können. Er beschmeichelt, wen er für nützlich hält. Er beseitigt jeden, der ihm im Weg steht. Er windet sich aalglatt aus allem, was ihm schaden könnte. Ein Prahlhans, wenn er alleine ist. Triumphant. Vor dem Minister Narbonne kriecht er wie ein Hund. Unterwürfig.
Ahmad Mesgarha glänzt in dieser auf den ersten Blick nicht dankbaren Rolle des Selicour. Sein Gegenpart ist La Roche, alias Torsten Ranft. Ein kluger, strebsamer, fleißiger Beamter und Schulkamerad von Selicour. Auch La Roche wird Opfer des Parasiten und seiner Intrigen. Zunächst war es eine wahre Freude, La Roche bei seinen Wutausbrüchen über dieses miese Stück von Selicour zu erleben. Bis zum Moment der größten Sorge. Torsten Ranft füllt die Rolle des zornig-empörten Opfers so eindrucksvoll aus, dass man ab der zweiten Hälfte eigentlich minütlich mit einem tatsächlichen Herzinfarkt rechnete.
Jede Menge Opfer
Das Ensemble des Staatsschauspiel Dresden hat eine umwerfende Truppe am Start, die Inszenierung von Stefan Bachmann überzeugt, das Bühnenbild ist minimalistisch – das Schauspiel bekommt seinen Raum. Das Publikum eine grandiose Unterhaltung mit dieser bitteren Komödie.
Es gibt jede Menge Opfer. Selicour gibt die Werke von Monsieur Firmin (Lars Jung) und dessen Sohn Karl (Matthias Luckey) als die seinen aus. Karl will Charlottes Herz, die Tochter des Ministers, mit Poesie erobern – das gelingt ihm fast. Tatsächlich erobert Selicour mit einem gestohlenen Gedicht die Gunst der jungen Frau.
Madame seufzt vor Verzückung
Selicour bezirzt nicht nur Charlotte, sondern auch Madame Belmont – die Mutter des Ministers (Hannelore Koch). Was für eine Szene: Charlotte singt das gestohlene Gedicht und Selicour bedient ein Spielwerk, das er zuvor aus der Handtasche von Madame Belmont hervorgeholt hat und auch wieder hineinlegt. Madame hält die Tasche, außen schwarz und innen rosa, auf ihrem Schoß und seufzt vor Verzückung während Selicour seine Hand hineinsteckt.
Das Publikum ist begeistert – Szenenapplaus um Szenenapplaus.
Gegen Selicour kommt man nicht an. Dieses Beamtenekel, in seinem giftgelben Anzug mit Glasbausteinbrille, grauem Haaransatz und Pomadefrisur erinnert an? – das soll sich jeder selbst ausmalen. Vermutlich kennt jeder jemanden, der diese Rolle zumindest in Ansätzen ausfüllt. Ob im nahen Umfeld oder der großen Politik.
Der entscheidende Fehler
Selicour erobert sich als Parasit immer mehr Raum seiner Wirtstiere. Als er kurz davor steht, Charlotte (Ines Marie Westernströer) zur Frau zu bekommen und Botschafter zu werden, begeht er einen entscheidenden Fehler: Er überzieht. Sein Verdacht, der Minister hätte ein Techtelmechtel mit einer jungen Dame, empört diesen zutiefst und öffnet Monsieur von Narbonne die Augen – unterstützt durch Hinweise von La Roche.
Dem Parasiten geht es jetzt an die Wäsche. Alle Figuren drängen auf ihn ein, entreißen dessen Kleider, vulgo fremde Federn, bis dieser Parasitenwurm nackt ist und er sich nur noch die Scham bedecken kann.
Dann passiert das absolut Unglaubliche: Selicour, diese Häufchen intrigantes Elend erntet am Ende doch den lautesten Applaus und stehende Ovationen. Wieder hat er es geschafft und sich in die Herzen der Menschen eingeschleimt. Er tut dem Publikum leid und gewinnt auch 200 Jahre, nachdem Picard sich die Figur ausgedacht und Schiller sie „entlehnt“ hat, damit dessen Gunst. Die Weimarer Uraufführung soll schon damals ein Publikumskracher gewesen sein.
Ans echte Leben angelehnt
Ein herrliches Stück also, ein wunderbarer Auftakt für die Schillertage. Ganz aktuell ans Theater des echten Lebens angelehnt – an die Plagiatoren, die Aufschneider, die kassierenden Manager, die Ego-Gesellschaft. Und ein Stück im Stück im Stück – schließlich hat Schiller selbst plagiiert und Louis Benoît Picard „überarbeitet“. Freilich ohne die Quelle zu nennen – „aus dem französischen“ war der einzige Hinweis.
Diesmal hat das Verdienst den Sieg behalten. Nicht immer ist das so,
sagt Minister von Narbonne im Abgang – glatt von Friedrich Schiller aus dem Original abgeschrieben. Schiller war nicht nur ein großer Moraliker – in diesem Fall war er ein ziemlich frecher Dieb. Aber einer mit Esprit.